Eine Suppe für die Rezession
Inflation, steigende Mieten und Energiepreise – und nun geht auch noch der Job bei Twitter, Meta oder der CS flöten. Wer kürzertreten muss, folgt dem Beispiel des Modedesigners Wolfgang Joop. «Geschmacksache», Folge 32.
Von Michael Rüegg (Text) und Silvio Knezevic (Bild), 23.01.2023
Mein mit Abstand ungewöhnlichstes Kochbuch stammt aus der Feder von Wolfgang Joop. Der mittlerweile 78-jährige deutsche Modedesigner sieht, schönheitschirurgischen Massnahmen sei Dank, heute aus wie ein stark gelifteter und gebotoxter 78-Jähriger.
Als er noch lächeln konnte, gab er unter dem Titel «Hectic Cuisine» eine Rezeptsammlung heraus. Ein leicht exzentrisches Werk, das unverkennbar und nicht ohne Charme den arschcoolen Neunzigerjahre-Hedonismus verkörpert. Also jene Zeit, als die Horizonte weiter waren als je zuvor, wir alle wie auf Ecstasy durchs Leben tanzten und noch keine Flugzeuge in Wolkenkratzer gedonnert waren.
Die Rezepte in Joops Buch sind unterteilt in vier Kategorien: No Budget, Low Budget, Free Budget und Dinner Deluxe. Ich selber stieg damals, als mir eine Freundin dieses Buch schenkte, gerade in Windeseile aus der No-Budget-Fraktion in die Free-Budget-Sphären auf. Mit sehr seltenen Abstechern in die Deluxe-Sphären. Später stieg ich dann immer wieder mal ab. Ich pflegte stets ein Leben aus sich abwechselnden Erfolgen und Misserfolgen. Das erdet in gewisser Hinsicht. Und Joops Buch mit seinem Beigeschmack nach Boheme lieferte den Beweis, dass Glamour keine Frage des Geldes war.
Man nimmt Wolfgang Joop bei der Lektüre seine Motivation ab: dass er nicht zum Koch geboren war und sich aus purer Notwendigkeit an den Herd stellte – und weil die Frauen, die er in jüngeren Jahren datete, wohl andere Qualitäten hatten als haushälterische. Letzteres kommt in folgendem Satz zum Ausdruck: «Meine New Yorker Freundin Alke hat mir dieses Frühstück zum ersten Mal kredenzt – das war aber auch das Einzige, was sie konnte.» Ebenfalls dürfte er einst als junger, unbekannter Designer noch sehr weit weg gewesen sein von den luxuriösen Speisen, mit denen er später seinen Appetit stillte.
Persische Minizigaretten zum Dessert
Mein liebster Eintrag im Kapitel «Dinner Deluxe» ist «Kaviar Rustikal». Er ist sehr over the top. Angefangen mit Sätzen wie «Sodann lasse man die rückseitige Anleitung von der französischen Hausangestellten oder auch dem Au-pair-Mädchen studieren und es auf einen Versuch ankommen». Das geht natürlich alles heute nicht mehr, genauso wenig wie die Angabe auf der Zutatenliste: 1 kg iranischer Kaviar. Als in Teheran die ersten Kopftücher fielen, war das Kaspische Meer längst leergefischt.
Damit die Sache etwas trashig bleibt, empfiehlt Joop Kartoffelpüree von Maggi dazu, allerdings unter dem Namen «Mousline Nature» in Paris gekauft, daher auch der wohlmeinende Hinweis auf die Zubereitung durch die französische Hausangestellte. Der Eintrag zum Kaviar schliesst mit dem Hinweis, dass zum Dessert stark gesüsster schwarzer Tee und persische Minizigaretten gereicht werden sollen.
Wenn «Kaviar Rustikal» das eine Extrem der Skala darstellt, dann befindet sich am genau gegenüberliegenden Ende das Rezept für die Gemüsesuppe «Vernissage». Es stammt aus der Kategorie «No Budget», die sich an Menschen richtet, die dem Hungertod zu entgehen versuchen, deren Erziehung aber Diebstahl verbietet. Im vorliegenden Fall begebe man sich auf eine Kunstvernissage, und «während die anderen vor zeitgenössischen Skulpturen nach Worten ringen», nutze man die Zeit, mehrmals zum Buffet zu schreiten. Dort lasse man sich zwei Gläser lauwarmen Wein reichen, schreite dann zur Toilette, um ihn in ein mitgebrachtes Schraubgefäss umzufüllen. Das Dipgemüse (also Crudités) vom Buffet lasse man in einer grosszügig designten Joop-Hüfttasche verschwinden.
Was also genau in die Suppe kommt, hängt etwas vom Angebot vor Ort ab. In der Regel handelt es sich um Karottensticks, Peperoni und Stangensellerie. Manchmal ist auch Rettich dabei. Man sollte sich, so man denn nach dieser Suppe strebt, vom tagesaktuellen Angebot inspirieren lassen.
Ich gebe zu, ich habe die Gemüsesuppe «Vernissage» bislang nur in meinem Kopf gekocht und verkostet. Seit fast einem Vierteljahrhundert hebe ich sie mir als Notnagel auf. Für den Moment, an dem ich als freischaffender Nichtsnutz kurz davor stehe, am Hauptbahnhof ein Brot zu klauen (interessanterweise habe ich erst «klaufen» getippt, so stark ist offenbar meine Abneigung gegen von mir selbst begangene Vermögensdelikte – ich danke meinen Eltern an dieser Stelle für den mir implantierten moralischen Kompass).
Bislang war ich zum Glück nicht auf die Suppe angewiesen. Aber es ist gut, zu wissen, dass es sie gibt. Im Sinne von: «Bei Gefahr Scheibe einschlagen.» Ich habe das Originalrezept minimal verändert, etwa, weil ich keine Hühnerbouillon mag.
Gemüsesuppe «Vernissage»
Zutaten für 4 Personen: Salz, 500 g tiefgekühlte Erbsen, 1 Zwiebel, 1 Würfel Gemüsebouillon, 2 Knoblauchzehen, Zucker, je 200 g Karotten, Peperoni, Stangensellerie, 2,5 dl trockener Weisswein, 3 EL Balsamico-Essig, 3 EL Sojasauce, 1 Chilischote, Saft einer Orange und einer Zitrone, 4 EL Olivenöl, 2 EL Pinienkerne (wobei die heutzutage sündhaft teuer sind)
Von der Vernissage in unser ungeheiztes Mansardenzimmer zurückgekehrt, bringen wir in der Schrankküche 2 bis 3 Liter Wasser in einem grossen Topf zum Kochen. Dazu gibt man Salz, die Erbsen, die Zwiebel, den Brühwürfel, die Knoblauchzehen, eine Prise Zucker und das Dipgemüse.
Das Ganze wird einmal kurz aufgekocht und dann bei schwacher Hitze 5 Minuten geköchelt. Jetzt nehmen wir den Topf vom Herd und fischen das Gemüse heraus. Dieses wird mit etwas Brühe in einem Mixer püriert.
Anschliessend geben wir es wieder in den Topf zurück – zusammen mit dem Vernissagen-Wein, der Sojasauce, dem Balsamico-Essig und der gehackten Chilischote. Kurz köcheln lassen und vor dem Servieren den Zitronen- und Orangensaft sowie das Olivenöl untermengen. Mit gerösteten Pinienkernen bestreuen.
Dazu passt
Getreu dem Motto, dass es nie falsch ist, denselben Wein in der Küche und auf dem Esstisch zu verwenden, hätte man vielleicht an der Vernissage eine Flasche mitgehen lassen können. Schliesslich ist es nicht wirklich Diebstahl, wenn der Wein sowieso kostenlos ausgeschenkt wird. Ist dies nicht gelungen, passt wohl jeder Weisswein mit Schraubverschluss aus dem Tankstellenshop. Möchte man bewusst einen Kontrapunkt setzen, kann man zu dieser Suppe auch Champagner servieren. Vielleicht den allerletzten aus dem Keller, bevor man am darauffolgenden Morgen den geerbten Louis-quinze-Sessel auf Ebay stellt und «Niere verkaufen» googelt.
Man kann aber auch einfach Wasser trinken und den Weinkonsum aufs darauffolgende Wochenende verschieben: An einem Samstagvormittag hole man den besten Anzug aus dem Schrank und begebe sich zum Zürcher Stadthaus. Im Kreuzgang des ehemaligen Fraumünsterklosters finden über den Tag verteilt immer wieder Apéros von Frischvermählten statt. Man stelle sich ganz einfach selbstbewusst zu einer (nicht zu kleinen) Hochzeitsgesellschaft und überlege sich ein paar langweilig klingende Legenden als Antworten auf die Frage, zu wem man denn genau gehöre. Auf diese Weise sollte der Konsum mehrerer Liter Alkoholika, verteilt über den Tag, möglich sein.