Es ist okay, wenn auch Klima­aktivisten mal fliegen

Ein Klimakleber vom Gotthard wird am Flughafen Zürich heimlich fotografiert und vom «Blick» als Mexiko-Reisender blossgestellt. Warum diese Empörung verlogen ist.

Von Daniel Ryser, 30.06.2023

Vorgelesen von Egon Fässler
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Die Schweiz hat einen ersten Sommerloch-Skandal. Ein «Leser­reporter», wie man Hobby­spitzel heute offenbar nennt, fotografierte am Zürcher Flughafen den Klima­aktivisten Max Voegtli, und der «Blick» produzierte daraus umgehend eine grosse Fotobeweis-Geschichte: Der 30-jährige Klima­kleber sei gesichtet worden, wie er via Paris nach Mexiko in den Urlaub geflogen sei.

Voegtli war bekannt geworden, als er an Ostern mit anderen Aktivistinnen den Gotthard­tunnel blockierte und den bereits existierenden 16 Kilometer langen Osterstau um 3 Kilometer verlängerte, bevor er und seine Mitstreitenden von der Polizei weggetragen wurden.

«Eine neue Dimension des Klimaterrors», nannte SVP-Nationalrat Roger Köppel die Stauverlängerungs­aktion und meinte mit «Klimaterror» natürlich nicht Big Oil, wo seit Jahrzehnten für den Profit von wenigen die Lebens­grundlage von allen zerstört wird – im vollen Bewusstsein.

Machen wir uns nichts vor, wie trotz der eindringlichen Warnungen des Weltklima­rats die Macht­verhältnisse liegen: In München stufte die General­staatsanwaltschaft ganz im Sinne des SVP-Scharfmachers die Klima­aktivisten der «Letzten Generation» als «kriminelle Vereinigung» ein. Das bayerische Landes­kriminalamt soll seit Oktober 2022 Gespräche zwischen völlig unbescholtenen Vertreterinnen der «Letzten Generation» und Journalisten abgehört haben, und Menschen, die an Klima­protesten teilnehmen wollen, werden in Bayern präventiv verhaftet.

Die Verantwortlichen des Mineralöl­unternehmens Exxon wie auch der Schiffs­kapitän der Exxon Valdez erfuhren – wortwörtlich – weniger Repressalien durch die Behörden, nachdem sie 1989 in Alaska eine der grössten Umwelt­katastrophen in der Geschichte der Seefahrt verursacht hatten.

Jetzt schlägt diesen vornehmlich jungen Menschen, die sich mit friedlichen Mitteln dafür einsetzen, dass wir dringend tun, was der Weltklima­rat fordert, was auch das Klima­abkommen von Paris in Teilen fordert, in Deutschland eine Repression und Wut entgegen, als seien sie Wieder­gänger der Baader-Meinhof-Gruppe.

In der Schweiz verhält es sich mit der Wut ziemlich ähnlich. So tut die Schweizerin ja fast nichts so konsequent, wie im selbst verursachten Stau zu stehen. Ich weiss, wovon ich rede: Als ich noch Hobby­rennfahrer im Thurgau war und täglich mit meinem tiefer­gelegten Opel Corsa 1.8 16V zur Arbeit raste, liessen mich rote Ampeln im dunkel­roten Bereich drehen.

Menschen wie Max Voegtli, so lernen wir dieser Tage, gehören in den Augen der auflage­stärksten Medien­erzeugnisse «Blick» und «20 Minuten» öffentlich geächtet. Erkenntnis­gewinn aus der Story: null. Dafür Futter für Tausende rechte Trolle in den sozialen Medien. Der Klima­aktivist sei ein Heuchler, er predige Wasser und trinke Wein. Wer das Klima retten will, solle sich bitte damit begnügen, persönlich mit makel­losem Beispiel voran­zugehen. Was auch besagen will: Er soll das Klima­problem doch bitte ganz alleine lösen.

Dabei hatte Voegtli erst kürzlich im Gespräch mit der Republik folgenden, eigentlich erstaunlichen Satz gesagt: «Was man in seinem Alltag tut und nicht tut, muss jeder für sich selbst entscheiden – uns geht es immer ums System. Ich habe nichts dagegen, wenn jemand einmal für den Urlaub nach Amerika fliegt.» Also nichts von individueller Schuld, sondern System­kritik, die beachtet, dass wir alle nicht frei sind von Wider­sprüchen in dieser kapitalistischen Gesellschaft.

Warum also das öffentliche Interesse?

Der Umgang mit Max Voegtli zeigt, wo wir gelandet sind: bei der Forderung nach einem reinen Menschen ohne Wider­sprüche, ohne Fehler. Ein Anspruch, an dem wir alle letztlich scheitern werden – um dann beruhigt den Klima­aktivismus verachten zu können.

Die jungen Menschen, die mit ihren Aktionen ja in erster Linie darauf aufmerksam machen, dass sich unser System ändern muss, werden ständig darauf hingewiesen, wie kontra­produktiv ihre Aktionen seien. Wer dann Menschen wie Max Voegtli öffentlich auf diese Art und Weise outcallt und sie damit einem Twitter-Mob zum Frass vorwirft, offenbart vor allem die eigene Ignoranz. Man könnte nämlich auch konstruktiv über Voegtlis Mexiko-Flug sprechen. Tatsächlich ist das Fliegen ja ein Dilemma, mit dem sich viele Leute herumschlagen: Was soll man noch? Was kann man sich noch leisten?

Das würde aber voraus­setzen, dass man eingesteht, dass man sich selbst unzulänglich verhält. In diesem Sinne kann man eigentlich froh sein, dass auch Klima­aktivisten nur Menschen sind.

Wir könnten den Gedanken aufnehmen, den uns der WWF in einer ziemlich guten Kampagne seit einiger Zeit zu verklickern versucht: dass wir eben nicht perfekt sein müssen, um etwas für das Klima zu tun und gegen die globale Erwärmung. Dass es zwar manchmal Babysteps sind, aber immerhin Schritte. Dass man nicht gar nicht mehr fliegen soll, aber weniger. Dass man nicht ganz aufhören muss, Fleisch zu essen, aber sehr viel weniger. Dass man für die Umwelt abstimmen und wählen soll, seine Öl- und Gasheizung durch eine Solar- oder Wärme­pumpe ersetzen und den öffentlichen Verkehr benutzen soll. Dann steht man auch nicht wie der hinterletzte Depp täglich im Stau, allein im Auto.

Es ist okay, wenn Klima­aktivisten auch mal fliegen. Selbst­verständlich. Wenn sie es so tun, wie wir es alle voneinander erwarten sollten in einer kollabierenden Welt: mit Bedacht.

Die Welt ist im Wandel. Offensichtlich schaffen wir es nicht, uns von hundert auf null zu ändern, sondern schrittweise. Das gilt auch für all jene wie Max Voegtli, die sich trotz eigener Unzulänglichkeiten täglich dafür einsetzen, einen Unterschied zu machen, ohne perfekte Vorbilder zu sein. Denn es sind nicht Über­menschen, die die Klimaziele erreichen müssen, sondern wir Normalos.

Meine Opel-Karre habe ich längst nach Serbien verkauft. Geflogen bin ich in den letzten vier Jahren dreimal. Immer beruflich, und zweimal wäre der kurzfristig anberaumte Londoner Termin ohne Flug, so behaupte ich zumindest, wirklich nicht machbar gewesen. Die dritte Reise, nach Wien – dafür würde ich heute den Railjet nehmen. Ich hatte den Flug übereilig gebucht und wollte nicht wahrhaben, wie toll es sich im Railjet-Zug von Wien nach Zürich arbeiten lässt.

Daneben lachte ich selbst lange über diese veganen Ersatz­produkte mit dem grenz­debilen Argument, die Veganer wollten offensichtlich zwar kein Fleisch essen, aber offenbar wollten sie, dass alles wie Fleisch schmeckt. Bis ich realisierte, dass diese Produkte ja vor allem auf Menschen wie mich zielten, die wegen ihres geliebten Burgers nicht auf Fleisch verzichten wollten – und das heute dank Ersatz­produkten meistens problemlos können.

ETH-Professor Reto Knutti, einer der weltweit profiliertesten Klima­forscher, warf mir mal vor, wenn sich alle so verhalten würden wie ich, würden wir die Klimaziele nicht erreichen. Seither versuche ich ziemlich aktiv, meine eigene Umwelt­bilanz deutlich zu verbessern. Auch wenn mir das nicht immer gelingt. Wie einem Max Voegtli auch nicht.

Inzwischen twitterte ein Journalist fünf und vier Jahre alte Bilder, wo Klima­aktivist Max Voegtli, damals Mitte zwanzig, ein Formel-1-Rennen in Belgien besuchte oder mit einem Auto mit zwei Freunden nach Bayern fuhr (der «Blick» baute aus dem Tweet umgehend eine grosse Story). Das ist also der Vorwurf an den jungen Mann: dass er in den vergangenen fünf Jahren zum Schluss gekommen ist, dass eine andere Welt ohne Formel-1-Rennen möglich sein sollte.

Die Medien lieben die hetzerische Klick-Story, weil traffic und damit Inserate. Die kommen, und da wären wir wieder bei den Macht­verhältnissen, eher nicht von den Aktivistinnen von Renovate Switzerland, sondern bei Ringier, das den «Blick» herausgibt, gerne und regelmässig und in grossem Umfang von SVP-Politiker Walter Frey. Die Bande des milliarden­schweren Schweizer Auto­importeurs und ehemaligen Auto­rennfahrers mit dem Ringier-Verlag waren einst so eng, dass Ringier-Angestellte, also «Blick»-Mitarbeitende, zeitweise tiefere Leasing-Zinsen, Cash-Prämien und 10 Prozent Rabatt auf die Prämie beim Abschluss einer bestimmten Fahrzeug­versicherung erhielten, wenn sie bei Walter Frey ein Auto kauften.