Weiter denken – Bücher schenken!
Sie suchen noch Ideen für das besondere Buchgeschenk – oder für den eigenen Wunschzettel? Voilà, ein kleiner Streifzug zur Inspiration.
Von Daniel Graf (Text) und Julia Plath (Illustration), 15.12.2023
1. Eine Wunderkammer gegen Kummer/Jammer
Die Welt der Bücher ist eine grosse Wunderkammer. Aber je nach Text kann man sich als Leserin auch eher fühlen wie bei der Plackerei im Gym – das vermeintliche Leseglück muss man sich mitunter verdammt hart erarbeiten.
Dennoch gibt es wenig, was so erhebend ist, wie wenn nach langer Tiefenbohrung eine Erkenntnis aufleuchtet. Oder wenn man mit heissen Ohren einer Lieblingsfigur durch die Geschichte folgt, gar nicht schnell genug umblättern kann – und gleichzeitig auf gar keinen Fall will, dass das Buch zu Ende geht.
Thomas Böhm hat nun ein ganzes Buch mit solchen Geschichten von Leselust und Lesefrust zusammengestellt. Es ist eine Liebeserklärung an die Gutenberg-Galaxis, die Anziehungskraft von Büchern, die Verheissung packender Geschichten. Es geht um die Faszination des Lesens und die Schwierigkeiten des Verstehens, aber auch um die verbindende Kraft der Literatur.
Wir begegnen in dieser auch optisch wunderbar rausgeputzten «Wunderkammer des Lesens»: obskuren Geheimschriften, altehrwürdigen Leseanleitungen, David Bowies Reisebibliothek, Wörterbuchfunden, einer literarischen Hitliste der T-Shirt-Sprüche («German poetry could be verse»). Es gibt Schmähreden auf Literaturkritiker, es geht um ehrliche und gefährliche Bücher, um alte und neue Bestenlisten, um klassische Lesezirkel und die Communitys der Booktoker. Ausserdem findet sich hier kapitelweise Kurioses und Skurriles aus dem Leben von Büchernerds und ihren Lesegewohnheiten.
Ausdrücklich gewarnt wird übrigens vor schlecht gewählten Buchpräsenten: Schon der antike Dichter Catull drohte einem einfallslosen Schenker formvollendet, er schicke ihm eine Ladung Schundbücher «als Strafgeschenk zurück».
Falls Ihnen also jemand wider Willen schwierige Lyrik vorsetzt, halten Sie sich an Mark Yakichs «Strategien zum Lesen von Gedichten»:
Wenn du einem Gedicht begegnest, dann versuch, seine Bedingungen zu akzeptieren anstatt deine Bedingungen durchzusetzen. (…) Versuch, das Gedicht nicht auf dein Leben zu beziehen. Versuch zu sehen, welche Welt das Gedicht entstehen lässt. Mit etwas Glück wird es dich dann deine eigene Welt neu sehen lassen.
Sie merken, man kann hier ruhig mal versuchsweise das Wort «Gedicht» durch ein anderes ersetzen. Zum Beispiel durch «Mensch».
2. Himmel über Hongkong
Seit dem Tag, als alle Schwarz trugen und «Mutters Augen rot wie Tomaten, dick wie Kürbisse» waren, lebt Aguo mit seiner Schwester Afa und der Mutter im Haus seiner Tanten.
«Lotusblumen» nennt er die beiden Damen an ihren gut gelaunten Tagen, «Lotuswurzeln» an den übellaunigen, und auch sonst ist Aguo nicht auf den Mund gefallen. Wir lernen ihn als wachen und etwas altklugen Jungen kennen, und als dieser dann alt und klug genug ist fürs Schulabschlusszeugnis, sieht er in der Zeitung eine Annonce der Telefongesellschaft und schreibt hin:
Ich bin Aguo
Ich möchte Techniker werden
Wie wär’s, wenn ihr mich ausbildet
So wird Aguo Elektroinstallateur, aber eigentlich ist er in Vollzeit Geschichtensammler.
Wenn er mit seinem Kompagnon Mike Munter bei Hausbesuchen Telefonleitungen verlegt oder auf dem Telefonmast hockt, von dort die Stadt beobachtet und staunt, wie blau der Himmel ist – immer fabuliert er so lebendig über die Menschen dieser Stadt, dass man sich durch das Hongkong der 1970er keinen besseren Fremdenführer wünschen könnte.
«Meine Stadt» heisst das Buch der Hongkong-chinesischen Autorin Xi Xi. Und es ist natürlich auch ihre Stadt, von der sie erzählt. 1937 in Shanghai geboren, ist sie 1950 nach Hongkong gekommen – die Stadt, deren Namen im ganzen Roman nie fällt und die hier trotzdem plastisch vor dem inneren Auge ersteht.
Xi Xi, die mit bürgerlichem Namen Zhang Yan hiess, hat das Buch ab 1975 als Fortsetzungsroman in der Literaturbeilage des «Hong Kong Express» veröffentlicht. Ein halbes Jahrhundert später ist nun zum ersten Mal überhaupt ein Buch dieser grossartigen Autorin auf Deutsch zu lesen. Den Erscheinungstermin hat Xi Xi, die vor einem Jahr in Hongkong verstarb, nicht mehr erlebt.
Mit viel Drive und einem erstaunlich heutigen Sound erzählt ihr Roman von Armut, Enge, sozialen Gegensätzen. Wir erleben Hongkong als Migrations-Hotspot, als Durchgangsstation und Ort der vorläufigen Ankunft. Es geht um Flüchtlinge und Flüchtlingskatastrophen, um Sehnsucht und Fernweh. Hongkong wird erfahrbar als Verbindungszentrale und Insel zugleich. Und nicht zuletzt geht es bei Xi Xi um das koloniale Erbe der Stadt; auch darum, wie hochpolitisch die Frage der Sprachenvielfalt sein kann.
Die Übersetzerin Karin Betz hat nicht nur ein wunderbares Deutsch für diesen Text gefunden, sondern in einem ausgesprochen lehrreichen Nachwort auch die literarischen Anspielungen und historischen Hintergründe dieses vielschichtigen Romans offengelegt.
Trotz seines dichten Verweisnetzes und obwohl Xi Xi ein Faible für unkonventionelle Abzweigungen pflegt, ist die historische Stadterkundung hier von einer geradezu schwebenden Leichtigkeit. Das liegt vor allem an Aguo.
«Wir installieren Telefonmasten auf dem Land», erzählt er einmal, das sei ziemlich anstrengend, «aber es hat etwas von Bäumepflanzen». Manchmal hat dieser Roman auch etwas von Träumepflanzen.
3. Stadt der Frauen
Männer verbreiten derart flächendeckend misogyne Klischees, dass man ganze Bücher braucht, um all die Vorurteile und Stereotype wieder zurechtzurücken. Keine neue Erkenntnis? Stimmt. Das Buch, um das es hier geht, stammt von 1405.
Geschrieben hat es Christine de Pizan (1364 – ca. 1430), die mutmasslich erste Autorin überhaupt, die von ihrem Schreiben leben konnte. Zu ihrem Werk gehörten unter anderem eine Biografie von König Charles V., politische Flugschriften und eine Hymne auf Jeanne d’Arc. Vor allem aber hat sie mit ihrem «Buch von der Stadt der Frauen» schon vor über 600 Jahren einen protofeministischen Klassiker vorgelegt, der die «Querelle des femmes», den grossen Geschlechterstreit im 16. und 17. Jahrhundert, inspirieren sollte, die Jahrhunderte überdauerte und besonders in den 1970ern ein Revival erlebte.
Nun ist das Buch in der Übersetzung von Margarete Zimmermann in neuer Ausgabe zu haben, und der subversive Schalk von Christine de Pizan blitzt noch immer aus dem Text. Sie habe angesichts der schieren Masse all die «teuflischen Widerwärtigkeiten» fast geglaubt, die da «über Frauen und ihre Lebensweisen» verbreitet werden; da müsse ja wirklich das ganze Geschlecht missraten sein, schreibt sie einleitend. Allerdings, so formuliert sie in direkter Anrede an den Herrgott höchstpersönlich, sei es ihr dann «doch undenkbar» erschienen, «dass Du auf irgendeinem Gebiet» derart «versagt haben solltest».
Es geht im fiktiven Gesprächsmodus weiter: Was den alten Griechen ihr sokratischer Dialog, ist Christine ihre Konversation mit «Frau Vernunft», «Frau Rechtschaffenheit» und «Frau Gerechtigkeit». Aus diesen Dialogen formt sie eine Streitschrift gegen spätmittelalterliche Hatespeech und frauenfeindliches Denken, widerlegt mit ihren Geschichten die angebliche weibliche Lasterhaftigkeit, spricht stattdessen über häusliche Gewalt und fordert endlich gleiche Bildungschancen für Frauen.
So will sie «gemeinsam mit den drei hohen Frauen eine Stadt errichten»: die «Stadt der Frauen», eine Utopie, ein Gedankengebäude. Und ein Fundament, auf dem noch die Emanzipationskämpfe späterer Jahrhunderte stehen.
4. Book of Mutter
Manchmal öffnet sich mein Mund, und das Lachen meiner Mutter springt heraus, ein Zaubertrick.
«2003–2016» steht am Ende dieses aussergewöhnlichen Textes. 13 Jahre lang hat Kate Zambreno an ihrem Erinnerungsbuch über die eigene Mutter gearbeitet.
Sie schürft im Gedächtnis und an Erinnerungsorten, fährt immer wieder zur Grabstätte der Mutter, «obwohl ich nicht glaube, dass sie dort beherbergt ist». Es ist ein Rätsel, eine Lücke, etwas Unverwundenes und Unverstandenes, das hier den Schreibprozess antreibt, über Jahre hinweg.
Zambreno hat ein Buch über Trauer und Erinnerung geschrieben, aber mindestens so sehr eine Meditation über diese besondere Konstellation namens Mutter-Tochter-Verhältnis. Es geht um Rollenmuster und Lebensentwürfe und wie sie sich wechselseitig bespiegeln – in Nachahmung oder Abgrenzung von der eigenen Mutter, aber nie in unbeteiligter Gleichgültigkeit. Zambrenos Essay bildet eine Such- und Sammelbewegung ab: Er besteht aus Textsplittern und Erinnerungsfundstücken – Miniaturen, wie Puzzleteile zu einem nie ganz vollständigen Bild. Ein Verfahren wie geschaffen dafür, von der Schweizer Autorin Dorothee Elmiger, einer literarischen Wahlverwandten Zambrenos, übersetzt zu werden.
«Book of Mutter» heisst das Buch im Original. Zambreno spielt mit der Buchstabengleichheit zwischen dem deutschen Wort «Mutter» und dem englischen «mutter» = «murmeln».
«Mutter (Ein Gemurmel)» heisst es auf Deutsch, und gemurmelt meint hier: leise, intim, bruchstückhaft. Im vielstimmigen Dialog mit den zahlreichen Muttertexten der Literaturgeschichte. Und dann doch auf der Spur einer ureigenen Verbindung.
Was ich suche, sind keine Fakten. Was ich suche, ist etwas Unaussprechbares über meine Mutter. Ich will Bernstein und grünes Glas und Gold. Wie ihre Augen. Unsere Augen.
5. Sind wir nicht alle ein bisschen Lars?
Holy shit, das Buchjahr ist quasi schon zu Ende, und wir haben Ihnen noch nicht mit Nachdruck empfohlen, sich «Kleine Probleme» ins Haus zu holen.
Darin, also in «Kleine Probleme» und in seinem neuen Haus, hat Lars eine To-do-Liste hängen, die sich eher wie eine Versäumnisliste liest. Das «Lebenswerk», den ganz grossen Roman, will er endlich schreiben, doch auf der Liste stehen auch Putzen, Steuer, Vater anrufen, Nudelsalat, mit dem Rauchen aufhören und irgendwie auch ein bisschen die Welt retten.
So ist dieser Lars nicht nur ein süffisant karikierter Möchtegern-Schriftsteller, sondern auch ein klein wenig das Abbild von uns allen. Schliesslich verkörpert er ein Lebensgefühl der mitteleuropäischen Wohlstandsgegenwart. Da ist die Dauerüberlastung. Und vor lauter Überforderung: Prokrastination.
Notdürftig hält man, also Lars, sich das schlechte Gewissen vom Hals. «Ukraine zum Beispiel», sagt Lars: «eindeutig nicht meine Aufgabe». Ebenso wenig Kohleausstieg und Seenotrettung.
So scrollt er dann halt wieder auf dem Smartphone «dem Weltuntergang hinterher» und stellt fest: «Die meisten meiner guten Taten muss ich noch vollbringen.»
Nele Pollatschek hingegen hat mit diesem Buch mindestens zwei gute Taten vollbracht.
Sie hat einen Roman vorgelegt, wie er in der deutschsprachigen Literatur in Sachen Wortwitz und Tempo schon seit Jahren nicht mehr gesichtet wurde. Und sie hat gegenüber all den bemühten Literaturbetriebs-Schlüsselromanen und Nabelschauen gezeigt: So leichtfüssig kann Meta sein. Wenn jemand mit virtuoser Beiläufigkeit eine Szene vom Würdevollen ins Lächerliche kippen lassen kann.
Auch dieser Wortwechsel zwischen zwei voneinander schon etwas ermüdeten Ehepartnern gehört in die ewige Dialog-«Hall of Fame»:
So oder so ähnlich fluchte ich, weil ich immer so fluche, wenn ich etwas aufbauen muss, Johanna sagt dann ach Walter Benjamine doch nicht wieder so rum, und ich sage ich dachte, du Marxt das? (…) und manchmal lehnt sie sich an mich, sodass ihre Haare mich ganz leicht am Hals kitzeln, und dann haucht sie J’Adorno.
Wir sagen also mit Engels-Zungen: «Kleine Probleme» passt auch vom Plot besonders gut zum 24. oder 31. Dezember. Wieso?
Das wollen wir natürlich nicht spoilern. Allen Eiligen und Gehetzten sei aber verraten: Sie erfahren es eh schon auf Seite 14. Da haben Sie dann noch 14 x 14 Pointen vor sich.
Ehrenrunde
Sie haben den ganzen Parcours durchlaufen, brav alle Türchen geöffnet – und noch immer ist nix Passendes dabei? Machen Sie deswegen bloss nicht den Lars! Die grosse Wunderkammer namens Lieblingsbuchhandlung ist ja in den letzten Wochen wieder hochkarätig neu bestückt worden und hat noch viel mehr in petto.
Joanna Bator zum Beispiel. Die polnische Autorin erzählt in «Bitternis» eine Familiengeschichte über vier Frauengenerationen hinweg – das darf man getrost Weltliteratur nennen. Der Chilene Benjamín Labatut hat einen atemberaubend-verstörenden Roman über künstliche Intelligenz und menschliche Hybris vorgelegt. Die afghanische Dichterin Mariam Meetra, die mittlerweile in Berlin lebt, hat herausragende Gedichte über Flucht und Exil geschrieben («Die Strassen Kabuls kennen meinen Namen / Ich habe das Exil mit der allertraurigsten Weise besungen (…) / Wie eine Reisende, der man das Heimatland aus der Handtasche gestohlen hat»); der Wallstein-Verlag hat sie in einer zweisprachigen Ausgabe auf Persisch und Deutsch herausgebracht.
Zu den Wiederentdeckten dieser Saison gehört neben Marlen Haushofer und Martin Frank auch Ludwig Hohl. Wer glaubte, über Paul Celan schon alles zu wissen, wird bei Bertrand Badious epochaler Bildbiografie kaum aus dem Staunen herauskommen. Und im Berner Haupt-Verlag ist ein faszinierendes Buch über Alexander von Humboldt und «die Anfänge der modernen Klimaforschung» erschienen.
Last but not least:
Beim Verlagshaus Berlin kann man sich selbst oder einen lieben Menschen mit einem Lyrik-Abo beschenken. Ähnliches gibt es bei Urs Engelers «roughbooks». Und beim Kookbooks-Verlag, der vor kurzem sein 20-jähriges Bestehen feierte, könnte man ebenfalls getrost auf Flatrate einkaufen und bekäme immer relevante Gegenwartsliteratur. (Zum Beispiel, apropos «mutter»-tongue, von Uljana Wolf.)
2024 beginnt gleich mit einem Schriftstellerjubiläum: Am 1. Januar wird Rainer René Mueller, einer der bedeutenden, noch immer zu wenig gewürdigten deutschsprachigen Dichter der Gegenwart, 75 – ein guter Anlass, sich die «Gesammelten Gedichte» zu besorgen.
Drei persönliche Romane des Jahres: NoViolet Bulawayo, Mina Hava, Salman Rushdie.
Und weil Bücher keine Saisonware sind: Wer jetzt noch immer ohne Fund ist, stöbere einfach durch die Tipps vom letzten oder vorletzten Jahr.
Viel Freude beim Verschenken. Und auf ein friedlicheres, hoffnungsvolleres 2024.