«Wir brauchen den Klimanotstand»
Die Strassenblockaden von Klimaaktivistinnen lösen Ärger aus. Warum setzen sie auf diese Methode? Haben sie Selbstzweifel? Würden sie auch eine Pipeline in die Luft sprengen? Ein Gespräch mit den Klebern vom Gotthard.
Von Elia Blülle, Carlos Hanimann (Text) und Goran Basic (Bilder), 29.04.2023
Die Nachrichten sind voll mit Berichten über Klimaproteste. In Berlin hat die «Letzte Generation» diese Woche mehrmals Strassen blockiert und viel Ärger ausgelöst. Sie selbst landeten an Ostern prominent im «Blick», gar mit Foto und Namen auf der Titelseite. Fast alle Medien des Landes berichteten über Sie. Was genau ist da passiert?
Max Voegtli: Wir haben während 36 Minuten die Gotthardautobahn blockiert.
Daria Wüst: Es war alles sehr stressig. Ich wusste an diesem Morgen nur, dass ich mich irgendwo in der Schweiz auf die Strasse kleben würde. Ich wusste nicht, wo, wann und mit wem. Ich stand sehr früh auf, fuhr mit dem Zug los und begriff erst auf dem Weg zum Gotthard langsam, wohin wir fuhren. Da wurde die Anspannung grösser.
Sie wussten am Morgen also nicht, wo Sie sich festkleben würden?
Wüst: Nein.
Ist das nicht beängstigend?
Wüst: Nein, ich wusste ja, was ich machen würde. Ob das jetzt in Zürich ist oder am Gotthard, ist für mich nicht ausschlaggebend.
Moritz Bischof: In meinem Kopf klafft eine grosse Lücke. Ich musste unser Instagram-Live-Video nachschauen, um mich zu vergewissern, dass ich wirklich auf der Strasse klebte. Während der Blockade zitterte ich permanent. Ein Auto hinter mir hupte eine Minute lang durchgehend. Das war extrem laut. Die Leute schrien. Sehr viele Eindrücke, in sehr kurzer Zeit. Ich kann sie kaum auseinanderdröseln.
Daria Wüst, 24 Jahre alt, Molekularbiologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der ETH Zürich, war schon mehrmals an Störaktionen beteiligt, hat sich am Gotthard auf den Boden geklebt.
Max Voegtli, 30 Jahre alt, kaufmännischer Angestellter und Vollzeitaktivist bei «Renovate Switzerland», war am Gotthard für den Dialog mit den Autofahrern und der Polizei zuständig.
Moritz Bischof, 24 Jahre alt, Student an der ETH Zürich, war am Gotthard erstmals an einer Strassenblockade beteiligt und hat sich an den Boden geklebt.
Wie haben Sie die Reaktion der Autofahrerinnen erlebt?
Bischof: Sie haben geflucht. «Geht arbeiten!» Solches Zeug. Das habe ich schon oft gehört. An einem Karfreitag ist das schon fast wieder lustig.
Wüst: Das war nicht meine erste Aktion. Ich wusste, was auf mich zukommt. Aber so viel Aggressivität wie am Gotthard habe ich noch nie erlebt. Ich kann verstehen, dass die Menschen wütend werden. Wirklich. Aber in diesem Ausmass? Es war schockierend. Ein Auto hinter Moritz und mir fuhr ganz nah ran und liess den Motor immer wieder aufheulen. Es war das erste Mal, dass ich mich bei einer Aktion fragte: Was, wenn der nicht bremst? Ich hatte Angst.
Warum sind Sie nicht sofort weggelaufen? Sie waren ja noch nicht festgeklebt.
Wüst: Auf keinen Fall!
Voegtli: Das ist das Schlimmste, was man machen kann. Wenn Daria die Kette verlässt, bringt sie Moritz in Gefahr, weil die Autofahrer sofort versuchen, sich durch die Lücke zu quetschen. Sehr gefährlich.
Warum, glauben Sie, regen sich die Menschen dermassen über Sie auf?
Voegtli: Für sie ist die Blockade das Schlimmste, was ihnen in diesem Moment passieren kann.
Wüst: Wenn die Leute im Stau sitzen, sehen sie den Zusammenhang der Blockade und der Klimakrise nicht. Sie sehen in diesem Moment nicht, dass es ums grosse Ganze geht. Wir sitzen da, weil die Erde brennt – und nicht, weil wir die Autofahrer persönlich angreifen wollen.
Der Zusammenhang ist auch nicht einfach zu erkennen: Sie nerven unbescholtene Bürger, die sich ein paar freie Tage im Tessin gönnen.
Voegtli: Das stimmt. Und das ist unschön. Aber sie sind nicht die Einzigen, die wütend sind. Ich bin auch wütend.
Aber diese Leute tragen doch keine Schuld.
Voegtli: Die Autofahrerinnen sind nicht schuld, aber die Klimakrise betrifft sie. Sie werden leiden. Wir werden leiden. Frankreich erlebt gerade eine dramatische Dürre. Italien auch. Die Menschen leiden. Aber wir tun so, als ob das nicht so wäre.
Wüst: Die Leute haben vielleicht hart gearbeitet, und sie würden sich das freie Wochenende verdienen. Aber wir alle verdienen es auch, in einer Welt zu leben, in der man noch ins Tessin reisen kann. Wir rasen in eine Klimahölle, und es ist an der Zeit, dass wir das realisieren. Es tut mir wirklich aufrichtig leid, diese Leute zu stören. Sie dürfen in diesem Moment wütend sein. Das ist okay.
Sie werden angebrüllt, geschubst, getreten. Aus dem Ausland kennt man Videos, in denen Klimaaktivistinnen Opfer physischer Gewalt werden. Macht Ihnen das Angst?
Wüst: Mir war es schon ein wenig mulmig, als mein Name, Alter und Beruf überall in den Medien kursierten. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie viele Mails ich erhielt. Ich hatte im ersten Moment Angst, dass der hate eskalieren könnte, es zu viel wird. Aber: Ich stehe zu der Aktion. Ich bereue nichts. Ich werde es wieder tun.
Was stand in den Mails, die Sie bekamen?
Wüst: Gleich am Freitag oder am Samstag kamen etwa zwanzig, dreissig Mails, in denen es immer wieder hiess, ich solle mir einen Job suchen. Irgendwie witzig, weil sie mir ihre Nachricht an meine Arbeitsadresse schickten. Ab Montag habe ich dann aufgehört zu lesen. Die Inhalte wiederholten sich nur noch. Eine Mail fand ich heftig. Der Absender schrieb, er sei gegen Abtreibung, aber in meinem Fall wäre es ein blessing für die Menschheit gewesen.
Lässt Sie das kalt?
Bischof: Nein. Ich habe schon Respekt – zum Beispiel wenn ich lese, dass Personen meine Wohnadresse im Internet veröffentlichen wollen.
Gleichzeitig exponieren Sie sich selbst sehr stark, kommunizieren in den Medienmitteilungen Name, Foto und Beruf.
Wüst: Wir stehen dazu, was wir machen. Wir sind ganz normale Menschen, die Angst haben um ihre Zukunft. Wir wollen, dass die Leute sich mit uns identifizieren können. Schaut uns an: Wir sind doch keine abgedrifteten Verschwörungstheoretikerinnen.
Bischof: Wir sind nahbarer, wenn wir mit unserer Identität zu den Blockaden stehen. Die Leute sehen: Ah, der ist wie ich.
Dann erzählen Sie uns mehr von Ihnen. Wie oft denken Sie im Alltag an die Klimakrise?
Voegtli: Jeden Tag.
Gibt es Momente, in denen Sie nicht daran denken?
Wüst: Wenn ich mich im Labor mit Molekülen beschäftige, Proteine isoliere, sehe, dass das alles so unbedeutend winzig und doch so faszinierend ist. Dann ist mein Kopf völlig frei, alles dreht sich in diesem Moment nur um eine Zelle und nicht ums grosse Ganze.
Voegtli: Ich habe eine Saisonkarte vom FC Basel. Einmal pro Woche ins Stadion, einmal daheim, einmal auswärts, zwei Stunden rumschreien, alles rauslassen. Ich brauche solche Momente, sonst ginge ich unter.
Bischof: Manchmal erdrückt mich das alles. Ich komme nicht davon los. Und da ist es dann schon entspannend, wenn man für ein paar Stunden so tun kann, als würde das alles nicht existieren, als hätten wir eine normale Jugend, ein normales Erwachsenenalter, wo man sich nicht mit der Klimakrise auseinandersetzen muss.
Was wollten Sie werden, als Sie noch Kinder waren?
Wüst: Das, was ich jetzt bin: Molekularbiologin.
Voegtli: Ich wäre gern für Greenpeace auf das Schiff Rainbow Warrior. Dann überzeugte mich aber mein Vater, etwas Vernünftiges zu machen.
Hat Sie die Klimakrise von Zukunftsplänen abgehalten?
Wüst: Letztes Jahr habe ich meinen Master abgeschlossen und wollte direkt doktorieren. Doch dann habe ich die Berichte des Weltklimarates IPCC gelesen und mich damit auseinandergesetzt. Deswegen arbeite ich derzeit nur als wissenschaftliche Assistentin. Weil ich nicht glaube, dass wir eine Zukunft haben, wenn es so weitergeht. Wozu doktorieren, wenn es keine Perspektive gibt?
Voegtli: Ich bin dreissig, habe acht Jahre in grossen Firmen gearbeitet, machte Karriere. Dann habe ich vor zwei, drei Jahren angefangen, mich mit der Klimakrise zu beschäftigen. Ich wechselte den Job. Engagierte mich auf der Arbeit für mehr Nachhaltigkeit. Aber ich sah auch in meiner neuen Rolle die Differenz zwischen dem, was geredet, und dem, was getan wird. Da fing ich bei «Renovate Switzerland» an und fand: Die machen was. Kein Blabla.
Bischof: Nein. Ich habe ein gutes Gleichgewicht gefunden mit dem Teilzeitstudium. Ich bin froh, zweigleisig fahren zu können.
Was hat Sie politisiert?
Voegtli: Ich habe Politik studiert. Ich war schon immer politisch, ich las Karl Marx mit vierzehn Jahren …
Wüst: Ich würde mich nicht als politisiert bezeichnen. Es gab auch nicht den einen Moment. Es gab politische Menschen in meinem Umfeld. Und dann habe ich den Gardasee gesehen. Wie ausgetrocknet er ist.
Wo verorten Sie sich politisch?
Wüst: Der Kampf für eine klimagerechte Zukunft ist keine politische Frage. Ja, wahrscheinlich bin ich links. Aber es geht ums Überleben. Das sollte im Interesse des ganzen Spektrums sein und nicht nur in dem von einer Partei. Es sollte auch das Ziel der SVP sein, ein kollektives Sterben zu verhindern. Ich sehe mich nicht als politisch aktiven Menschen. Ich will einfach überleben.
Wie konsequent müssen Sie in Ihrem Privatleben sein? Erlauben Sie sich zum Beispiel das Fliegen?
Voegtli: Nein, aber ich werde dieses Jahr nach China fliegen, um meinen Vater zu beerdigen. Was man in seinem Alltag tut und nicht tut, muss jeder für sich selbst entscheiden – uns geht es immer ums System. Ich habe nichts dagegen, wenn jemand einmal für den Urlaub nach Amerika fliegt.
Bischof: Ich habe das lange nicht mehr gemacht, aber ich finde auch, es darf Ausnahmen geben, um beispielsweise seine Familie zu besuchen.
Sie wollen, dass die Klimakrise als systemische Krise begriffen wird. Stattdessen ernten Sie Ärger.
Wüst: Die Aktionsform hat viele Gegner. Uns ist das bewusst. Wir müssen auch nicht alle Bürgerinnen auf unsere Seite ziehen. Wir sind nicht hier, um geliebt zu werden. Wir müssen ungefähr ein Prozent der Bevölkerung mobilisieren, um genügend politischen Druck zu erzeugen, damit der Bundesrat und das Parlament zum Handeln bewegt werden.
Glauben Sie, Sie mobilisieren mit Blockaden Zehntausende Menschen?
Voegtli: Hundert Prozent.
Wüst: Definitiv. Weil wir so radikal sind – ich mag das Wort übrigens nicht –, öffnen wir den Raum für weiterführenden Aktivismus. Die Menschen sehen, dass wir uns vor Autos setzen, wahnsinnig viel riskieren und in Kauf nehmen, dafür verurteilt zu werden. Das kann sie motivieren, ihre Passivität abzulegen und zum Beispiel Unterschriften zu sammeln.
Momentan geschieht etwas anderes: SVP-Politiker haben sich bei Ihnen für die gute Abstimmungs- und Wahlhilfe bedankt.
Bischof: Ja, das kommt immer …
Es beschwerten sich auch Leute, die Sie zu den Verbündeten zählen müssten, die zum Beispiel das Klimaschutzgesetz unterstützen.
Bischof: Ziviler Ungehorsam gehört in einer gesunden Demokratie dazu. Wir können nicht auf alles Rücksicht nehmen: Es steht immer eine Wahl oder Abstimmung an, die gegen eine Strassenblockade spricht.
Geraten Sie ins Zweifeln, wenn Sie von Leuten kritisiert werden, die Ihre Anliegen grundsätzlich befürworten?
Wüst: Ich frage mich immer wieder: Kommen wir mit diesen Aktionen ans Ziel? Und wenn nicht so: wie dann? Mir ist bis heute nichts Besseres eingefallen. Wir müssen laut sein. Und es ist traurig, aber wahr: Laut ist man nur durch zivilen Ungehorsam.
Bischof: Wenn mir auf Twitter und in den Kommentarspalten eine Flut von Wut entgegenschlägt, frage ich mich schon, ob wir genügend Leute mobilisieren. Aber ich habe noch immer von keiner anderen Methode gehört, die im Moment effektiver wäre als der zivile Ungehorsam.
Sehen Sie sich als Märtyrer?
Voegtli: Märtyrer ist ein grosses Wort – aber ziviler Ungehorsam bedeutet, dass man bereit sein muss, etwas zu opfern. Alle, die sich an einer Blockade beteiligen, absolvieren eine Schulung, bei der sich alle überlegen müssen, mit was für finanziellen, beruflichen, familiären und juristischen Konsequenzen sie rechnen müssen.
Wie weit sind Sie zu gehen bereit? Gefängnis?
Voegtli: Ja.
Bischof: Ja.
Wüst: Ja.
Länger als 48 Stunden?
Voegtli: Ja.
Bischof: Ja.
Wüst: Ja.
Würden Sie in einen Hungerstreik treten?
Bischof: Ja.
Wüst: Ja.
Voegtli: Ja, aber ich wäre wohl unglaublich schlecht darin.
Einen Farbanschlag begehen?
Voegtli: Ja.
Bischof: Ja.
Wüst: Ja.
Eine Pipeline in die Luft sprengen?
Bischof: Nein.
Wüst: Nein.
Voegtli: Nein.
Sie haben gezögert, Max. Weil Sie es auf Band sagen?
Voegtli: Nein. Uns ist Gewaltlosigkeit unglaublich wichtig. Ich würde nie etwas machen, was einem Menschen oder der Erde schadet. Eine Pipeline zu sprengen, würde für mich dieses Gebot verletzen.
Es gibt also Dinge, die Sie auch zum Zweck des zivilen Ungehorsams nicht tun würden?
Wüst: Verbale und physische Gewalt. Für mich wäre auch Sachbeschädigung schon zu viel.
Voegtli: Gewalt gegen Menschen.
Bischof: Für mich gehören gewisse Arten der Sachbeschädigung noch zu gewaltfreiem zivilem Ungehorsam. Aber man muss wirklich ausschliessen, dass dabei Menschen zu Schaden kommen.
Würden Sie SUV-Reifen aufstechen?
Voegtli: Aufstechen, nein. Luft herauslassen, ja.
Bischof: Im Prinzip schon. Das schadet ja keinem Menschen.
Vertrauen Sie eigentlich auf die Demokratie?
Voegtli: Ich weiss, was eine Autokratie ist und was es heisst, in einer Autokratie zu demonstrieren. Ich bin in China aufgewachsen. Unsere Demokratie ist eine wunderbare Sache. Wir haben tolle Politikerinnen und Politiker, die auf ihre Art etwas unternehmen möchten – fast auf allen Seiten. Aber unsere Demokratie ist nicht für solche Krisensituationen gemacht.
Warum nutzen Sie nicht die direktdemokratischen Instrumente wie Initiativen? Wenn Sie das vor vier, fünf Jahren getan hätten, würden wir heute darüber abstimmen.
Bischof: In meinem Fall ist die Antwort einfach: Mir ist die politische Partizipation verwehrt. Ich bin Deutscher.
Wüst: Es gab Initiativen, die hätten etwas bewirken können. Es gab das CO2-Gesetz, die Pestizidinitiative, die Massentierhaltungsinitiative. Das waren Riesenchancen für den Umweltschutz, für die Bekämpfung der Klimakrise. Alle abgelehnt.
Verstehen wir Sie richtig: Weil Sie Ihre Anliegen auf demokratischem Weg nicht erreicht haben, versuchen Sie es mit zivilem Ungehorsam, weil Sie da nur 1 Prozent der Bevölkerung brauchen?
Voegtli: Drei Punkte. Erstens: Was wir machen, ist demokratisch. Wir machen Politik. Zweitens: Ich mache nicht nur Blockaden und Demos. Ich gehe auch Unterschriften sammeln. Ich unterstütze das. Aber meine Kritiker sehe ich offen gesagt nur selten beim Unterschriften sammeln. Und drittens: Wir sind mitten in einer Krise. Um eine Million Häuser zu isolieren, ist eine Volksinitiative nicht geeignet. Wir würden jahrelang diskutieren, und dann ist es zu spät. Deswegen braucht es die Ausrufung des Klimanotstands.
Bischof: Ich glaube, von hundert Personen, die auf uns reagieren, denken sich einige: Jetzt höre ich mir halt mal einen Vortrag von denen an. Oder die Leute sind relativ schnell in die Bewegung eingebunden. Unser Ziel ist es, dass wir rasch eine exponentielle Kurve erreichen und jeden Monat mehr Leute mobilisieren.
Sie sagten vorhin selbst: Die Zeit drängt. Was, wenn die Sympathien nicht exponentiell steigen?
Bischof: Es kann sein, dass unsere Kampagne das Ziel nicht erreicht. Aber es gibt viele andere, ähnliche Kampagnen, die funktionieren.
Wüst: Man sieht es in Deutschland mit der «Letzten Generation». Die gibt es schon länger als uns, und sie haben grosse Kapazitäten. Fast täglich gehen sie auf die Strasse. Da ist man als Politiker irgendwann gezwungen, zu handeln, wenn man das Beste für sein Volk will.
In der Schweiz reicht aber nicht nur eine Politikerin, sondern es braucht immer die Stimmbevölkerung. Und die hört Ihnen nicht zu.
Wüst: Ja, wir brauchen noch viel mehr Leute, die mit uns auf die Strasse gehen. Damit man uns definitiv nicht mehr ignorieren kann.
Voegtli: Mein Bruder beispielsweise ist nicht unbedingt klimafreundlich. Aber er ist ein guter Bürger. Als die Corona-Pandemie ausgebrochen ist, hat er dem Bundesrat zugehört, als dieser sagte, wir sollten bitte alle zu Hause bleiben. Er rief mich an und sagte mir: Bleib bitte zu Hause! Es gab keine Volksabstimmung. Es gab keinen Souverän, der darüber diskutierte. Die Regierung entschied das. Und das ist der Punkt. Der Bundesrat muss den Klimanotstand ausrufen und der Bevölkerung sagen: Leute, wenn wir jetzt nicht handeln, werden Leute sterben.
Was haben die Autofahrer diesen Sommer von Ihnen zu erwarten?
Voegtli: Die Wahrscheinlichkeit ist klein, dass ein Autofahrer mit uns in Kontakt kommt. Aber wir werden auftauchen. Da und dort.
Bei der Bewegung der Indignados in Spanien gab es den Slogan: «Wenn ihr uns nicht träumen lässt, lassen wir euch nicht schlafen». Wovon träumen Sie?
Voegtli: Dass der FC Basel einmal die Champions League gewinnt. Sie sehen: Die neue Zukunft, die Zukunft meiner Träume, ist nicht krass anders. Ich fliege nicht mehr nach Spanien, sondern nehme den Zug. Ich hetze nicht jeden Tag zur Arbeit, fünf Tage die Woche. Sondern nur noch drei Tage. Die anderen Tage leiste ich Freiwilligenarbeit. Wir werden nicht in Blechhütten wohnen. Aber wir müssen uns an ein Leben gewöhnen, das sich an vernünftigen Massstäben orientiert.
Wüst: Schwierig. Ich glaube, ich habe so viel Zeit damit verbracht, zu realisieren, was auf uns zukommt, wenn wir nicht handeln, dass ich gar kein Wunschbild von der Zukunft mehr habe. Ich habe mich damit abgefunden, dass es nicht so schön rauskommen wird.
Das ist traurig, dass die Krisensituation so viel Platz eingenommen hat, dass Sie nicht mehr träumen können.
Wüst: Ich habe schon Hoffnungen, sonst würde ich gar nichts mehr machen. Aber man hat es bei der letzten Klimakonferenz gesehen: Ganz Afrika ausgedörrt, Europa auch. Was tut man? Wir schicken Geld, statt wirklich zu handeln. Aber was ich gerne für mich noch machen würde: eine Safari. Das habe ich einmal mit meinen Eltern gemacht. Das wäre cool.
Wollen Sie Kinder?
Voegtli: Ja, klar.
Bischof: Ich glaube, generell ja. Aber mit dieser Zukunftsperspektive? Ich könnte es nicht verantworten. Ich bin aber auch nicht in einer Lebensphase, wo das schon eine ernsthafte Diskussion wäre.
Wüst: Nein. Ich war nie grosser Kinderfan, das muss ich fairerweise sagen. Aber ich fände es auch nicht ehrlich, in diese Welt ein Kind zu setzen.
Das klingt alles sehr düster.
Wüst: Ich frage mich immer wieder: Daria, übertreibst du nicht vielleicht? Aber dann lese ich den nächsten Klimabericht und muss sagen: Nein, ich übertreibe nicht. Und wenn man das einmal realisiert, dann ja …
Voegtli: Ich habe Hoffnung. Ich bin optimistisch. Wenn ich das nicht wäre, würde ich jetzt dreimal um die Welt fliegen, weil wir in fünf Jahren eh alle tot sind. Ich bin sehr optimistisch, sonst würde ich mich nicht auf die Strasse kleben. Aber es gibt tatsächlich Momente, in denen ich Angst bekomme und mir selber sage: Fuck, what if we don’t make it?