Bär im Hamsterrad
Die Serie «The Bear» erzählt eine Geschichte von harter Arbeit und wenig Lohn, also eine, die wir schon tausendmal gehört haben. Warum sieht man sie sich trotzdem so gerne an?
Von Theresa Hein, 21.08.2023
Eine Mutter ist am Ende ihrer Kräfte. Sie sagt: «Ich bemühe mich so, es für alle schön zu machen. Und niemand macht irgendetwas schön für mich.» Ihr Sohn steht daneben, in der vom Kochen verwüsteten Küche, sieht sie an und nickt stumm.
Wenn man das hört, möchte man doch eigentlich gleich mit der Mutter mitfühlen, oder? Das Stichwort mental load fällt einem ein, eine Überbelastung im Kopf, die vor allem Frauen seit Jahrzehnten spüren, die den Haushalt schmeissen, zeitgleich die Kinder grossziehen und, wie in dieser Szene, ein liebevolles und aufwendiges Weihnachtsmenü kochen, damit es alle schön haben. Die Worte, die die Frau sagt, sind so und in Variation auf der Welt schon zigtausendmal gefallen.
Und doch fühlen wir in diesem Moment eben nicht mit der Mutter, sondern mit ihrem erwachsenen Sohn, der danebensteht und nickt, weil ihm nichts anderes zu tun bleibt, weil er gelernt hat, dass widersprechen nichts hilft, dass darauf eingehen nichts hilft, dass Lösungen suchen nichts hilft. Denn die Mutter, gespielt von der wunderbaren und hier ernsthaft beängstigenden Jamie Lee Curtis, hat zweifelsohne eine Form einer Persönlichkeitsstörung. Wenige Minuten zuvor hat sie schon ihre Tochter tätlich angegriffen, seit Stunden schreit «Mom» die Küche zusammen.
Kurz: Seit die Kinder klein sind, macht die Mutter ihnen das Leben extrem schwer, und im Alter wird es schlimmer. Wenn man das weiss, fällt das mit dem Mitgefühl schon weniger leicht.
Damit sind wir schon mitten im Leitprinzip der aussergewöhnlich schlauen und aussergewöhnlich malerischen Serie «The Bear»: Nimm Sätze, Worthülsen, die alle schon abertausendmal gehört haben, und mach es dir zur Aufgabe, sie mit echtem Leben zu füllen; nimm das, von dem alle denken, es sei ein Klischee, und zeige, dass es auch noch ein Gefühl auslösen kann, wenn es nur gut erzählt ist.
Das ist das Rezept des Haupt-Drehbuchautors und Schöpfers der Serie, Christopher Storer. Wie Spinnweben zupft er Kitsch und Langeweile von abgenutzten Sätzen, und zurück bleibt entweder etwas Schönes oder etwas Groteskes; etwas, in dem die Zuschauerinnen sich wiederfinden oder das sie überrascht. Storer hat das in der ersten Staffel von «The Bear» konsequent umgesetzt, und er übertrifft sich in diesem Prinzip noch mit der zweiten, die seit einigen Tagen auch im deutschen Sprachraum zu sehen ist.
Warum freiwillig derart gestressten Menschen zusehen?
Hauptfigur von «The Bear» ist nicht die jammernde Mutter, sondern ein Mann namens Carmen Berzatto, genannt Carmy, gespielt von Jeremy Allen White. Carmy sieht meistens zugleich fettig und bildschön aus, so, als hätte ihn jemand einmal in die Fritteuse geschmissen und dann, noch tropfend, in ein Baumwoll-T-Shirt gesteckt, weich und sauber, ganz anders als die Arme, die daraus hervorragen. Wobei man stets ahnt, dass nicht nur das T-Shirt, sondern auch der Mann ziemlich weich ist, weil seine Augen so blau strahlen und oft aussehen, als würden sie gleich losweinen.
Manchmal kann man ja selbst kaum fassen, auf was man alles hereinfällt. Dieses Gefühl begleitet einen in «The Bear» (bis auf ein, zwei schleppendere Folgen) durchweg. Vordergründig handelt die Serie von einer Restaurantküche. Daneben geht es um Leistungsdruck, Psychoterror, Selbstoptimierung, um verbissene Menschen und gewalttätige Männer, um Traumabewältigung.
Nicht gerade innovative Stichworte, oder? Und auch nicht das, was man sich nach einem Arbeitstag ansehen will, um sich zu entspannen.
Trotzdem stellte «The Bear» einen Zuschauerrekord auf: Sehr viele Menschen wollen genau das sehen, was da gezeigt wird. Man kann ahnen, warum das so ist.
An dieser Stelle eine kurze Zusammenfassung des Inhalts der ersten Staffel, für diejenigen, die das Ansehen noch vor sich haben.
Ein Mann stirbt und hinterlässt seinem Bruder, einem gelernten Sternekoch, sein Restaurant – genauer: einen schäbigen Imbissladen in Chicago samt dreihunderttausend Dollar Schulden und einem Küchenteam, das vor allem durch seine Egozentrikerdichte auffällt. Der Bruder Carmy – das ist der Schöne aus der Fritteuse – will aus dem Laden eine Goldmine machen.
Vor allem aber will er exzellent kochen, und, so viel Küchenpsychologie muss sein, er versucht mit dem Aufmöbeln des Lokals die kaputte Beziehung zu seinem gestorbenen Bruder zu reparieren (er sagt das sogar mal selbst genau so). Das klappt aber ganz und gar nicht, und deswegen wird in «The Bear» sehr viel geflucht, geschrien, und einmal bekommt jemand ein Fleischermesser in den hinteren Oberschenkel und resümiert verblüfft: «Ich wurde abgestochen.»
Allein die erste Folge in der Sandwichküche ist aufgrund des dargestellten Tempos, des Lautstärke- und Psychospielpegels derart stressig anzuschauen, dass es beinahe Überwindung kostet, sich die zweite anzusehen – aber eben nur beinahe.
Storer und sein Team haben Sterneköchinnen und Gastronomen konsultiert, manche Darstellerinnen wurden in eine Art Küchen-Bootcamp geschickt. Sogar ein echter Koch spielt mit, der kanadische Bestsellerautor und Gastronom Matty Matheson, allerdings darf der nur den Handwerker spielen. (Angeblich halten viele Köche die Serie nicht gut aus, weil sie so nahe an der Realität ist.)
Der Witz an dieser Serie ist, was sie alles nicht ist. Sie ist keine Kochshow, in der die Bilder von Rindsragout, von fein geschnittenem Fenchel und Zuckerglasur auf Donuts so viel Ruhe in das Chaos der Küche bringen, dass es eine Freude ist, sie anzusehen. Sie ist auch keine Sitcom oder Comedyserie, denn dafür ist sie nicht durchweg lustig genug. Es ist keine künstlerische Dokumentation über den Ort Chicago, obwohl die Drohnenfahrten und beeindruckenden Aufnahmen über Skyline und Strassenzüge am frühen Morgen uns das manchmal vorgaukeln.
Und die Serie passt nicht so recht in das Genre Drama, dafür sind die Pointen zu gut gesetzt und man muss zu oft laut lachen. Sie ist auch nicht die überraschendste je erschienene Serie, dafür blitzen zwischendurch dann doch immer wieder ein paar Klischees zu viel im Drehbuch auf. Auch wenn man sich dank des oben erwähnten Tricks des Regisseurs am Ende nicht ernstlich daran stört.
Mit Perfektion geplant
«The Bear» nimmt sich von allem, was die Serie nicht ist, ungeniert das Beste heraus. Alles ist von vorne bis hinten durchkomponiert, kleine Andeutungen, Witze oder traurige Momente sind von langer Hand geplant und dann im genau richtigen Moment eingesetzt; auch mal erst eine ganze Staffel und für die Zuschauerinnen damit häufig ein ganzes Jahr später. Womit wir wieder beim Hereinfallen sind. Denn das Gefühl, das Christopher Storer bei uns durch seine lange Planung hervorruft, ist natürlich voll und ganz beabsichtigt, und wir lassen uns hereinlegen, indem er Dinge zu Pointen macht, die wir schon längst wieder vergessen haben.
Ein Beispiel: Richie (Ebon Moss-Bachrach), der Freund des verstorbenen Bruders Michael, hat eine kleine Tochter, die bei ihrer Mutter lebt. Als er sie in der ersten Staffel einmal nach Hause bringt, ruft er, beim Auto wartend, der Tochter nach: «Ich liebe dich, Spätzchen.» Und einen Atemzug später: «Und ich lieb Taylor auch, okay, ich brauchte nur ’ne Pause.» Mit Taylor ist Taylor Swift gemeint, die Lieblingssängerin von Richies Tochter, und es war in der ersten Staffel schon sehr lustig, dass Richie, ein abgebrühter Typ und Taugenichts, der einmal einen Mann beinahe totschlägt, seiner Tochter seine Liebe zu Taylor Swift gesteht.
In der zweiten Staffel dann geht für Richie, den Tunichtgut, dessen grösste Angst es ist, dass er das sein könnte, was alle ihn schimpfen – ein Loser –, für einmal alles gut. Beflügelt, ekstatisch brettert er mit seinem Auto durch Chicago und freut sich riesig über seinen Erfolg. Und was hört er dabei für Musik? Na klar, «Love Story». Von Taylor Swift.
Ein anderes Beispiel für den langen Weg zu starken Pointen ist der Kühlschrank des Restaurants, bei dem ich nicht zu sehr ins Detail gehen darf, um nicht zu viel zu verraten. Im Finale der zweiten Staffel dann wird der Kühlschrank auf einmal zentral. So zentral, wie es Dinge werden, die man eben wochen- und monatelang vor sich herschiebt, die zunächst nur Kleinigkeiten sind und dann als Riesenprobleme zurückkommen und einen in den Hintern beissen.
Oder die tragikomische Figur von Carmys Schwager Pete (Chris Witaske), dem Mann seiner Schwester Natalie. Niemand kann Pete ausstehen, weil er immer etwas zu gut gelaunt ist und in den unpassendsten Momenten seinen Senf dazugibt.
In der ersten Staffel ist es ein Leichtes, sich über ihn lustig zu machen. In den neuen Folgen bricht Pete einmal angesichts der dysfunktionalen Familie Berzatto zusammen. Pete ist der Einzige, der ganz zu fassen scheint, was im Laufe seines Lebens noch alles auf ihn zukommt, nicht einmal die Berzatto-Kinder Carmy und Natalie selbst haben das ganz begriffen. Der Mensch, der es kapiert hat, ist derjenige, über den wir zuvor in jeder Szene, in der er auftrat, gelacht haben. Also beobachten wir das Ganze ziemlich beschämt.
Das sind nur ein paar von sehr vielen, liebevoll arrangierten Details, die durch die Story gestreut sind. Eine der grossen Linien, die sich durchzieht, ist aber die Entmythifizierung von vermeintlich Erstrebenswertem.
Zeitstress und perfektes Timing
Die Gastronomiebranche, gerade die Spitzengastronomie, ist bekannt dafür, dass die Arbeitsbedingungen dort oft unerträglich stressig sind: den ganzen Tag künstliches Licht, den ganzen Tag auf den Beinen, den ganzen Tag vielleicht einen sozial wenig kompetenten Menschen vor sich, den ganzen Tag hoch konzentrierte Arbeit. Viel hat man schon lesen und sehen können vom lauten, rauen Umgangston und Machtmissbrauch in Küchen.
Wer einmal in der Gastronomie gearbeitet hat, der weiss, dass auch kleine, freundliche Betriebe durchaus fähig sind, die Menschen, die darin arbeiten, voll und ganz zu verschlucken. In der Sterneküche ist dieses Verschlucktwerden um ein Vielfaches stärker ausgeprägt, was zählt, ist die eigene Leistung, die nie unter der Messlatte «Perfekt» liegen darf.
Dementsprechend viel halten Carmy und Souschefin Sydney (Ayo Edebiri) sich in der Küche des Restaurants auf, von morgens früh bis abends so spät, dass man es schon wieder früh nennen könnte. Sie leben darin. Als Carmy und Sydney in den neuen Folgen einmal unerwarteterweise nichts zu tun haben, weil für die Neueröffnung noch wichtige Genehmigungen fehlen, sehen wir sie, wie sie sich am Spind ihre Jacken anziehen und früher nach Hause gehen. Der halb gemurmelte Dialog geht so:
«Fühlt sich komisch an, oder?»
«Total komisch.»
«Und was machst du jetzt?»
«Ich, äh, keine Ahnung und du, was äh, du …»
«Ich hab keine Ahnung. Kei-ne Ahnung.»
Weder Carmy noch Sydney wissen, wie sie mit der Perspektive eines freien Abends umgehen sollen, Carmy hört sich regelrecht panisch an. Christopher Storer vermittelt in dieser kurzen Szene ein Gefühl davon, was der Lohn dafür ist, sich einer nervenaufreibenden Knochenarbeit unterzuordnen und sich mehr und mehr auszubeuten: Zu Hause wartet, in sehr vielen Fällen, gar nichts. Diese Szene kann sich auch weitab der Sterneküche in jedem Arbeitskosmos abspielen, der von Menschen unverhältnismässig mit Wert aufgeladen wird. Am Ende steht man da, hat frei, und weiss nicht, was man mit sich anfangen soll. Oder mit ein wenig Zeit.
«The Bear» kommt vielleicht auch deswegen so gut an, weil die Serie auf eine Zeit folgt, in der die besten Werke auf dem schwächelnden amerikanischen Serienmarkt hauptsächlich von sehr reichen Menschen handelten: «Succession» und «The White Lotus».
«The Bear» nimmt uns nun, anders als «The White Lotus» (auch dort gab es Ausflüge auf die Kehrseite des Reichtums), mit in die Welt derer, die am anderen Ende der Konsumkette stehen, die aber – und das ist klug beobachtet –, ebenso sehr das «Schneller-besser-weiter»-Mantra des kapitalistischen Systems verinnerlicht haben. Nur, dass sie, wie Carmy, Sydney und viele andere, ihrem Streben einen Sinn vorschieben, der verloren geht, sobald die Arbeit endet und das Hamsterrad stoppt.
Ähnlich geht die Serie mit toxischer Männlichkeit um. Gerade in der ersten Staffel werden Probleme gerne mal mit einer Waffe gelöst, und wir sehen mehr als eine Szene, in der Richie und Carmy mit ihren Tattoos und engen T-Shirts nebeneinander rauchen. Die dargestellte Männlichkeit sieht in diesen Szenen sehr adrett aus, ist aber rasch als Fassade erkennbar. Richie, dem in der ersten Staffel die Rolle des orientierungslosen Macho-Idioten zufällt, bringt sich mit seinem Männlichkeitsgehabe einmal sogar hinter Gitter. Aber nur kurz.
Alle wollen sich so gern ändern
Und damit sind wir bei der vielleicht grössten, vielleicht sogar der einzigen Schwäche von «The Bear». Die meisten Charaktere sind bereit, sich zu ändern. Sie wollen das so gern. Und das wirkt dann doch oft beinahe zu schön, um wahr zu sein.
Die anfangs gehässige Köchin Tina (Liza Colón-Zayas, grossartig) geht voll in ihrer neuen Rolle der Teamglucke auf und lernt an der Restaurantfachschule bereitwillig alles, was ihr beigebracht wird. Richie, der Oberarsch, wird ein netter Kerl. Carmys Schwester Natalie (Abby Elliott), die in der ersten Staffel vor allem viel rumgemeckert hat, übernimmt mehr Verantwortung, als sie sich je hätte träumen lassen. Alle haben sie auf ihre Weise (zumindest für eine gewisse Zeit) Freude daran.
Zum Glück für die Serie geht es nicht allen so. Carmy und Sydney als Küchenchefs machen am wenigsten Veränderung durch. Das, obwohl sie unter allen die besten Voraussetzungen dazu hätten. Sydney einerseits wegen ihres Vaters, der sie auch unterstützen würde, wenn sie der Sterneküche Adieu sagen würde, andererseits wegen ihrer Sozialkompetenz.
Und Carmy, weil er im Laufe der Serie immer mehr Möglichkeiten bekommt, sich nicht wie ein Leistungsträger, sondern wie ein Mensch mit einem Leben neben der Arbeit zu verhalten. Aber alle scheinen an Carmy und Sydney vorbeizuziehen und sich weiterzuentwickeln. Nur die beiden treten auf der Stelle, in ihrer Restaurantküche, und der Weg, der immer weiter nach oben zu führen scheint, ist auf einmal düster wie eine Kellertreppe.
Gefilmt ist das alles mit einer ebenso perfektionistischen Liebe fürs Detail, wie das Arrangement des Drehbuchs es vermuten lässt. Und nein, jetzt kommt kein Loblied auf die beruhigende Wirkung, die es haben kann, wenn jemand gekonnt eine Karotte schneidet.
Bei den Bildern spielt, wie so oft, das Licht eine tragende Rolle. Die Küche des Sandwichschuppens ist in einen grüngrauen Lichtschimmer getaucht, mit der zweiten Staffel, als die Belegschaft und Carmy dem Traum von einem Sternerestaurant näherrücken, wird es immer gelber. Gelber ist wärmer. Ausserdem sind die Bilder in «The Bear» von einem wunderschönen Soundtrack begleitet, der sogar dann noch überrascht, wenn R.E.M. auftaucht.
Aber die beste Entscheidung der Regie in «The Bear» ist es wohl, den Menschen irre nah aufs Gesicht zu filmen, wenn es drauf ankommt.
Es gibt kaum Totalen, also Aufnahmen, in denen man die Menschen mit ihrer Umgebung sieht, zumindest nicht in der Küche. Das vermittelt uns nicht nur, wir seien direkt dabei, sondern ist auch konsequent – in der Küche sind alle auf engem Raum nah beieinander. Es erlaubt uns auch, wie Voyeure in die interessanten Gesichter dieses Casts einzutauchen: die zitternden Lippen von Carmy ungeniert anzustarren, wenn er mal wieder mit der Fassung ringt; die grossen Augen seiner Souschefin Sydney, die besonders gut entsetzt dreinschauen kann; den Flaum auf der Oberlippe von Carmys College-Freundin Claire (Molly Gordon), während die beiden im Auto sitzen und austesten, was sie noch füreinander empfinden.
Wir sehen die Menschen so, wie Menschen einander sehen, wenn sie keinen Raum zum Ausweichen haben, entweder, weil kein Platz ist, oder, weil sie keinen Ausweichraum haben wollen. Es ist die Realität. Nur dass sie in «The Bear», auch wenn sie ein bisschen fettig oder fertig ist, immer noch ziemlich schön aussieht.