Herzlich willkommen? Lassen Sie sich nicht täuschen. Das Empfangskomitee von «The White Lotus».

Der Preis Ihrer Ferien

Falls Sie gerade lieber in einem paradiesischen Urlaubsresort wären als im grauen Schweizer November: Schauen Sie diese zwei Serien an. Vielleicht überlegen Sie es sich dann noch mal.

Von Murièle Weber, 08.11.2021

Im Licht der untergehenden Sonne schippert eine luxuriöse Jacht dem Landesteg eines hawaiianischen Ferienresorts entgegen. Louis Armstrong singt: «Auf einer Kokosnussinsel / wär ich gern mit dir verschollen /Auf einer Kokosnussinsel / würden unsere Träume wahr». Ukulele, Vibraphon, Trompete. Auf dem Schiff befinden sich acht Gäste des exklusiven Resorts White Lotus. Am Pier warten bereits die Angestellten, strahlend und (äusserlich) enthusiastisch. Sie empfangen die Gäste unter einem üppigen Blätterdach mit Blumenketten und Erfrischungs­tüchern, bevor die Ankömmlinge in Golfwagen zu ihren Luxussuiten gefahren werden.

Falls die Urlaubs­sehnsucht Sie bereits wieder plagt: Zwei US-Serien aus diesem Spätsommer, die sich beide dem Sehnsuchtsort «Ferien­resort» widmen, lohnen gerade jetzt einen genaueren Blick (vielleicht noch mehr als im Sommer selbst) – «The White Lotus» und «Nine Perfect Strangers». Natürlich handeln sie, wie eigentlich alle Urlaubs­fantasien, vom Eskapismus. Oder eher: von der Hoffnung darauf. Wann macht das mehr Spass als jetzt?

Zu den Serien

«The White Lotus». Miniserie, USA 2021. Streaming via Sky oder Amazon Prime.

«Nine Perfect Strangers». Miniserie, USA 2021. Streaming via Amazon Prime.

Allerdings: Wer glaubt, diese Serien gönnten ihren Zuschauern nach den Prüfungen der Pandemie eine wohlverdiente paradiesische Auszeit, der irrt gewaltig. Worum es hier nicht geht, ist Belohnung.

Der Grundgedanke (der zur realen Geschichte von Ferienresorts gehört, dazu später mehr) ist vielmehr die Rück­verwandlung von kaputten Besuchern in funktionierende Mitglieder der Gesellschaft. Auf die heutige Zeit übertragen, lässt sich das vielleicht am besten übersetzen mit «Raus aus der Jogginghose!»: das Ferienresort nicht als Ort der Sehnsucht, der es vorgibt zu sein (und vielleicht gar nie war). Sondern als perfides Rädchen in einem kapitalistischen System, das nur noch ein Ziel kennt: Produktivität.

Besonders krass illustriert diese Zwecksetzung «Nine Perfect Strangers», eine Produktion des US-Streaming­anbieters Hulu. Die magere blonde Masha (gespielt von Nicole Kidman), die in ihrem ersten Leben Geschäftsfrau in Russland war, empfängt neun Menschen im Waldresort «Tranquillum House» – einem luxuriösen Anwesen mit viel Holz und Glas, grosszügigen Zimmern, besonders weichen Betten und natürlich einem grossen Infinity-Pool. Der perfekte Ort also für Yoga, ayurvedische Kost und viel Schlaf – doch davon werden die Gäste nichts bekommen.

Sie alle haben nämlich eine mehr oder weniger komplizierte Vorgeschichte, und Masha soll ihnen auf ihre ganz eigene Art dabei helfen, diese zu überwinden. Ein ehemaliger Football-Star (Bobby Cannavale) ist drogenabhängig. Ein Elternpaar hat einen Sohn durch Suizid verloren. Die Lotto­millionäre Jessica und Ben leiden an der Sinnlosigkeit ihres arbeitsfreien Lebens. Eine Starautorin schliesslich (Melissa McCarthy) kann plötzlich nicht mehr schreiben. Als die Autorin Masha fragt, was sie hier erwartet, ist die Antwort: «Leiden!».

In der ersten Folge erklärt Guru Masha der versammelten Gruppe im Meditations­zelt das Programm: «In zehn Tagen werdet ihr uns wieder verlassen, nicht mehr als die Person, die ihr jetzt seid, sondern gesünder, leichter, freier. Am letzten Tag werdet ihr zu mir kommen und sagen: Masha, du hattest recht.»

Wenn nichts mehr hilft: Todesangst

Wie sie das erreichen will? Durch das Verbot von Zucker und Alkohol, die (vorher nicht abgesprochene) Verabreichung von illegalen Drogen, Aktivitäten wie das Ausheben des eigenen Grabes. Wenn all das nicht mehr hilft, lässt sie die Gäste glauben, sie würden bei lebendigem Leib verbrannt: Sie werden kurzerhand in einen Raum gesperrt, in den Masha Rauch hineinblasen lässt. Was könnte sie motivieren, sich zu ändern, wenn nicht Todesangst?

Es spielt keine Rolle, was nötig ist, ob es legal ist oder illegal oder blanker Psychoterror. Hauptsache, die Leute verlassen das Resort wieder als produktive Menschen. Natürlich geben die Gäste für das Privileg dieser Kur eine Stange Geld aus. Der heimliche Star der Serie ist McCarthy als blockierte Schriftstellerin; wie sie die zerbrechliche Verzweiflung ihrer Hauptfigur langsam in aufkeimende Hoffnung überleitet, ist unheimlich berührend.

«Nine Perfect Strangers» treibt die Vorstellung auf die Spitze, dass nur Wert hat, wer sich als produktives Mitglied in die Gesellschaft einbringen kann: Wer «gesund» werden will (auch wenn er oder sie gar nicht «krank» im eigentlichen Sinne ist), muss sich Masha voll und ganz unterwerfen. Geh weg und tue, was immer du tun musst, um als nützliches Wesen zurückzukommen – oder komm erst gar nicht wieder. Diese Philosophie ist dem amerikanischen Resort quasi in die Seele geritzt.

Um zu verstehen, wie Ferienresorts zu Orten des sündhaft teuren Perfektions­strebens werden konnten, hilft ein Blick in ihre Geschichte.

Ferienresorts (vom englischen resort, Ausweg oder Zuflucht) hatten Tradition in der amerikanischen Kultur, schon lange bevor sie in den Siebziger- und Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts durch Filme wie «Dirty Dancing» weltberühmt wurden. Bereits im 18. Jahrhundert entstanden in der Nähe von heissen Quellen (oder besonders schönen Stränden) erste Hotels, die Reisende aus der Umgebung empfingen, schreibt Cindy Sondik Aron in ihrem Buch «Working at Play: A History of Vacation in the United States». Damit orientierten sich die Amerikaner an der beginnenden Tourismus­industrie Europas. Dort war es als Nebeneffekt der Industrialisierung in England bereits zur Gewohnheit geworden, dass sich erschöpfte Bürger der Ober- und Mittelschicht am Meer eine Auszeit von den versmogten Städten gönnten. Möglich wurde das auch durch die Ausbreitung der Eisenbahn Mitte des 19. Jahrhunderts.

Die, die faulenzen, beten und arbeiten

Unterstützt wurde dieser Trend durch die Empfehlungen von Ärzten, die für unzählige körperliche und seelische Leiden das Baden im Meer oder einer heissen Quelle verordneten. Es entstanden weitläufige Hotel­anlagen, die ihren Gästen allerlei weltliche Ablenkungen vom harten Alltag boten, von Restaurants über Parks und Sportangebote bis hin zu Bars und Theatern: ein in sich geschlossener Kosmos der Erholung, den man gar nicht mehr verlassen musste. Alle Bedürfnisse wurden ja bereits abgedeckt in einem geschützten Raum – dem Resort. Da die Mühen des Alltags sorgsam ausgesperrt waren und die Menschen ungeniert in Badekleidern herumliefen – die Geschlechter mischten sich zwanglos –, geriet das Resort allerdings schnell in Verruf: Es wurde zum Synonym für erotische Eskapaden. Viele Bürgerinnen aus dem Mittelstand zelebrierten dort eine Enthemmtheit, die in ihrem puritanischen Alltag nicht möglich war. Vor allem aber – die weit schwerwiegendere Sünde – wurde im Resort dem Nichtstun gefrönt.

Nach Ihrem Aufenthalt werden Sie ein anderer Mensch sein: Nicole Kidman als Gastgeberin in «Nine Perfect Strangers».

Als Reaktion darauf entstanden zwei Gegenentwürfe. Einerseits wurden Erholungsorte in Weiterbildungs­anstalten verwandelt. Dahinter stand die viktorianische Idee der Selbst­optimierung. Man sollte sich in den Ferien bloss nicht ans Nichtstun gewöhnen. Andererseits gründeten religiöse Organisationen «sittliche» Anlagen, in denen die Gäste sicher waren vor der Vermischung der Geschlechter, vor Ausschweifungen und weltlichen Versuchungen. Allen drei Konzepten des Ferienresorts war jedoch der Grund­gedanke gemein, dass sich die Leute an einen anderen Ort begeben und dort eine Weile aufhalten sollen, um dann als gestärkte Mitglieder der Gesellschaft zurückzukehren in ihr altes Leben: produktiver als je zuvor.

Das Ferienresort als Ort, wo leidende, ausgebrannte oder kranke Menschen wieder produktiv gemacht und quasi «repariert» werden, fand im 20. Jahrhundert in zahlreichen Versionen Eingang in die Film- und Fernseh­industrie. Einen bleibenden Eindruck hat die Serie «Fantasy Island» in den Siebzigerjahren hinterlassen. Interessant an dieser Serie war unter anderem, dass dort im Hintergrund stets gut aussehende, braun gebrannte Menschen zu sehen waren, als gehörten sie zum Inventar: die Angestellten. Davor wurden diese in filmischen Darstellungen von Resorts meist übersehen, genauso wie ihre Arbeitsbedingungen. (Eine erste Überlegung zum Los der Angestellten unternahm die Serie «Westworld», in der sich die misshandelten Bediensteten eines Vergnügungs­resorts zum Aufstand formieren und grausam an den Gästen Rache nehmen.)

«Nine Perfect Strangers» erscheint in dieser Hinsicht als besonders realitätsfremd. Im ganzen Resort sind überhaupt nur drei Angestellte sichtbar, die (so will uns die Serie weismachen) alles übernehmen: Kochen, Putzen, Meditationen, die Zubereitung des Drogen­cocktails, Spa-Treatments, Psychoterror – alles. Und nebenbei freunden sie sich auch noch mit den Gästen an. So entsteht der Eindruck einer wahren Utopie – zu Hause bei Freunden –, in der die Angestellten Vertraute der Gäste sind. Und eben nicht: unterbezahltes und ausgenutztes Personal.

Und die, die die Drecksarbeit machen

Bedeutend näher an der Realität ist da die HBO-Satire «The White Lotus». Das Resort ist hier nicht nur ein exotischer Ort, an dem Gäste ihre Wunden heilen, um wieder produktiv werden zu können. Es steht auch immer die Frage im Raum, wer die Arbeit leistet – emotional und physisch –, die es den Gästen überhaupt möglich macht, wieder produktiv in ihr Leben zurückzukehren. Und wer dafür den Preis bezahlt.

Der Resortmanager Armond erklärt seiner Praktikantin Lani gleich zu Beginn der Serie die Philosophie des Angestellten­tums im Paradies: Sei unsichtbar. Während die Gäste noch dem Resort White Lotus entgegentuckern, beugt er sich verschwörerisch zu ihr hinüber mit den Worten: «Zeig bloss keine Anflüge einer eigenen Identität. Sei generisch. Weisst du. Wie Japaner, die hinter ihren Masken verschwinden – als austauschbare Helfer. Es ist wie ein tropisches Kabuki, das wir hier veranstalten. Unser Ziel ist es, einen generellen Eindruck von Vagheit zu vermitteln, wobei die Gäste alles bekommen, was sie wollen – obwohl sie weder wissen, was sie wollen, noch welcher Tag es ist, wo sie sind, wer wir sind oder was hier überhaupt abgeht.»

Die Gäste des Resorts White Lotus sind die Mossbachers, eine dysfunktionale Familie mit einer extrem erfolgreichen Mutter, einem hypochondrischen Vater, einer verwöhnten Tochter, deren Freundin Paula und dem Aussenseiter­sohn Quinn. Dann ist da das frisch vermählte Ehepaar Shane und Rachel, das auf der Insel die Flitterwochen verbringt (und sich erst da richtig kennen lernt). Und schliesslich Tanya, die auf der Insel die Asche ihrer toten Mutter verstreuen will.

Anders als in «Nine Perfect Strangers» tritt das Service­personal in «The White Lotus» nicht in den Hintergrund, sondern besteht aus ausgearbeiteten Charakteren, die an ihrem stressigen Job und den Erwartungen der Gäste langsam scheitern. Gerade die Art, wie die Serie das Gefälle zwischen Angestellten und Touristen aufgreift, ist ihre grosse Stärke: Ein Resort ist auch ein Ort, an dem sich die Oberen und die Unteren auf eine Weise mischen, wie es sonst wo kaum passiert. Die Gemeinschaft auf Zeit verdammt sie dazu, für einige Tage oder Wochen in intimen Interaktionen zu funktionieren, bei Massagen, Badezimmer­reinigungen, Gefühlsausbrüchen.

Was Lani, die Praktikantin, noch nicht weiss: Der Tipp, sich unsichtbar zu machen, ist nicht in erster Linie zum Vorteil der Gäste, sondern dient vor allem dem Schutz der Angestellten.

Wer zahlt, schafft an. Der Rest geht kaputt

Den Resortmanager Armond zum Beispiel belastet die Fehde mit Shane, dem Frischvermählten, einem Narzissten, der seine Frau systematisch terrorisiert. Shanes Mutter hat ihm die Honeymoon-Suite gebucht, aber jetzt steckt der Frischvermählte in einer «normalen» Suite ohne eigenen Pool fest. Weil er meint, ihm stehe Besseres zu, verfolgt er Armond wie ein quengelnder Zweijähriger. Anstatt sich wie üblich hinter einer Maske der Vagheit zu verstecken und die Losung hochzuhalten, den Gästen alles zu geben, was sie wollen, geht Armond auf den Zweikampf ein. Er schleicht sich schliesslich in die Suite des Gastes, um sich da auf dessen eleganten Kleidern zu erleichtern (als Zuschauerin feiert man Armond dafür).

Weniger zur Wehr setzen kann sich Spa-Managerin Belinda, die in die Rolle der guten afroamerikanischen «Mammy» gerät, die sich als Bedienstete für ihre Arbeitgeber aufopfert. Sie erbarmt sich der trauernden Tanya, führt aufwendige Massagen an ihr durch, unterstützt sie emotional beim Verstreuen der Asche ihrer Mutter, geht mir ihr essen und bringt die völlig betrunkene Frau schliesslich sogar ins Bett. Zum Dank will ihr Tanya einen eigenen Spa finanzieren. Belinda ist so gerührt ob dieser Geste, dass sie prompt einen Businessplan für die Finanzierung ausarbeitet. Wie das ausgeht, kann man sich denken.

Wir wollen nur Ihr Bestes, wirklich! Spa-Managerin Belinda (Natasha Rothwell) …
… Praktikantin Lani (Jolene Purdy) und Hotelmanager Armond (Murray Bartlett) in «The White Lotus».

Das Unglück der Angestellten macht das Glück der Gäste erst möglich, diese perfide Abhängigkeit macht «The White Lotus» besonders gut sichtbar. Tanya findet durch Belindas aufopfernde (und sie selbst völlig zerstörende) Fürsorge den Mut, sich auf eine neue Beziehung einzulassen, und verlässt die Insel in Begleitung eines neuen Beaus. Die zerstrittenen Mossbachers rücken als Familie durch den Diebstahl eines Angestellten wieder näher zusammen, genauso wie das frisch vermählte Paar durch den Streit mit Armond. Schlussendlich verlassen sie alle mehr oder weniger geheilt und erholt die Insel und fahren ihrem neuen, produktiven Leben entgegen.

Und wer bleibt zurück? Die erschöpften, desillusionierten und teilweise zerstörten Existenzen der ausgenutzten Angestellten. Das Resort hat sich als Rädchen im kapitalistischen System etabliert, wo passend gemacht wird, was vorher verkorkst war, und wo die unterste Schicht die Rechnung bezahlt. Die vielleicht härteste Lektion ist diese: Eine Katharsis erhält nur, wer sich den Aufenthalt im Resort auch leisten kann.

Armond, der Manager, fasst das einmal treffend zusammen, als er einen Angestellten anherrscht, der sich wegen Armonds Alkohol­sucht Sorgen macht: «Was kümmert es dich? Du verdienst hier einen Dreck. Die Resort­inhaber nehmen mich aus, und ich nehme dich aus!»

Jeder muss selbst sehen, wo er bleibt. Ausser den Gästen, versteht sich.

Zur Autorin

Murièle Weber arbeitet als freie Journalistin, Dozentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin mit Fokus auf Filmen, Serien und Popmusik. Sie war unter anderem für die Universität Zürich, die Zürcher Hochschule der Künste (ZHDK), die «NZZ am Sonntag», den «Tages-Anzeiger» und das «Filmbulletin» tätig.