Hört auf mit euren Geschichten!
Die Welt besteht aus Tatsachen, nicht aus Geschichten. Aber Geschichten haben Macht – fatale Macht.
Ein Essay von Lukas Bärfuss, 19.01.2019
Sie werden die Situation kennen: Eine erfolgreiche Autorin, Schriftstellerin oder Journalistin wird gefragt, wo sie ihre Geschichten finde, und diese gibt in der Regel ungefähr folgende Antwort: «Ich finde sie auf dem Markt, im Zug oder in der Kneipe. Geschichten gibt es überall. Man muss sie nur erkennen.»
Das klingt plausibel. Erlebt nicht jeder, ob Autor oder nicht, täglich seine Geschichten? Komische, seltsame, oft genug auch traurige Geschichten, die man vielleicht gefunden, aber gewiss nicht gesucht hat. Die Antwort ist einleuchtend, weil sie sich mit unserer Erfahrung zu decken scheint. Trotzdem ist sie nicht korrekt. Sie ist falsch. Die richtige Antwort müsste lauten: «Geschichten sind künstliche Gebilde. Natürlicherweise kommen sie nicht vor. Sie gehören in die Kategorie der Ideen, in den Bereich des Imaginären. Geschichten finde ich ausschliesslich an einem einzigen Ort – und zwar in meinem Kopf.»
Geschichten prägen unsere Kultur, unser Leben, die Art, wie wir die Welt erleben. Trotzdem weiss man viel zu wenig über sie. Die meisten Menschen haben sich nie die Frage gestellt, wie Geschichten zustande kommen, wie sie wirken und warum sie erfunden werden. Das ist schade, denn die Fähigkeit, Geschichten erzählen zu können, hat die Entwicklung des Menschen mehr bestimmt als das Feuer oder die Erfindung des Rades.
Geschichten verbinden Tatsachen
Die Welt, die uns begegnet, ist die unfassbar grosse Summe der Tatsachen, wie es beim Philosophen Ludwig Wittgenstein heisst. Auf welche Weise diese Tatsachen verbunden sind, erklären sie nicht aus sich selbst heraus. Um zu verstehen, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, brauchen wir eine Geschichte, die darlegt, was die Ursache und was die Wirkung ist. Wir wissen, in welcher Weise der Stein mit den Scherben in Verbindung steht, obwohl wir ihn nicht haben durch die Fensterscheibe fliegen sehen. So weit, so logisch.
Doch verbinden wir auch Tatsachen zu Geschichten, die in keinerlei Verbindung zueinander stehen, die in keinem Ursache-Wirkungs-Verhältnis stehen und zwischen denen es offensichtlich keine Verbindung gibt. Hier ein kleines Beispiel.
«Ich schreibe. Draussen schneit es.» Beide Tatsachen (ich schreibe, es schneit) dieser Aussage könnte ich mithilfe der meteorologischen Daten und dem Nachweis meines Aufenthaltsortes beweisen. Die Tatsachen sind also korrekt, aber mein Schreiben hat mit dem Schneefall nicht das Geringste zu tun. Es gibt ausser ihrer Gleichzeitigkeit keinen Zusammenhang. Es würde auch schneien, wenn ich nicht schreiben würde, und würde ich meine Tätigkeit von der Witterung abhängig machen, wäre ich ein seltsamer und sehr neurotischer Schriftsteller.
Trotzdem sind diese beiden Tatsachen in Ihrem Kopf nun verbunden. Sie haben als Bild Gestalt angenommen, ein Bild, das auch nicht falsch ist. Doch die Tatsachen sind sehr willkürlich gewählt. Während ich schreibe, ereignen sich gleichzeitig viele andere Tatsachen. Schon die Zahl derjenigen, die in meinem Erfahrungshorizont liegen, übersteigt die Menge derer, die ich sinnvollerweise aufschreiben kann, um ein Vielfaches. Dazu kommt die unendliche Anzahl aller Tatsachen, die sich ebenfalls ereignen, von denen ich aber keine Ahnung habe.
Eine Geschichte ist also eine willkürliche Auswahl verknüpfter Tatsachen. In unserem Beispiel geschieht die Verknüpfung allein durch die Reihung, doch die Sprache kennt Möglichkeiten der direkteren, engeren Verbindung. In der Grammatik nennt man diese Verbindungen Konjunktionen. Dazu gehören Worte wie «und», «dass» oder «während». Es gibt eine ganze Theorie über die Konjunktionen, hier soll uns nur genügen, dass der Zusammenhang, den sie zwischen Tatsachen herstellen, nicht überprüfbar sein muss, um akzeptiert zu werden.
Geschichten garantieren unser Überleben
Natürlich ist es wichtig, Geschichten kritisch zu hinterfragen – aber es ist äusserst schwierig, um nicht zu sagen unmöglich. Sie konnten sich nicht gegen die Verbindung Schnee-Schreiben wehren. Geschichten sind mächtiger als unser kritisches Bewusstsein. Und das hat evolutionäre Gründe.
Jenseits der Instinkte, die wir mit den Tieren teilen, sind es allein die Geschichten, die uns als Menschen das Überleben garantieren. Um einer Gefahr zu entgehen, muss ich verschiedene Tatsachen miteinander verknüpfen, und die Art und Weise, wie ich das tue, entnehme ich den Geschichten, die ich über diese Tatsachen kenne. Die Gefahr des Strassenverkehrs begreife ich, weil meine Eltern und der Dorfpolizist Tatsachen miteinander verknüpft haben und die Medien mir täglich weitere solche Geschichten erzählen. Ich muss niemals einen Verkehrsunfall erlebt haben, um zu begreifen, wie ich die Tatsache «Ich stehe an der Strasse» mit der Tatsache «Ein Lastwagen nähert sich» miteinander verknüpfen muss: Ich sollte besser warten, bis der Sattelschlepper vorbeigefahren ist.
Und jetzt kennen Sie auch schon die einfachste Art, eine Geschichte zu beginnen. Man nimmt eine Tatsache und stellt eine zweite dazu. Die Geschichte ist dann zu Ende, wenn ich eine dritte Tatsache liefere, die die Verknüpfung der beiden klärt. «Die Frau steht in der Küche. Auf dem Tisch liegt eine Pistole.» Die Spannung wird aufrecht gehalten, bis die Leserin weiss, ob und auf welche Weise diese beiden Tatsachen verbunden sind. Hat die Frau die Pistole gesehen? Wird sie die Pistole nehmen? Was wird sie damit anstellen?
Diese Methode ist natürlich ein alter Hut, wenigstens für jene, die professionell Geschichten erzählen. Daneben gibt es eine ganze Reihe anderer Techniken, um den Leser an den Haken zu bekommen. Ankündigungen sind sehr wirksam oder auch, wenn man die Erwartungen des Lesers bricht. Die Erforschung, wie Geschichten beschaffen sein müssen, damit Menschen sich mit ihnen beschäftigen, hat in den letzten hundert Jahren grosse Fortschritte gemacht.
Von der Struktur zur Prämisse
Im 19. Jahrhundert waren die Dramaturgien noch ganz der Werkstruktur verpflichtet, sie begriffen Geschichten von ihrem Aufbau her. Beispielhaft dafür ist «Die Technik des Dramas» von Gustav Freytag aus dem Jahr 1863. Wie seine Vorgänger, von denen Aristoteles der berühmteste ist, verstand auch Freytag viel von der Struktur, allerdings wenig darüber, wie Geschichten auf den Leser oder den Zuschauer wirken.
Das änderte sich erst zu Anfang des 20. Jahrhunderts, und der Grund dafür waren die Produktionsbedingungen einer neuen Kunst, die dreissig Jahre nach Freytags Werk in einer chemischen Fabrik am Rande der französischen Stadt Lyon von den Brüdern Lumière erfunden wurde. Im Gegensatz zur Literatur und zum Theater wurden Filme industriell hergestellt. Der finanzielle Einsatz war hoch, und Besitzer des Studios hatten alles Interesse daran, ihr Risiko zu minimieren. Sie wollten wissen, weshalb bestimmte Geschichten von den Menschen geliebt, andere aber abgelehnt werden. Eigentlich ist es ganz einfach, wie Billy Wilder, einer der erfolgreichsten Regisseure des klassischen Hollywood, festhielt: «Pack den Zuschauer an der Gurgel und lass ihn nicht mehr los.» Aber wie soll das geschehen? Mit welchen Mitteln? Man brauchte verlässliche Methoden.
Eine der erfolgreichsten wurde 1946 entwickelt, von einem gewissen Lajos Egri, einem Ungarn, der als Kind in die USA emigriert war, sich als Gewerkschafter engagierte und daneben einige mässig erfolgreiche Stücke schrieb, bis er sich auf das Unterrichten verlegte. Sein Buch «The Art of Dramatic Writing», zum ersten Mal 1946 erschienen, legte den Fokus auf das Betriebssystem einer Geschichte. Für Egri war nicht mehr die Struktur entscheidend, sondern das, was er Prämisse nannte. Darunter verstand er den Zweck, den er jedem Moment, dem Leben und deshalb auch einer guten Geschichte, unterstellte. Für «King Lear» definierte er die Prämisse: «Blindes Vertrauen führt in den Untergang», für «Romeo und Julia» dagegen «Liebe trotzt dem Tod». Egris Dramaturgie ist zweifellos von der Prüderie und vom Moralismus seiner Zeit geprägt, aber trotzdem hatte er den Schlüssel gefunden. Es ist nicht die äussere Struktur, die Geschichten erfolgreich macht, sondern das behauptete, aber ungeklärte Verhältnis zwischen den Tatsachen. Das ist es, was uns gefangen nimmt.
Egri wird bis heute gelesen und wurde zum Vorbild für eine unüberschaubare Zahl an Büchern, die dem Wesen der Geschichte auf die Spur kommen wollen; Syd Field, Sol Stein und Robert McKee sind nur die berühmtesten Autoren. Heute hat die Frage, wie es narrativen Strategien gelingt, uns in ihren Bann zu schlagen, schon längst die Erforschung der menschlichen Hirnstrukturen und der kognitiven Prozesse erreicht. Man ist sehr erfolgreich damit. Wenn Sie also das nächste Mal wissen wollen, warum Sie nicht von einer Netflix-Serie lassen können, sollten Sie etwas über Neurophysiologie lesen.
Den Leser bei der Gurgel packen
Das Wissen über die Art, wie Geschichten funktionieren, blieb jedoch nicht in der Filmindustrie. Es wurde von der Literatur übernommen, das Marketing benutzte es, die Politik und schliesslich auch der Journalismus. Dort nennt man diese Disziplin «Storytelling», und sie wird an den einschlägigen Schulen intensiv unterrichtet. Das Medienausbildungszentrum (MAZ) in Luzern bietet zurzeit 33 Kurse an, alle mit demselben Ziel, das in einer Ankündigung so formuliert wird: «Wie muss ein Text erzählt werden, damit er sein Publikum erreicht?»
Dieses Interesse ist nachvollziehbar – doch ist es für eine Journalistin auch legitim? Die Antwort eines Medienschaffenden lautet: Gewiss, solange sich die Geschichten an die Tatsachen halten. Aber wie wir gesehen haben, beginnt eine Geschichte nicht mit den Tatsachen, sondern mit ihren Verknüpfungen, und diese sind zu guten Teilen eine Erfindung, die nur einen einzigen Zweck verfolgt: den Leser bei der Gurgel zu packen, wie Billy Wilder gesagt hätte.
Wie dieses Wissen angewendet wird, zeigt sich jeden Tag in Dutzenden, wenn nicht Hunderten Zeitungsartikeln. Nehmen wir ein beliebiges, nicht weit gesuchtes Beispiel: eine Reportage, die an Silvester in der Republik erschienen ist und von einer Radrennfahrerin handelt. Im Einführungstext steht zu lesen: «Nicole Reist gewann das Race Across America – und sah um sich herum nur Leere.»
Die Autorin hat ihre Lektion in Storytelling gut gelernt. Wie beim Beispiel mit der Frau und der Pistole weiss sie, dass ich mit grosser Wahrscheinlichkeit weiterlesen werde, weil ich wissen muss, in welcher Weise diese beiden Tatsachen miteinander in Verbindung stehen. Aus evolutionären Gründen will mein Hirn nicht ausschliessen, dass auch ich eines Tages das Race Across America bestreiten könnte, und dann wäre es besser, etwas über diese Leere zu wissen. Also: Sah Nicole Reist die Leere, weil sie am Race Across America teilgenommen hatte? Oder weil sie als Siegerin durchs Ziel fuhr? Hätte sie die Leere nicht gesehen, wenn sie den zweiten Platz gemacht hätte? Solange ich das nicht überprüfen kann, bin ich gezwungen weiterzulesen. Das Raffinierte dabei: Auch die Reportage wird diese Frage nicht beantworten, denn dazu müsste sie die Situation reproduzieren können. Das funktioniert nur im wissenschaftlichen Modell. Im Experiment kann man eine Situation mit sämtlichen relevanten Parametern reproduzieren. Doch in der Wirklichkeit funktioniert das nicht. Das strebt die Autorin aber auch gar nicht an, im Gegenteil: Die Tatsachen sollen unüberprüfbar bleiben, damit sie meine Aufmerksamkeit erzwingen. Nur so packt mich eine Geschichte. Nur so lässt sie mir im Grunde keine Wahl, keine Freiheit. Denn wie nennt man eine Geschichte, die besonders mächtig ist, die mich keinen Augenblick loslässt? Man nennt sie fesselnd.
Dramaturgie als Droge
Was sind die Gründe für das verlorene Vertrauen in den Journalismus? Für die meisten Medienschaffenden liegt die Antwort auf der Hand: Politische Kräfte wollen die Unabhängigkeit der Presse beschneiden. Das ist zweifellos richtig – und das ist zweifellos der Fall, seit es die Presse gibt. Die Mächtigen mögen keine Zeitung, die sie nicht selbst kontrollieren.
Ein grosser Teil der Verantwortung des Vertrauensverlustes fällt allerdings auf die Medien selbst zurück. Die Macht der Geschichten ist gross, und Dramaturgie ist eine wirkungsvolle Droge. Der Journalismus hat sie in den letzten Jahren in grossen Schlucken getrunken, er ist davon süchtig und krank geworden. Die Medien meinten, mit ihrem Storytelling die Aufmerksamkeit der Leser gewinnen zu können, aber sie haben sich damit den Methoden des Marketings übergeben. Der Fall Relotius, ein Reporter beim Nachrichtenmagazin «Spiegel», der über Jahre Geschichten erfand und sie Reportagen nannte, ist die Nemesis dieser Entwicklung. Sein ausgezeichnetes Storytelling vernebelte selbst in der legendären Dokumentation, die beim «Spiegel» jeden Bericht auf Herz und Nieren prüft, den Blick auf die Prämisse des Journalismus: Er soll keine Geschichten erzählen. Er soll Tatsachen berichten.
Aber sind schlichte Tatsachen nicht langweilig? Nur, wenn es bekannte Tatsachen sind. Unbekannte Tatsachen haben die Kraft, die Welt von Grund auf zu hören, und die Zeitung, die als erste vermelden kann, dass ausserirdisches Leben existiert, braucht kein Storytelling. Leider ist es viel teurer und aufwendiger, unbekannte Tatsachen zu beschaffen, als eine Geschichte zu erzählen. Der Kostendruck hat die unheilvolle Entwicklung zu immer mehr Storytelling angeheizt.
Viele Menschen glauben, Geschichten seien harmlos, etwas, das man Kindern vor dem Ins-Bett-Gehen erzählt. Häufig nehmen wir Geschichten nicht ganz ernst. Das zeigt sich in den Eigenschaftsworten, die wir dem Begriff beistellen. Wir sagen: eine kleine Geschichte, eine lustige Geschichte, eine blöde, vielleicht auch eine traurige Geschichte. Das alles können Geschichten natürlich auch sein, vor allem aber sind sie mächtig. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass nichts den Menschen so beherrscht, ihn so stark formt wie seine Geschichten. Der Mensch kennt schliesslich Geschichten, die viele tausend Jahre alt sind.
Jede Macht trägt eine Gefahr in sich, und tatsächlich gibt es sehr gefährliche Geschichten. Jede politische Idee, jede Religion, jede Sekte, jede soziale Struktur, die Menschen beherrscht, erfindet für ihre Mitglieder zuerst eine Geschichte. Sie halten Nationen zusammen, lassen sie Krieg führen, machen Gläubige friedlich oder fanatisch.
Deshalb hat jeder, der Geschichten erfindet, eine grosse Verantwortung. Die Welt ist wie gesagt die Summe der Tatsachen, und daraus ergibt sich ein Sachverhalt, den sich jeder Journalist über den Schreibtisch hängen sollte: Geschichten, die in der Welt sind, werden selbst zur Tatsache. Das ist das Gefährliche an ihnen. Die Geschichte über die Radrennfahrerin gehört dazu, und es wird nun immer die Verbindung hergestellt werden zwischen dem Sieg und der Leere. Obwohl das eine mit dem anderen möglicherweise nichts zu tun hat.
In den letzten Jahren wurde viel über Fake News gestritten. Aber das ist die falsche Diskussion. Die menschliche Vorstellungskraft unterscheidet nicht nach Wahrheit oder Lüge. Sie urteilt nach anderen Kategorien: nach Anschaulichkeit und dem Grad der affektiven Beteiligung. Geschichten, die einmal den Weg in unser Bewusstsein gefunden haben, ob Lügen oder nicht, bleiben darin. Auch darum hat man ihre Macht eingehegt und ihnen bestimmte Räume zugewiesen, im Theater, im Roman, im Kino. Die Religionen, die die Macht der Geschichten am stärksten ausgenutzt haben, hat man in ihre Schranken gewiesen, aber wir leben in einer Zeit, in der viele Geschichten entwichen sind und sich in Gebieten breitmachen, wo sie Schaden anrichten. Das Storytelling macht den Journalismus unsicher, die Politik, und sogar die Universität Zürich hat unglücklicherweise eine Abteilung für Storytelling eingerichtet. Es wäre an der Zeit, sich zu überlegen, wie man diese wilden Rosse wieder einfängt, bevor sie alle Zäune niedergerissen haben.
Lukas Bärfuss, geboren 1971 in Thun, lebt und arbeitet als Schriftsteller und Dramatiker in Zürich. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Berliner Literaturpreis 2013 und dem Schweizer Buchpreis 2014. Sein neustes Stück, «Der Elefantengeist», wurde im September 2018 am Nationaltheater Mannheim uraufgeführt.