Lesha vor dem Sommerhaus, fotografiert von seiner Frau Agata.

Leben in Trümmern

Grosse Sorgen

Fotograf Lesha hoffte auf einen mehr oder weniger entspannten Sommer. Stattdessen wurde es die schlimmste Zeit seines Lebens.

Von Lesha Berezovskiy (Text und Bilder) und Sven Gallinelli (Bildredaktion und Übersetzung), 02.10.2023

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Vorgelesen von Patrick Venetz
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Ich habe länger nichts mehr von mir hören lassen, das tut mir leid. Aber nach den jüngsten Ereignissen fehlte mir die Kraft zum Schreiben. Ich weiss gar nicht, wo ich anfangen soll.

Es begann damit, dass sich der Zustand meiner Frau Agata verschlechterte und im Laufe des Sommers immer schlimmer wurde. Der Psychiater, bei dem sie bislang in Behandlung war, begann, mit der Medikation zu experimentieren. Vielleicht, weil er ihre Verfassung missverstanden oder falsch interpretiert hatte. Das führte am Ende des Sommers zu einem verrückten Zustand der Psychose bei Agata.

Agata hatte sich vermehrt in unser Häuschen auf dem Land zurückgezogen. Ich besuchte sie da regelmässig und versuchte sie auch davon zu überzeugen, nach Kiew zurück­zukehren, um sich etwas zu erholen, aber sie lehnte ab. Leider erahnte ich nicht, wohin dies alles führen würde. Ich dachte, der Aufenthalt im Sommer­haus könnte hilfreich für Agata sein.

Impressionen, festgehalten von Agata: Blick in die Natur, Blick ins Landhaus.

Als ich dann aber Ende August ins Sommer­haus fuhr, reiste sie am nächsten Tag überstürzt nach Kiew und bat mich, eine Woche lang auf dem Land zu bleiben. Agata warf mir vor, dass ich dort nicht genug Zeit verbringe. Also blieb ich auf dem Land. Aber Agata hatte dann eine schwierige Zeit in Kiew. Auf der Strasse begab sie sich in unangenehme Situationen. Sie war sehr verletzlich und geriet in Kontakt mit seltsamen Menschen.

Nach einer Woche vereinbarten wir, dass ich nach Kiew zurückkehre. Als ich zu Hause ankam, fand ich Agata in einem Zustand vor, der mir klarmachte, dass wir professionelle Hilfe benötigen. Wir fanden eine Privat­klinik und verbrachten dort acht Tage. Agata hat da viel geschlafen, was wohl auch an den Beruhigungs­mitteln lag, die man ihr verabreichte. Der Klinik­aufenthalt stimmte uns zuversichtlich.

Doch zwei Tage nach dem Klinik­aufenthalt wurde Agatas Zustand noch schlimmer. Vielleicht war die Klinik doch nicht so gut, wie wir gehofft hatten. Sie haben wohl nur die akute Situation beruhigt, aber nicht das eigentliche Problem behandelt. Agata litt so ziemlich an allen Neben­wirkungen, welche die ihr verschriebenen Anti­depressiva haben können.

Auch die Therapeutin, die während neun Jahren mit Agata gearbeitet hatte, war ratlos. Sie rief mich an und sagte, sie wolle aufgeben.

Als Nächstes riefen wir eine Ambulanz und fuhren in die psychiatrische Haupt­klinik in Kiew. Doch die Atmosphäre dort war schlimm – definitiv kein Ort, an dem man sein möchte. Ich fühlte mich hilflos.

Agata.

Ein paar Tage später bekamen wir einen Termin bei einem neuen Psychiater, der uns empfohlen wurde, aber bislang im Urlaub gewesen war. Er war meine letzte Hoffnung. Am Tag vor dem Termin war ich noch immer sehr verzweifelt. Ich rief Annette Keller an, Bildredaktorin bei der Republik, weil ich nicht wusste, was ich tun sollte, und keine Ahnung hatte, wo ich in der Ukraine Hilfe bekommen könnte.

Dann kam der Tag des Arzttermins. Agata wachte am Morgen auf. Und plötzlich war ihr Verstand wieder komplett da. Die Aggressivität mir gegenüber war verflogen. Es war, als ob sie zurück im Leben ist, aber sich selber gar nicht erklären kann, was passiert war.

Zurück in Kiew.
Die Republik-Tasche erweist sich als nützlich.

Wir gingen zum neuen Psychiater. In den nächsten Tagen musste Agata einige medizinische Tests absolvieren und bekam neue Medikamente, die weniger stark sind. Ich hoffe sehr, dass diese Medikamente nun anschlagen. Agata nimmt sie erst seit kurzem, es ist also noch zu früh, um die Wirkung abschliessend einzuschätzen. Agata passt sich immer noch an die neue Medikation an. Aber bislang war es eine ruhige Woche. Ich hoffe auf das Beste.

Es waren wohl nicht nur die Antidepressiva, die Agata in diese Situation brachten. Die Auswirkungen des Krieges haben ihre Spuren bei ihr hinter­lassen. Der Druck. Die eingeschränkten Freiheiten. Wir überlegen nun, ob Agata die Ukraine bis zum Ende des Krieges verlassen soll. Natürlich erst, wenn es ihr besser geht.

Abgesehen von diesen Ereignissen ist in meinem Leben nicht viel passiert. Ich habe wenig gearbeitet, mir fehlte die Inspiration zum Fotografieren. Ich hoffte auf einen ruhigen Sommer, und es wurde die schlimmste Zeit im Leben von Agata und mir.

Das hat auch bei mir Spuren hinterlassen. Als wir in der psychiatrischen Klinik waren, sah ich am Ende des Tages mein Gesicht, das von einer Oberfläche reflektiert wurde. Ein paar Haare meiner Augen­brauen waren elektrisch aufgeladen und schauten in eine andere Richtung. Sie waren grau.

Zum Fotografen

Lesha Berezovskiy arbeitet als freier Fotograf in Kiew. Er ist 1991 im ostukrainischen Bezirk Luhansk geboren. Als dort 2014 der Krieg ausbricht, zieht er in die Hauptstadt, wo er heute mit seiner Frau Agata lebt.

Zum Buch

Leshas Fotoband «We Stay» dokumentiert sein Leben im ersten Jahr des Krieges in der Ukraine. Die Bilder dafür sind alle im Rahmen dieser Kolumne entstanden. Ausgewählte Prints daraus sowie das Buch können hier bestellt werden.