Gedankenkarussell
Agata hat sich in das Häuschen auf dem Land zurückgezogen, und Lesha fällt es schwer, sich am Kiewer Sommer zu erfreuen. Doch die Reaktionen auf sein Buch machen ihm Mut.
Von Lesha Berezovskiy (Text und Bilder) und Annette Keller (Bildredaktion und Übersetzung), 31.07.2023
Es ist nun mehr als einen Monat her, dass ihr das letzte Mal von mir gehört habt. Es fiel mir schwer, meine Gedanken zu ordnen, geschweige denn aufzuschreiben. Sie drehten sich im Kreis. Das tun sie immer noch, aber ich will nicht, dass die Leser und Leserinnen sich meinetwegen Sorgen machen. Denn insgesamt bin ich wohlauf, auch wenn der letzte Monat emotional sehr herausfordernd war. Agata ging es gar nicht gut, ihre moralische Verfassung hat sich stark verschlimmert. Ich habe sie schon lange nicht mehr so deprimiert erlebt, ich glaube, das letzte Mal war noch vor dem Krieg. Sie verbringt die meiste Zeit auf dem Land in ihrem Häuschen und war nur einmal für eine Woche in Kiew. Immerhin hatte sie da ein paar Jobs, die ersten seit Kriegsbeginn.
Ich versuche, sie so oft wie möglich zu besuchen und sie so zu unterstützen. Aber es ist nicht einfach. Ich kann nicht durchgehend auf dem Land wohnen, und sie sträubt sich, nach Kiew zu kommen. Seit letzter Woche geht es ihr nun schon besser, und ich hoffe, wir haben es bald geschafft. Vielleicht kann sie sogar in näherer Zukunft wieder reisen und arbeiten – bei ihrer Agentur hat man ihr jedenfalls erzählt, dass die deutsche Botschaft diesen Herbst wieder aufmachen will. Dann könnte sie ein neues Arbeitsvisum beantragen. Das wäre super, denn ich bin überzeugt davon, dass es ihr sehr helfen würde, wieder unterwegs zu sein. Ich drücke die Daumen.
Der Sommer ist herrlich in Kiew, wie immer. Aber leider ist es kaum möglich, ihn wirklich zu geniessen. Im Juni war ich sehr umtriebig, bin viel herumgereist. Danach wollte ich es ruhiger angehen, Zeit zu Hause verbringen. Ich habe mich zurückgezogen, wenig Kontakt zu meinen Freunden gehabt und vor allem gearbeitet oder war bouldern in der Halle.
Vor ein paar Wochen schlief ich zu einem Sommergewitter ein. Es regnete, donnerte und blitzte, und ich dachte daran, wie schön es ist, diese Bilder und Geräusche wahrzunehmen und zu wissen, dass sie diesmal von der Natur verursacht werden und nicht von Explosionen und Raketen, die Tod und Verwüstung bringen. Am nächsten Tag regnete es weiterhin und hörte erst auf, als ich vom Training zurückkam.
Mit dem Regen war auch die Hitze verschwunden. Es war klar und frisch, als ich nach Hause ging. Und obwohl es bereits nach neun war, war es noch sehr hell. Diese langen Sommertage … wie schön wäre es jetzt, nach Hause zu gehen, mich umzuziehen und noch mal raus für ein spätes Abendessen oder auf ein paar Drinks mit Freunden. Wenn es keine Sperrstunde gäbe. Keinen Krieg. Nur ein paar Minuten nach diesen Gedanken ging der Luftalarm los.
Nach meiner letzten Kolumne verbrachte ich ein paar Tage in der Nähe von Lwiw, um in der Natur zu bouldern. Osterinsel wird die Location, wo wir waren, genannt, wegen der grossen beeindruckenden Felsbrocken im Wald. Während dieser zweieinhalb Tage gab es keinerlei Handy- oder Internetempfang. Es war das Wochenende nach meiner letzten Kolumne, und als ich wieder Netz hatte, war ich überwältigt von den vielen Nachrichten und Reaktionen zu meinem Buch «We Stay». Viele Leserinnen haben mir geschrieben, viele haben es bestellt, und besonders gefreut hat mich das grosse Interesse an der Sonderedition. Das hat mich alles sehr berührt. Und als ich dann wieder zu Hause war, sind auch endlich meine Exemplare des Buches eingetroffen. Es war ein sehr spezieller Moment, das Buch endlich in den Händen zu halten. Es ins Büchergestell zu stellen, neben die Bücher meiner Lieblingsfotografinnen und -fotografen. Jedes Mal, wenn ich das Buch anschaue, finde ich neue Details in den Bildern, neue Bedeutungen, die mir noch nicht klar waren, als ich abgedrückt habe.
Ich war mir nicht sicher, ob auch die Leute aus der Ukraine oder Kiew mit dem Buch etwas anfangen können. Es ist zwar ein Rückblick auf ein Jahr im Krieg, aber der ist eben noch nicht vorbei. Und wir wissen nicht, ob wir das Schlimmste hinter uns haben oder vor uns. Wahrscheinlich verstehen wir erst in ein paar Jahren, was das alles bedeutet und welche Rolle das Buch darin spielt. Im Moment zählen die vielen Reaktionen und die Unterstützung, die ich von überallher erhalte. Sie bestätigen mich in meiner Arbeit, geben ihr einen Sinn.
Lesha Berezovskiy arbeitet als freier Fotograf in Kiew. Er ist 1991 im ostukrainischen Bezirk Luhansk geboren. Als dort 2014 der Krieg ausbricht, zieht er in die Hauptstadt, wo er heute mit seiner Frau Agata lebt.
Leshas Fotoband «We Stay» dokumentiert sein Leben im ersten Jahr des Krieges in der Ukraine. Die Bilder dafür sind alle im Rahmen dieser Kolumne entstanden. Das Buch ist bei der Republik bereits ausverkauft, kann aber beim Verlag weiterhin bestellt werden. Bei der Republik sind zudem ausgewählte Bilder aus dem Buch als Print erhältlich.