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Lukas Bärfuss schreibt:
Prämisse des Journalismus: Er soll keine Geschichten erzählen. Er soll Tatsachen berichten.
Doch an einer anderen Stelle schreibt er auch:
Um zu verstehen, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, brauchen wir eine Geschichte, die darlegt, was die Ursache und was die Wirkung ist.
Tatsachenberichte sind also per definitionem ebenfalls Geschichten. Also auch Journalismus erzählt Geschichten. Die Frage ist nur: Welche?
Es gibt für den Journalismus nämlich zweierlei Arten von Geschichten. Eine legitime und eine illegitime Form. Der zweite Teil seines Textes fokussiert jedoch einzig auf die illegitime Form.
Legitimes Storytelling im Journalismus erzählt eine Geschichte, die von Tatsachen berichtet, die in einem überprüf- und nachvollziehbaren Zusammenhang stehen, also Ursache-Wirkungs-Relationen beschreiben.
Denn selbst bekannte Tatsachen, können wieder spannend werden, wenn bisher unbekannte Kausal-Zusammenhänge erstellt werden. Sie also an Komplexität und Differenzierung gewinnt.
Doch diese werden bald zu abstrakt. Das abstrakte Denken wird delegiert und ausgelagert an Wissenschafter*innen. Die wiederum, wenn sie sich an ein breiteres Publikum wenden, abwertend begrüsst werden mit „Frau/Herr Professor*in" (wie oft gehört in der „Arena“), der Vorwurf gemacht wird "aus dem Elfenbeinturm" zu schreiben (und da gefälligst bleiben sollen) oder nur noch - wie durch die thrakische Magd - ausgelacht werden. Denn „Sinn" beruht auf einer Selektion und ist somit stets eine Komplexitätsreduktion. Etwas Überkomplexes erscheint dann als „Unsinn".
Deshalb ist es - selbst im Wissenschaftsjournalismus, der nicht für journals schreibt - legitim ein anderes storytelling tool zu benutzen: Die Personalisierung. Diese kann dann in etwa dem Script von the hero’s journey folgen. Die Heldenreise, wie sie von Joseph Campbell in The Hero with a Thousand Faces (1949) analysiert worden ist.
Mittels diesem kann man im Kleinen gleichsam holographisch versuchen das Grosse aufzuzeigen. Wie etwa schön (eine ästhetische Kategorie) gemacht in der Klima-Serie in der Republik.
Diese Ästhetisierung der Wissenschaft (oder der Politik) erscheint mir solange legitim, wie sie Tatsachen und Kausalzusammenhänge beschreibt.
Es gibt also durchaus eine legitime Form des Storytelling für den Journalismus. Der im besten Fall ohne Kostendruck produziert wird. Durch ein Blatt, dass keine fremde Finanzinteressen verfolgen muss. Und von einer Leser*innenschaft gelesen und getragen wird, die sich der Aufmerksamkeitsökonomie entziehen und auch mal längere und komplexere Geschichten zu Gemüte ziehen kann.
In einem Text, in dem er uns über die Gefahr von auf unüberprüfbaren Tatsachen basierenden Geschichten aufklären will, erzählt Lukas Bärfuss mehrere, auf unübeprüfbaren (oder zumindest von ihm nicht nachgewiesenen) Tatsachen basierende Geschichten. So zum Beispiel, wenn er schreibt: "die Fähigkeit, Geschichten erzählen zu können, hat die Entwicklung des Menschen mehr bestimmt als das Feuer oder die Erfindung des Rades.", oder, wenn er über die Gründe für das (ebenfalls ohne weiteres angenommene) verlorene Vertrauen in den Journalismus theorisiert: "Der Kostendruck hat die unheilvolle Entwicklung zu immer mehr Storytelling angeheizt." Es gibt noch mehr solche Beispiele. Sie illustrieren vor allem einen Punkt, den Bärfuss auch in seinem Text anschneidet und meiner Meinung nach entscheidend für die Debatte um den Fall Relotius ist: Es geht nicht darum, dass Geschichten im Journalismus fehl am Platz wären. Es geht vielmehr darum, dass Journalisten beim Erzählen von Geschichten sowohl die "Tatsachen" als auch die Verbindungen zwischen ihnen äusserst sorgfältig (und unter Berücksichtigung der eigenen Vorurteile) überprüfen müssen, bevor sie sie aufs Papier bringen.
Lieber L. L. A.,
ja, Sorgfalt, Demut, Transparenz, Fairness und Ehrlichkeit — sie formen das Wertekorsett der Reporterinnen und Redaktorinnen bei der Republik. Und dass wir Fehler korrigieren und die Korrekturen ausweisen.
Das Tolle an der Republik ist, dass einige Leserinnen und Leser längere Geschichten zum Beitrag über Geschichtenerzählen schreiben als der Beitrag über Geschichtenerzählen.
Ganz starker Text, den ich mit angehaltenem Atem gelesen hab, gerade weil er ohne jedes «Storytelling» und derlei Marotten auskommt. Schon aufschlussreich, dass ausgerechnet ein Dramatiker erklären muss, Journalismus habe eine andere Aufgabe, als langweilige oder mangelnde Fakten dramatisch aufzubürsten. Und wie Lukas Bärfuss das argumentiert, ist enorm spannend zu lesen; kein Wort zu viel, keines zu wenig, auf den Punkt. Vermutlich hätte dieser Text mich zu überzeugen vermögen, wär meine Sicht der Dinge nicht eh schon die selbe gewesen.
Lieber Kollege,
Vielen Dank für Ihren Beitrag zu einer überfälligen Diskussion, die letztlich an die alte Debatte anknüpft, wie Journalismus und Literatur sich zueinander verhalten. Mir hilft der Ausdruck Tatsachen am besten weiter, an die sich Journalisten - im Unterschied zu Schriftstellern - halten müssen. Ihre Kritik am Begriff Geschichten teile ich nicht. Solange die Tatsachen stimmen, dürfen wir sie meiner Ansicht nach auch verführerisch aufschreiben. Denn darum geht es doch, nicht wahr? Gefährlich schmal wird der Grat, wenn Journalisten ihr Talent, zum Lesen zu verführen benutzen, um Interpretationen zu insinuieren und Wirklichkeit zu manipulieren - egal ob wir Artikel schreiben oder Geschichten erzählen.
Nochmals danke und auf weitere fruchtbare Diskussionen!
B. M.
(SPIEGEL -Redakteurin)
Herr Bärfuss scheint nicht verstanden zu haben, was Geschichten sind. Und vielleicht auch nicht, was Logik ist: "Wir wissen, in welcher Weise der Stein mit den Scherben in Verbindung steht, obwohl wir ihn nicht haben durch die Fensterscheibe fliegen sehen. So weit, so logisch." - Eben nicht: Wir erzählen uns eine Geschichte, die Stein und Scherben in ein kausales Verhältnis rückt - ein logisches Verhältnis zwischen Stein und Scherben gibt es nicht und wird auch nicht inferiert.
Im Gegensatz dazu ist "Ich schreibe. Draussen schneit es." offensichtlich keine Geschichte, sondern eine Auflistung von Tatsachen. Der Sinn und Existenzgrund von Geschichten ist, dass sie die uns bekannten Tatsachen (Stein, Scherben) in ein uns nachvollziehbares Ganzes eingliedern. Solche Geschichten erzählen Religionen, Politiker und Essayisten (wie Herr Bärfuss). Wenn man (wie ich) den Positivismus für gescheitert hält, wird man allerdings festhalten, dass die Grenze zwischen "Fakten" und "Interpretation" ein Phantom ist, das sich beim Danach-Greifen verflüchtigt (Wittgenstein selber hat seinen Tractatus später mehr oder weniger abgelehnt). Im Zusammenhang mit Tatsachen vom "Erfinden" von Geschichten zu sprechen, weist auf ein Missverständnis hin. Herr Bärfuss scheint den Widerspruch selber zu erahnen: "Die Antwort eines Medienschaffenden lautet: Gewiss, solange sich die Geschichten an die Tatsachen halten. Aber wie wir gesehen haben, beginnt eine Geschichte nicht mit den Tatsachen, sondern mit ihren Verknüpfungen, und diese sind zu guten Teilen eine Erfindun, [...]". Wenn Geschichten ja eben Tatsachen verknüpfen (was sie tun), dann ist es Unsinn, davon zu sprechen, ob sie "sich an die Tatsachen halten".
In diesem ganzen kategoriellen Durcheinander bleibt leider unklar, welche Art von Journalismus sich Herr Bärfuss konkret wünschen würde. Sicher ist nur, dass die Republik selbst ein Aushängeschild von "Storytelling" ist – was an und für sich nichts schlechtes sein muss.
Lieber G. M., ja, sehr gut geschriebene Geschichten sind uns wichtig. Am wichtigsten ist aber, dass der Inhalt korrekt ist — die Fakten, die Beobachtungen, die Zusammenhänge. Dafür braucht es Recherche. Und davon wird es dieses Jahr (noch) mehr bei uns geben.
Mich irritiert bereits der Teaser bzw. die „Prämisse“ (nach Egri), mit der (die Republik?) uns diese Geschichte von Bärfuss (mittels „Storytelling“-Methoden) schmackhaft gemacht wird: „Die Welt besteht aus Tatsachen, nicht aus Geschichten.“ Ist es nicht genau umgekehrt? Ist nicht jede „Tatsache“, sobald sie „erzählt“ wird, eine Geschichte? Oder genauer: Konstruiert nicht jeder Mensch aus einem Bericht oder Ereignis (einer „Tatsache“) eine (eigene) Geschichte? Und ist es in der Folge nicht vielmehr so, dass eine „Tatsache“ dann entsteht, wenn eine Geschichte von sehr vielen Menschen „geteilt“ wird, diese also zum Schluss kommen: „So muss es gewesen sein!“. Selbst wenn es „Fake News“ sind (wie Bärfuss selber konstatiert, „unterscheidet die menschliche Vorstellungskraft nicht nach Wahrheit oder Lüge“). Sodass ich zu einem ganz anderen Fazit komme als Bärfuss: Nicht das „Storytelling“ ist das Problem, im Gegenteil, es geht darum, „bessere“ Geschichten zu erzählen.
Passend dazu der kurze Ausschnitt eines Interviews mit dem (Meta)Physiker Heinz von Förster ("Die Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners"): https://youtu.be/2KnPBg-tanE
Jeder Mensch schichtet sich die Tatsachen individuell, vor seinem Hintergrund, aus seinen Motiven heraus. Darum entsteht aus Tatsachen Ge-Schichte.
Die (sokratische) Ironie ist auch, dass so wie Platon die Dichter aus dem Idealstaat verbannte, Bärfuss die Journalisten aus dem Dichterstaat verbannen will.
Platons Vorwurf an die Dichter war ja, dass sie als Laien nur nachahmend Abbilder von Abbilder kreierten. Dadurch auf den unvernünftigen Seelenbereich einwirkten und das Publikum so zu fragwürdigen Affekten verleiten würden. Stattdessen sollten nur Fachleute die dahinterstehenden Ideen und Prinzipien auf den Begriff bringen und erklären. Und damit einzig auf die reine Vernunft einwirken.
Bärfuss' Vorwurf an die Journalisten ist im Grunde derselbe. Nur geht er in die umgekehrte Richtung. Und dass es hier um Tatsachen geht, statt um Ideen.
Das Ästhetische (das Schöne) soll also entweder aus dem Politischen (dem Guten und Wahren) exkludiert werden. Oder exklusiv dem Ästhetischen zugehörig sein.
Ein Journalismus, der mit Haltung (das Gute) tatsachengetreu (das Wahre) lesbare (das Schöne) Geschichten kreieren will, fällt daher notwendigerweise zwischen Stuhl und Bank.
Sie ist nämlich weder autoritative Moralagentur, wie ehemals die Kirche. Noch technokratische Wissenschaft. Aber auch nicht reine Kunst.
Als Medium ist sie Weder-noch und Sowohl-als-auch. Doch nimmt sie gerade dadurch in ihrer Funktion der Komplexitätsreduktion des Gesellschaftssystems eine vermittelnde Instanz ein. Und kann so einer Gesellschaft von Laien (wir verfügen nie überall die gleiche Expertise) bis zu einem gewissen Grad Sinn und Orientierung bieten.
Eine Geologin kann einen Teil der Erdgeschichte für Laien spannend und faktisch richtig erzählen. Ein Chemiker kann sich an korrekten Formeln ergözen und das Publikum verlieren. Eine gute Erzählung macht den Unterschied. Storytelling gleicht einem Farbspray. Du kannst damit Tatsachen verdecken. Oder Du malst die Zeichen an die Wand, sodass die Wahrheit für alle sichtbar wird.
Paradebeispiel für einen "populistischen Experten": Harald Lesch!
Ein merkwürdiger Schluss. Als ob die Chefredaktion gesagt hätte: Lukas, der Text ist gut, aber zu lang. Was jetzt? Die Geschichten vergessen? Gegengeschichten erzählen?
Sicherlich: Kurze Geschichten erzählen. Die kürzesten: Haikus.
Draussen herrscht Kälte
Drinnen rauchen die Kerzen
Nebelgeschichten
Eine Welt in der nur über "Tatsachen" beichtet wird ist schlicht nicht mõglich und wird journalistischer Berichterstattung auch nicht gerecht. Auch wenn ich noch so gut recherchiere, stehen "Tatsachen" immer in einem Geschichten-Kontext, den ich nie vollständig ausklammern kann. Dies beginnt schon mit meinem Entschluss, über etwas zu schreiben, dann mit der Auswahl der "Tatsachen" über die ich schreibe und über die ich nichts schreibe und es gibt viele andere Aspekte, die hier eine Rolle spielen. Es sind also nicht, wie Lukas Bärfuss sagt, die Geschichten, die zu Tatsachen werden, sondern es ist vielmehr so, dass jede sogenannte "Tatsache" mit der Berichterstattung bereits zu einer Geschichte wird.
Die Frage liegt wahrscheinlich vielmehr darin, herauszufinden, wo die Wahrheit einer Geschichte liegt: in deren Plausibilität? In deren Nachprüfbarkeit? In etwas anderem? Letztlich wird es darauf nie eine eindeutige Antwort geben, nur Abstufungen. Was bleibt, ist das stetige kritische Hinterfragen, überall und jederzeit - darauf hin müssen Leserinnen und Leser von Geschichten sensibilisiert werden.
Ich mõchte Geschichten nicht missen, sie sind ein Schlüssel zu dem, was unser Mensch-Sein ausmacht, sie führen uns zu den Gefühlen, die jenseits der "Tatsachen" stehen und uns neue Perspektiven und Innovationen bringen. "Tatsachen" brauchen wir ebenso, aber ich möchte darauf hinweisen, dass reine Berichterstattung über "Tatsachen" uns auch sehr schnell in falscher Sicherheit wiegen lassen kann: nicht alles, was wissenschaftlich unter bestimmten Bedingungen überprüfbar und nachvollziehbar ist, erfüllt diesen Anspruch auch unter anderen Bedingungen, in einem für uns vielleicht unbekannten, aber deswegen nicht weniger realen Kontext.
Zum Thema "Geschichten" empfehle ich den Artikel von Jerome Bruner ["the narrative construction of reality"] (http://www.semiootika.ee/sygiskool/…bruner.pdf).
Eine packende Geschichte, die Sie da schreiben oder ist es eine Tatsache.
So oder so, ich denke mal darüber nach, danke.
Es gibt hier ziemlich viele Beiträge, die von der Republik eine "Fokussierung auf Tatsachen" fordern. Allerdings kommt mir dies im besten Fall kurzsichtig vor.
Eine (von mir jetzt als Beispiel erfundene/Achtung: Fake News! ;-) ) Reportage über unhaltbare Arbeitsumstände in der Jojo-Fabrikation in Weitfortistan die nur Fakten berichten würde, würde sich folgendermassen lesen: "Fabrik XY stellte zwischen 1.1.1111 und 1.1.1112 123'456 Jojos her. Der Durchschnittspreis auf dem Europäischen Markt 5.12 Franken. Die Anzahl der Angestellten der Fabrik beträgt 100, eine Gruppe aus 10 Angestellten bestätigte ein Monatseinkommen von 50.45 Franken..."
Faktisch sind die Aussagen korrekt, dennoch zeichnen Sie ein falsches Bild dessen, was der Journalist erlebt und gesehen hat. Menschen sind emotionale Wesen, unsere ganze Spezies funktioniert nur auf diese Art und Weise, ohne wäre ein soziales Gefüge schlicht nicht möglich. Wir benötigen den Rahmen der Geschichte, Emotion und Wahrnehmung des Individuums, um das Berichtete tatsächlich erfassen zu können.
Ich stelle deshalb die Behauptung in den Raum: Ein guter Journalist muss sowohl ein guter Geschichtenerzähler und somit Lügner sein, aber gleichzeitig auch zwanghaft ehrlich.
Der Konflikt ist vorprogrammiert. Viele Medien sind aus Bequemlichkeit und Spargründen daher mittlerweile zu einem "Sie sagt/er sagt" Journalismus übergegangen, der aber nicht wirklich nützlich ist sondern den schwarzen Peter nur weitergibt: Der "Journalist" muss nicht mal mehr seine eigenen Lügen erfinden, er kopiert einfach die der Politiker/Manager/was auch immer. Weder generiert das Glaubwürdigkeit noch entspricht es der Aufgabe, die die Medien in einer Demokratie wahrnehmen müssen. Die Idee, dass Medien unparteiisch sein müssen ist daher eigentlich absurd, im Gegenteil, sie müssen ihre Meinungen vertreten und diese laut und öffentlich zur Schau tragen, solange sie der Wirklichkeit, wie sie ehrlich von den dort beschäftigten wahrgenommen wird, treu bleibt.
Ein linker Journalist in der WOZ der von der provozierten Eskalation durch die Polizei an der Demo erzählt ist genauso legitim wie der Rechte in der "Schweizerzeit" der vom Überfall einer Gruppe gebrochen deutsch sprechender jugendlicher am Bahnhof berichtet, solange beide das durch sie erlebte Geschehen nur ehrlich wiedergeben (auch wenn ich persönlich nur allzu gerne bereit bin, mir ausufernde und lautstarke Streitereien mit einem der beiden zu liefern).
Das Dilemma in der Informationsgesellschaft in der wir heute leben ist dabei, dass es kaum mehr möglich ist den Lügner vom Ehrlichen zu unterscheiden. Wenn die Auswahl nur aus einem Dutzend Zeitungen besteht ist es einfach: Wenn eine lügt wird sie von den anderen zur Rechenschaft gezogen und das schlägt auf die Leserzahlen. Wenn ich aber 5000 Zeitungen habe, von denen alle die gleiche Lüge erzählen, ist es ziemlich einfach diese Lüge zu glauben, auch wenn denen 20'000 gegenüberstehen die ihr widersprechen.
Eine einfache Lösung sehe ich nicht. Eine Zulassung wie für Ärzte, inkl. Schreibverbot bei Verstössen gegen das "Ehrlichkeitsgebot"? Riecht nach Zensur. Eine unabhängige (internationale?) Stelle für Faktenprüfung? Erscheint mir kaum finazierbar (Bullshit lässt sich sehr viel schneller fabrizieren als wegräumen) und ausserdem zahnlos, die Behauptung "die werden von 'bitte hier Hassfigur' gesteuert!" ist vorprogrammiert.
Storytelling ist die technische Oberfläche für einen grundlegenden Wechsel im journalistischen Betriebssystem. Dieser Wechsel kann für Deutschland sehr genau datiert werden: 1. Januar 1984, der Tag, an dem das Privatfernsehen zu senden begann. Dieses wurde politisch lanciert, um das so genannte konservative Lager publizistisch abzusichern und zu promoten. Der Kampf um Einschaltquoten und Marktanteile begann. Als Journalisten getarnte Influencer begannen, uns mit ihren Geschichten zu sedieren.
Vor 18 Jahren erschütterte bereits ein ähnlicher Fall wie Relotius die Presse, der Protagonist hieß Tom Kummer. 2000 folg er mit seinen Star-Interviews im SZ-Magazin auf. 2005 schrieb er schon wieder für renommierte Presseorgane und fälschte munter weiter. 2012 rechtfertigte er seine „publizistische Grundidee“ als Ausdruck unserer postmodernen Welt. Fälschen mit System, ausführlich nachzulesen auf Wikipedia.
Der dtv-Verlag brachte 1997 ein Taschenbuch mit den „Star-Interviews von Tom Kummer“ heraus. Es könnte ein Lehrbeispiel für Journalisten sein, leider wurde es im Skandaljahr eingestampft. Bei Amazon werden aktuell zwei Exemplare für EUR 98,00 angeboten, Originalpreis DM 14,90.
Ulf Poschardt, Kummers Protegé beim SZ-Magazin und kein Jahr nach dem Skandal im Januar 2001 schon wieder als Berater der Chefredaktion der Welt am Sonntag angestellt, schreibt in dem Buch in einem hymnischen Vorwort über Kummer: „Der so vorgehende Journalist versteckt sich nicht hinter seiner fragenden Rolle, sondern bringt sich in das Gespräch komplett [sic!] selbst mit ein.“
Das beschreibt sehr gut den Paradigmenwechsel in den 1980er-Jahren: Aus der vormaligen Trennung zwischen Information und Entertainment wurde Infotainment. Reportagen durften nicht länger vor Fakten stauben, sie mussten Emotionen atmeten.
Warum trocken objektiv wenn´s persönlich erst so richtig schick wird und man damit sogar ins Showbiz aufsteigen kann mit Talk- und LateNight-Shows? Dafür überschritten Journalisten die Grenze vom Beobachter zum Akteur. Tom Kummer erfand dafür den Begriff „Borderline-Journalismus“. Auf den Punkt.
Ich würde die Republik lieber lesen und vor allem lieber weiterempfehlen, wenn sie auf das Storytelling komplett verzichten würde. Ein Anfang wie der im Artikel zitierte ( «Nicole Reist gewann das Race Across America – und sah um sich herum nur Leere.») führt bei mir im besten Fall dazu, dass ich runterscrolle bis dort, wo ich Fakten zu finden hoffe. Oder ich klicke den Artikel gleich ganz wieder weg. (Wenn ich Geschichten will, lese ich einen Roman.)
Wie Bärfuss hervorhebt, wird diese Art des Schreibens momentan in den Journi-Schulen besonders intensiv gelehrt, und das merkt man den Texten auch an. Die gleichen sich nämlich auf ziemlich langweilende Art und Weise.
Ein Verzicht auf das Storytelling hätte für uns Republik-LeserInnen zudem die begrüssenswerte Folge, dass die Artikel kürzer würden:-). Ganz von selbst, und ohne an der Substanz oder dem Tiefgang etwas zu ändern. Es würde einfach das dramatisierende Brimborium fehlen.
Das ist mir etwas zu einfach. Lassen wir uns vom Anglizismus nicht blenden. Storytelling heisst das Geschichtenerzählen. Geschichten werden in unserem Gehirn gespeichert. Eine Auflistung von Tatsachen ohne Geschichte kann von den meisten Menschen nicht aufgenommen werden, wie die Tatsache des weitgehend erfolglosen Französischunterrichts in der Schule eindrücklich beweist. Die Allermeisten können kein Französisch, weil ihnen die Worte fehlen, die ihnen in hunderten von Stunden erfolglos, weil ohne interessante Geschichte, eingetrichtert wurden. Eine schlichte Auflistung von Tatsachen liest sich zwar schnell und leicht, ist aber nach wenigen Sekunden wieder vergessen. Listen auswendig zu lernen ist mit etwas vom mühsamsten was unser Leben zu bieten hat.
Bei den Artikeln, hier und Anderswo, merkt man halt die Tatsache, dass neue Tatsachen sehr aufwendig zu beschaffen sind, das Geschäftsmodell aber vorgibt jeden Tag neue Inhalte zu veröffentlichen. Es gibt aber Tage (zum Glück) wo nichts Neues passiert. Dann fehlt der Republik ein Fundus an gut recherchierten, gut geschriebenen Hintergrundberichten über Zusammenhänge jenseits der täglichen Neuigkeiten. Hinderlich ist auch die Tatsache, dass heute kein Artikel mehr zweimal erscheinen kann, weil das Netz bekanntlich nichts vergisst.
So gibt es gute und weniger gute Tage, Berichte welche mich interessieren und solche die ich nicht lesen will.
Wesentlich ist aber, dass die Artikel trotzdem als Geschichte geschrieben sind, so dass ich sie mir auch merken kann. Spannend sind auch immer Geschichten über andere Geschichten, das Aufdecken von vorsätzlich falsch verknüpften Tatsachen und deren Berichtigung. Das ist die Hauptaufgabe eines unabhängigen Magazins. Die Flut von einseitig beeinflussten Geschichten welche durch Werbung und werbefinanzierten Journalismus täglich auf uns einprasselt hat längst jedes überschaubare Mass überschritten
Natürlich meinte ich mit "Verzicht auf Storytelling" nicht, zusammenhangslose Fakten in einen Artikel zu kleistern. Ich meinte damit, dass man auch schreiben kann, ohne dass in jeder fünften Zeile ein Cliffhanger zusammenkonstruiert wird oder dass jeder zweite Satz mit einem dramatisch-mysteriösen Bild endet (wie das Zitat vom Race across America). Die Geschichte von Nicole Reist hatte z.B. genug inneren Zusammenhang, um auch ohne diese künstliche Spannungserzeugung interessant zu sein. Ja, man hätte Frau Reist möglicherweise sogar besser kennen- und verstehengelernt, wenn die Journalistin ihr "Storytelling" nicht so sehr in den Vordergrund gestellt hätte?
Dieser Artikel spricht mir aus dem Herzen, da ich glaube, dass viele Journalisten ihre Verantwortung nicht wahrnehmen wollen und diese auf die sozialen Medien schieben, wo jedermann nach herzenslust vom Leder ziehen kann. Doch den sozialen Medien ist eine Entwicklung im Journalismus um Jahrzehnte vorausgegangen, die wesentlich dazu beigetragen hat, dass die politische Diskussion völlig aus dem Ruder läuft und in der westlichen, marktorientierten Welt am entgleisen ist: die Boulvardisierung. Ihre Stilmittel wie Personalisierung, Zuspitzung und aufsehen erregende Titel sind das Fundament einer Entwicklung, an deren Ende Trump oder die Brexit Diskussion stehen, wo es keinen Kompromiss, keine Einsicht und keine Versöhnung mehr gibt. Und der Journalismus befeuert diese Entwicklung weiter. Es ist mir klar, dass dem einzelnen Journalisten nicht die ganze Verantwortung zugeschrieben werden kann, denn er wurde so ausgebildet und muss unter ökonomischen Zwängen dieses Verständnis anwenden. Es braucht eine vertiefte Diskussion unter Journalisten und Journalismus Ausbildern, um dies zu ändern. Ist der Journalismus dazu fähig, oder hängt er wie ein Junkie an der Nadel? Wir werden sehen.
PS: Insbesondere die Republik mit ihren vielen (zu langen) Geschichten ist diesbezüglich gefordert.
Lieber Herr G., ja, das sind wir — im journalistischen Alltag und in der Ausbildung unserer vier Trainees bei der Republik. Am Montag bin ich zu einer Veranstaltung von Public Eye eingeladen. Wir diskutieren über die Rolle von NGO in der Recherche und den Unterschied zwischen Aktivismus und Journalismus. Kommen Sie doch dazu. Herzlich grüsst Sie, sgr.
War selten mit Bärfuss so einig. (Obschon ich grosse technologische Schritte wie die Nutzung des Feuers und die Erfindung des Rades als gleich wichtig für die Menschheit erachte, wie die Fähigkeit zum Erzählen von Geschichten. Für die Entwicklung zum komplexen Gehirn des Homo Sapiens und dessen kulturelle Evolution brauchte es Beides in Interaktion.)
Spannender Text (allerdings mit falschem Fazit). Gerade weil uns Geschichten berühren, aufrütteln und auch weiterbringen, sind sie das richtige Mittel. Storytelling einzusetzen ist legitim und in einer Zeit des riesigen Grundrauschens unvermeidlich.
Vielleicht hilft es, dem Leser transparenter zu vermitteln, dass letztlich fast alles erst am Schreibtisch entsteht. Wer journalistische Texte als pure Wahrheit sehen will, macht einen Fehler. Lese dazu auch zum gleichen Thema heute Matthias Zehnder: https://www.matthiaszehnder.ch/wp-c…r_1903.pdf
Da stimme ich Ihnen zu, Herr Inderbitzin, die pure Wahrheit wird keine Reporterin je liefern.
Für alle die sich eingehender für die Thematik interessieren: Nassim Taleb, Der schwarze Schwan. Fundierter und kein Moralapostel.
Lukas Bärfuss zielt auf eine tiefe Ebene. Was die Geschichten dort bewirken, hat einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins. Die Entdeckungen von Feuer und Rad wären ohne Geschichten nicht denkbar. Die Geschichten beflügeln Phantasie, Vorstellungskraft und Kreativität. Sowohl in aufbauender als auch destruktiver Richtung.
Ich denke, weil das hier im Kontext eines Magazins diskutiert wird, fokussieren Viele zu sehr auf Bärfuss' Verdikt zum storytelling g I'm Journalistentum. Es gibt eine viel generellere Ebene in seinem Essay: der Bezug von Geschichte und Tatsache. Und da ist er interessant und scharf!
Es gilt in einer Welt voller Bilder und Informationen ein Gefühl über die Entstehung von Realität zu entwickeln - oder zumindest Wissen darüber anzueignen. Bereits bei Baudrillard wurden Simulation und Realität differenziert und ein Zugang zu den Gefahren der Simulation aufgezeigt. Kurz: alles was "gemachte Realität" ist, hinterfragt unsere grundsätzliche Konstitution von Sinn. An dem Punkt sind wir (leider) schon lange. Wenig hat heute die Heftigkeit des Echten und vieles will entsprechend in immer grösseren Mengen verschlungen werden. Bärfuss erläutert wunderbar wie viel Fantasie in unserer vermeintlich objektiven Wahrnehmung steckt und wie einfach wir darüber mit allem, Realität, Simulation, Dissumulation getriggert werden können. Wir sollten mMn. einen Umgang damit üben, nicht bloss um uns vor bewusster Manipulation zu schützen, sondern letzten Endes auch um unseren generellen Umgang mit Konsum von Information zu verbessern.
Interessanter Artikel. Nur vermischt er Geschichten oder Narrative mit manipulativem Stroy Telling. Originellerweise ist ja dieser Essai selber ein manipulatives (?) Narrativ, das die Geschichte des manipulativen Story Tellings erzählt und von dessen Gefahren warnt. Wie man aber Tatsachen (ausserhalb von empirischen, naturwissenschaftliochen Studien (deren Introductions und Conclusions im Übrigen auch Narrativcharakter haben), vermitteln kann, ohne sich einer Labovschen narrativen Struktur zu bedienen, muss mir erst jemand erklären. Das kann weder der Staatsanwalt, der dem Gericht einen Fall vorträgt noch der Lehrer, der den Kindern einen Stoff vermittelt, und schon gar nicht der Journalist, weil sonst nämlich niemand seinen Text lesen würde und/oder verstehen könnte. Ja, Narrative haben eine gewisse chronologische und damit auch kausale Struktur und ja, sie verwenden wie alle Texte Kohäsionselemente, wie Konjunktionen, und Kohärenzelemente, wie Diskursmarker, und ja, Textstrukturierung, Textkohäsion und Textkohärenz implizieren immer eine (manipulative ?) Interpretation der "Tatsachen" (was für ein naiver Begriff für einen Schriftsteller). Man kann also nicht einfach das Ende der Narration im Journalismus (warum nicht gleich das Ende der Konjunktionen in der Syntax und der Diskursmarker im Text?) fordern, sondern müsste analysieren, wann Narration in manipulatives Story-Telling mündet (tut es wohl immer ein bisschen), bzw. wann es in allzu manipouatives Story Telliung mündet. Das aber ist nichts anderes als ein Restatement des ewigen journalistischen Kampfs auf Trennung von Fakten und Meinungen, und dafür hätte man nicht das arme Narrativ, das eine für die Kommunikation der Menschen unverzichtbare Textstruktur ist, so schlecht machen müssen.
Wichtig ist, dass diese Überlegungen über die Macht von Geschichten unser Bewusstsein schärfen!
Verhindern können wir die Vorgänge und Wirkungsweisen solcher Geschichten allerdings nicht. Denn wozu erzählen wir Geschichten? Im eigenen Interesse nach Drama, nach "Ich bin besser, als alle Andern, weil eben Ich!" und nach Manipulation.
Das Bewusstsein darüber, dass wir -dem Malen ähnlich- ständig von der Wirklichkeit inspirierte, verbale Skizzen und Bilder malen, wenn wir sprechen, kann uns aber dabei helfen, einen Abstand zu diesen Werken zu gewinnen!
Diese Erzählungen sind NICHT gleichbedeutend mit der Wirklichkeit und ihren Tatsachen!
ABER sie offenbaren den LeserInnen und ZuhörerInnen sehr viel darüber, wie GeschichtenerzählerInnen als Persönlichkeiten so sind, wie sie "ticken".
WAS fällt MIR an der unfassbaren Fülle der sinnlichen Eindrücke des Lebens speziell auf?
Was picke ich aus dem Lebens-Material heraus, wie eine Muschel an einem Sandstrand?
WAS mache ICH aus all diesem aktuell vorhandenen und als Erinnerungen im Gehirn angesammelten "Rohmaterial"?
Was für Gedanken und Erzählungen forme ich daraus, welche Musik spiele ich dazu und mit welchen Instrumenten?
Der genau nachbildende Naturalismus galt in der Malerei einmal als Non Plus Ultra!
Gleichzeitig beauftragte eine reiche Kundschaft professionelle Maler damit, "das Schöne und Erhabene" zu malen, so dass die Gemälde auch zum repräsentativen Prunk der aristokratischen Kundschaft passte.
Später entwickelten sich dann -auch weil die Fotographie das Naturalistische übernahm und besser konnte- neue Arten und Schulen der Malerei:
In den stürmisch belebten Bildern von Van Gogh ist die reale Landschaft als Vorlage noch deutlich sichtbar, wird aber bereits durch das Innenleben des Malers stark verzerrt und verfremdet, so dass eine Mischung aus Aussenwelt und Innenwelt erscheint, die zu Lebzeiten Van Gogh's noch schockierte und abstiess, die aber später "einschlug, wie eine Bombe" und die Kunst-LiebhaberInnen begeisterte.
Irgendwie ähnlich geht es auch mit dem Journalismus auf dem Gebiet des verbalen Ausdrucks:
Heute sollen sich die JournalistInnen nicht mehr pseudo-objektiv wie die ersten Ethnologen mit Tropenhelm, oder als "Graue Mäuse mit Kamera und Mikrophon" hinter den von ihnen gesammelten Daten und Fakten verstecken!
Sie sollen zu ihrem Charakter, zu ihren aus ihrem Leben gewonnenen Ansichten und Präferenzen stehen und diese in ihre Berichte mit einbringen!
DIE Wahrheit gibt es ja nicht.
Es gibt nur unterschiedlich Sichtweisen und Erfahrung-Horizonte.
ABER es gibt Ehrlichkeit, Offenheit und Direktheit!
Wenn ich weiss, "aus welcher Warte" einE JournalistIn berichtet und analysiert, kann ich seinen/ihren "Seitenriss" räumlich korrekt ein- und zuordnen und durch "Seitenrisse" aus anderen Perspektiven ergänzen, so dass ein mehrdimensionale Skulptur entsteht.
So hat eine Henkeltasse von einer Seite gesehen einen Henkel und von der gegenüberliegenden Seite aus gesehen keinen Henkel.
Wichtig ist mir, dass JournalistInnen auf eine Weise berichten, die mir gefühlsmässig Offenheit, Ehrlichkeit und Direktheit zeigen, so dass ich allmählich ein Vertrauen in ihre Schilderungen aufbauen kann.
Wenn "Fake-News-Trolle" mir aber vormachen wollen, dass sie einen Henkel sehen, wo kein Henkel ist , oder umgekehrt sie einen Henkel sehen, wo gar kein Henkel ist, dann verraten die sich meistens an anderen Stellen, mit plumpen Propaganda-Aussagen, oder mit einem abstossend-zynischen Tonfall...
Es war einmal - so lautete bisher der Hashtag für eine Erzählung. Aber die gute alte Glaubwürdigkeit der Geschichten ist in der superschnellen Gegenwart einem sozusagen permanenten Zweifel gewichen. Wie kann ein 140-Zeichen-Tweet mehr als eine kaum begründete Behauptung sein? Wie gut kann darauf ein Gegen-Tweet antworten? Die Kommunikation wird auf Schlagworte reduziert und die Fakten werden beinahe zweitrangig. Die neue Kommunikationswaffe des Storytelling muss schleunigst entschärft werden durch eine Lügenabwehr. Ein solcher Lügendetektor kann entwickelt werden a) durch bessere Bildung und b) durch demokratisch kontrollierte Medien. Es lebe die Republik der Tatsachen und Meinungen!
Sehr geehrter Herr Bärfuss
Sie haben eine Geschichte erzählt und zwei Tatsachen verknüpft.
"Wenn Sie also das nächste Mal wissen wollen, warum Sie nicht von einer Netflix-Serie lassen können, sollten Sie etwas über Neurophysiologie lesen."
Dieser Satz verknüpft das Interesse an einer Netflix-Serie mit neurophysiologischen Erkenntnissen.
Damit haben Sie mich an der Gurgel gepackt. Ich glaube nämlich nicht, dass die Neurophysiologie das Interesse an Geschichten erklären kann, und schon gar nicht, dass sie damit sehr erfolgreich sein soll. Aber die blosse Erwähnung der Neurowissenschaft gehört heutzutage zu einer interessanten Geschichte. Die tatsächliche Bedeutung der Aussage ist unwichtig.
Wenn ich unrecht haben sollte, lasse ich mich gerne von Ihnen belehren. Sie haben ja sicher etwas über Neurophysiologie gelesen.
Seit ich Yuval Harari gelesen habe, interessiert mich das Thema sehr. Der Beitrag „Hört auf mit euren Geschichten!“ ist interessant aber das Ende, bzw. Lösung des Problems etwas gar kurz. Da Geschichten in unserer DNA so stark verankert sind, wird der letzte Satz des Berichts ganz bestimmt nicht helfen. Den Bezug zur sogenannten "Fake News" finde ich gut, hier wäre eine gute Geschichte zu erzählen. Die Leute, die diesen Fake News Glauben schenken, sind ja nicht blöd. Aber die Geschichten verfangen offensichtlich.
(Dies ist kein Kommentar zur journalistischen Problematik, aber zu den mehr philosophischen oder weltanschaulichen Erläuterungen im Text von Bärfuss.)
„...Fähigkeit, Geschichten erzählen zu können, hat die Entwicklung des Menschen mehr bestimmt als das Feuer oder die Erfindung des Rades.“ Was ich bei dieser Aussage falsch finde ist der Komparativ, das „mehr“. Wir wissen nichts über die „Geschichten“ zur Zeit dieser Entdeckungen/Erfindungen, sie hinterlassen keine archäologische Spuren. Geschichten sind zudem grundsätzlich offener und wenig greifbar, ganz im Gegensatz zu den technologischen Fakten. Wir können sie also auch nicht gut miteinander vergleichen. Zum zweiten, „Geschichten“ und technologische Erfindungen sind womöglich so sehr miteinander verknüpft, legiert, dass eine Gegenüberstellung keinen Sinn macht. Oder ist bei Messing Kupfer wichtiger als Zink? Wenn man trotzdem nicht lassen kann vom Vergleich, halte ich technologische Erfindung für wichtiger als „Geschichten“ für den positiven wie negativen Fortschritt der Menschheit, frei nach Brecht, das Fressen (=Feuer/Wärme/Licht) kommt vor der Moral (=Geschichten/Philosophie).
In den letzten 20 Jahren haben wir eine ziemlich bewegte Menschheitsgeschichte selbst miterlebt, und jeder kann nun selbst analysieren ohne Archäologie und historische Spekulation, inwiefern technologische Erfindungen oder geisteswissenschaftliche Geschichten den Weltenlauf bestimmen bis herunter zum individuellen Verhalten... die Antwort scheint mir ziemlich klar.
Wo ich mit Bärfuss einverstanden bin: das Prinzip der Verknüpfung (von was auch immer) ist wesentlich, ja scheint in der Natur schon ein “Bestreben” zu sein, um den Fortschritt überhaupt zu ermöglichen. Bärlocher hat die Neurophysiologie erwähnt, das also was zwischen unseren Ohren passiert und uns größtenteils ausmacht. Gedächtnis und konzertierte Aktion, letztlich Verhalten, wurde erst ermöglicht, weil zwischen zufällig feuernden Nervenzellen auf heuristischer Basis elektrophysiologische Verknüpfungen entstanden (“Neurons that fire together wire together”, DO Hebb, 1949; leider wegen der heute modischen Bildverfahren mit ihren farbigen Bildli grober Hirnaktivität etwas vergessen gegangen...).
Bärfuss konstatiert vollkommen 'richtig', dass es heute kaum noch 'breaking news' gibt, die als einfach beschriebene Tatsachen reichen würden, um die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit zu erregen ('der Mond bricht morgen auseinander' o.ä.). Viele 'Tatsachen' sind vielen Journis jeweils gleichzeitig bekannt und sie erzählen diese bloss auf verschiedene Weise (Storytelling = daily business, stupid!). Das ist seit einigen Jahren so, also ein alter Hut. Relotius reichte das nicht, er erfand Tatsachen/Gespräche dazu, um seinen Stories eine besondere 'Würze' zu verleihen. Das Stichwort: give me more Authentizität! Er hätte sich wohl anders entscheiden können, wurde zu seinem Handeln mindestens nicht direkt gezwungen? So wie auch Tom Kummer. – Soweit so nicht gut. – Die Kernaussage von Bärfuss' Text bleibt bis zum Schluss diffus und auch etwas weinerlich. Was will er den JournalistInnen, an die er sich wendet, genau sagen? Lasst uns 'Dichter' in Ruhe unsere Sache, schöne Sprache machen? Bleib' bei objektivem Sprech, Mann (Frau)!
Ist der gegenwärtige Journalismus also illegitim geworden? Soll er laut Bärfuss mitsamt der Kunst, wie bereits Platon verlangt hat, aus der Polis verbannt werden? Und die Bürger*innen der Polis nur noch durch Philosophie und Wissenschaft informiert werden (welch verführerischer Gedanke für einen Philosophen)?
So dass systemtheoretisch gewendet der ästhetische Code keine Leitdifferenz im politischen und wissenschaftlichen System ist und somit ausgelagert, sprich ins Kunstsystem ausdifferenziert wird?
Doch gleichzeitig gilt Platon auch als Erfinder des Begriffs der "Edlen Lüge", einem Mythos, der die Hierarchie der Bürger*innen legitimieren soll. So wie er für Normalsterbliche den Mythos des „Demiurgen" benötigt, einer kreationistischen Schöpfungsgeschichte, da die Zusammenhänge für die „weniger“ Intelligenten zu komplex wären.
Ästhetische Bildung würde auch bedeuten, solche "Kunstgriffe" (a.k.a. Ideologien und Propaganda) durchschauen zu lernen.
Vielen Dank Herr Bärfuss für Ihre intensive Arbeit an einem heissen Thema. Mich langweilt dieses dauernde Storytelling, auch in der Republik, so, dass ich schon nicht mehr lesen mag.
Wo Geschichten sind, hat der Mensch zugebissen mit seinem termitenhaften Bedürfnis nach Anverwandlung von allem und jedem. Und überall häuft sich der Abfall, Atomschrott, Plastikschrott, Pestizidschrott, Geschichtenschrott! Nach der Erfindung der Warenwelt, in der kein Stein mehr so liegen bleiben darf, wie er seit Jahrmillionen gefallen ist, kommen nun die Wörter dran. Und werden zu Geld gemacht! Kein Verkauf mehr von nichts ohne Geschichte. So wie es beim Kaufen nicht mehr um die Befriedigung echter Bedürfnisse geht, geht es beim Lesen nicht mehr um Erkenntnis.
Meditative Traditionen kennen das Problem schon lange: Schluss mit dem Gebrabbel, es macht uns verrückt.
Ist das wahr? Kann ich es überprüfen? Wenn ich so vorgehe beim Lesen, dann ist Ihre Behauptung NICHT zutreffend: „Geschichten prägen unsere Kultur, unser Leben, die Art, wie wir die Welt erleben „ Geschichten werden so zu entlarvten Manipulationsversuchen.
Storytelling gibt den Tatsachen Leben, macht sie verständlich, erlebbar, nachvollziehbar. Soweit so gut! Was aber, wenn das Fabulieren zur verdeckten Manipulation, zur geistigen Bevormundung wird? Viele Geschichten sind verkappte Lehrgeschichten. Journalisten sind dann Missionar in eigener Glaubenssache, Eigentliche Überzeugungstäter, die mich zu einem besseren Menschen machen wollen. Ich spür' die Absicht und bin verstimmt.
Much ado about nothing. Gähn.
Relotius ist No Go Punkt. Hochgestochenes Gesülze dazu allenfalls als Rechtfertigung fürs Honorar angebracht. Diese Wand weiss bitte, sag ich zum Maler. Dann erwarte ich eine weisse Wand. Logo. Anders ist’s, wenn ich ihn ein Bild für diese Wand malen lasse. So sehe ich vereinfacht gesagt Unterschied zw. Zeitung und Buch.
Respektlos, wenn ein Schreiberling seinen Schwindel dann gar noch in den Kunstolymp erheben will. Wie K. kürzlich bei Schawinski. Aber was soll’s, vielleicht gibt’s ja Menschen, die auf Spaghetti mit Vanillesauce stehen.
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