Das System KKS
Karin Keller-Sutter ist die mächtigste Bundesrätin. Wie zieht sie in der Regierung die Fäden? Und was kann sie nach ihrem Wechsel vom Justiz- ins Finanzdepartement bewirken?
Von Dennis Bühler, Priscilla Imboden (Text) und Jindrich Novotny (Illustration), 30.12.2022
Es klimpert. Karin Keller-Sutter schüttelt das rote Sparschwein mit weissem Schweizerkreuz. «Es ist noch was drin!»
Der abtretende Finanzminister Ueli Maurer steht neben ihr. Er habe schon «ein wenig geschaut», sagt er lächelnd. Und auch Keller-Sutter lächelt an jenem Nachmittag kurz vor Weihnachten in die Kameras.
Sparen: Das wird ihre neue Hauptaufgabe sein.
Sie lächelt trotzdem – vielleicht weil sie weiss, was das bedeutet? Mit dem Einzug ins Finanzdepartement steigt Karin Keller-Sutter zur mit Abstand mächtigsten Person im siebenköpfigen Bundesrat auf. Sie wird Herrin über die Bundesfinanzen und sieht damit in alle Departemente hinein.
Zudem hilft ihr die Konstellation im Gremium, die sie schon bisher geschickt zu ihren Gunsten zu nutzen verstand: Wann immer die St. Galler Freisinnige den Daumen hebt oder senkt, schafft sie Mehrheiten. In aller Regel entscheidet nämlich sie, ob sich die beiden SP-Bundesräte und Viola Amherd von der Mitte durchsetzen. Oder Parteikollege Ignazio Cassis und die beiden SVP-Bundesräte.
Schon in den vergangenen vier Jahren war Keller-Sutter eine prägende Figur in der Landesregierung. Doch die Bundesratswahl und die Departementsverteilung von Anfang Dezember haben ihre Macht noch einmal vergrössert.
Zum einen wegen des Abgangs von Ueli Maurer, der ihr mit seiner Erfahrung und Schläue wenigstens annähernd Paroli bieten konnte.
Zum anderen, weil Alain Berset angezählt ist.
In den letzten Jahren war der sozialdemokratische Innenminister der Einzige, der es wirklich mit Keller-Sutter aufnehmen konnte: dank seiner strategischen Fähigkeiten, seines Machthungers, seiner Führungsrolle in der Pandemie. Und auch, weil Berset in der Bevölkerung seit Jahren der beliebteste Bundesrat ist.
Jetzt ist die Ausgangslage eine andere. Die Departementsverteilung machte ein für alle Mal klar, wer im Bundesrat den Ton angibt: Obwohl Berset sieben Jahre länger regiert als Keller-Sutter, konnte sie das von beiden anvisierte Finanzdepartement übernehmen. Was ihn zwang, contre cœur im Innendepartement zu verharren.
Der Wechsel ins Finanzdepartement ist eine späte Genugtuung für Karin Keller-Sutter. Im Dezember 2018 wurde die frisch in den Bundesrat gewählte St. Gallerin gegen ihren Willen im Justizdepartement platziert. Obwohl sie noch heute sagt, die damalige Departementsverteilung sei «keine Sternstunde» gewesen, lässt sich ihre Bilanz als Justizministerin sehen: Sie hat die Überbrückungsrente für ältere Arbeitnehmer durch das Parlament gebracht, die Revision des Sexualstrafrechts vorangetrieben und auch trockenere Brocken bewältigt, die weniger Schlagzeilen machten: die Aktienrechtsreform etwa und die Zivilprozessordnung.
In ihren vier Jahren als Justizministerin hat sich die 59-Jährige als erfolgreiche Abstimmungskämpferin erwiesen: Bloss die Burka-Initiative und das Referendum gegen die elektronische ID hat sie verloren. Die anderen acht Abstimmungen, die sie bestritt, gewann sie.
Gewiss ist diese Erfolgsbilanz damit zu erklären, dass Keller-Sutters rechtsbürgerliche Positionen in der Schweiz grundsätzlich mehrheitsfähig sind. Aber nicht nur.
In den letzten Wochen hat die Republik zahlreiche Gespräche geführt mit politischen Verbündeten und Gegnerinnen. Mit ehemaligen und aktuellen Mitarbeitern der Bundesverwaltung, mit langjährigen Wegbegleiterinnen und Journalisten, die sie seit Jahrzehnten kennen.
Wie funktioniert KKS, wie Karin Keller-Sutter in Bundesbern genannt wird? Was macht ihren Erfolg aus?
1. Gewinnen (immer, um jeden Preis)
Vielleicht muss man, wenn man Keller-Sutters Erfolg erklären will, nicht erst bei ihrem politischen Aufstieg beginnen, der sie von Wil über St. Gallen bis ins Bundesratszimmer führte. Sondern viel, viel früher.
Beim Moment nämlich, als sie wenige Tage nach ihrer Geburt zu Hause ankam und ihr Vater zu den drei älteren Brüdern sagte: «So schön, jetzt händ ihr äs Schwöschterli.» Worauf ihr jüngster Bruder, damals im Primarschulalter, antwortete, so ein «Brüeliwiib» wolle er nicht.
So erzählte es Keller-Sutter vor knapp zwei Jahren in einem Interview. Und sie fügte an: «Das war ein Stahlbad mit drei älteren Brüdern.»
In der Politkarriere von Karin Keller-Sutter ging es von Beginn an steil aufwärts: Mit 29 Jahren wurde sie Gemeinderätin von Wil, mit 33 Kantonsrätin, mit 37 Regierungsrätin, mit 43 Regierungspräsidentin. Doch 2010 folgte der grosse Dämpfer. Bei der Bundesratswahl unterlag sie dem Parteikollegen und Nationalrat Johann Schneider-Ammann deutlich.
Aus der Niederlage hat Keller-Sutter gelernt.
Von da an wiederholte sie acht Jahre lang: «Für den Bundesrat kandidiert man nur einmal.» 2018 aber war sie sich sicher, dass sie nicht verlieren würde. Und sie behielt recht: Triumphal zog sie gleich im ersten Wahlgang in die Regierung ein, wo sie den im Amt alt gewordenen Schneider-Ammann ersetzte.
Seither überlässt sie nichts dem Zufall.
«Sie hasst es, zu verlieren»: Diesen Satz hört man oft, wenn man im Parlament Fragen stellt zu Bundesrätin Keller-Sutter. Sie interveniere, wo immer sie könne, heisst es. Auch dann, wenn es eigentlich schon zu spät sei. Und sie lässt auch nicht locker, wenn sie schon gewonnen hat.
So passiert im wohl härtesten Kampf, den KKS als Justizministerin geführt hat: bei der Konzernverantwortungsinitiative. «Sie hat sich ungewöhnlich stark eingesetzt und ist dabei wirklich weit gegangen», erinnert sich ein politischer Gegner von damals, Andreas Missbach, Geschäftsleiter von Alliance Sud, einer Allianz von Schweizer Nichtregierungsorganisationen.
Die Bundesrätin mischte sich mit einem aussergewöhnlichen Manöver quasi in allerletzter Minute in die Parlamentsdebatte ein. Der Nationalrat war damals daran, einen Gegenvorschlag zur Initiative auszuarbeiten, der griffig genug gewesen wäre, um die Initiantinnen zum Rückzug zu bewegen. Dem Wirtschaftsdachverband Economiesuisse und dem Verband der Konzerngesellschaften Swissholdings ging dieser Gegenvorschlag aber viel zu weit – und sie fanden in Keller-Sutter eine mächtige Verbündete.
Unmittelbar nach der Sommerpause 2019 überraschte die Justizministerin Verbündete und Gegnerinnen mit einem abgeschwächten Gegenvorschlag, den sie vom Bundesrat und anschliessend vom Parlament verabschieden liess. Mit diesem Schachzug konnte sie die Initiative mit einer Alternative bekämpfen, musste den Initianten aber in der Sache kaum entgegenkommen.
Im Abstimmungskampf verstieg sich Keller-Sutter zur Aussage, die Schweiz würde mit der Annahme der Konzernverantwortungsinitiative einen wirtschaftsschädigenden Alleingang wagen. Die WOZ bezichtigte sie der Lüge – und ein Parteikollege, der ehemalige FDP-Ständerat Dick Marty, der im Initiativkomitee sass, empörte sich in einem Interview: «Ihre Argumente versetzen mich in Rage. Eine Bundesrätin hat kein Recht, Unwahrheiten zu behaupten. (…) Wenn Keller-Sutter behauptet, bei Annahme der Initiative wären wir das einzige Land mit einem derartigen Rechtsrahmen, weiss sie, dass das nicht stimmt.»
Die Abstimmung über die Konzernverantwortung war kein Kampf, sondern eine Schlacht. Monatelang flogen die Fetzen. Der Mitte-Ständerat Beat Rieder, der im Stöckli dazu beitrug, den Plan Keller-Sutters umzusetzen, sagt: «Sie hat in dieser Zeit bewiesen, dass sie einstecken kann und trotzdem an ihrer Überzeugung festhält.»
Im November 2020 nahm die Stimmbevölkerung die Konzernverantwortungsinitiative an. KKS siegte dennoch: Weil eine Mehrheit der Kantone Nein stimmte, scheiterte die Initiative am Ständemehr. «Die Wirtschaft kann sich bei Karin Keller-Sutter bedanken», bilanzierten die Zeitungen von CH Media.
Nach dem hauchdünnen Sieg schwächte die Bundesrätin ihren eigenen Gegenvorschlag weiter ab. Er enthält nun zahlreiche Ausnahmeregelungen. Eine «Anleitung zum Wegschauen» sei das, kritisiert die Koalition für Konzernverantwortung.
Tatsächlich erfüllt die Verordnung ein zentrales Versprechen nicht, das Keller-Sutter im Abstimmungskampf oft wiederholt hatte, zum Beispiel in der «Arena» von SRF: «Wir wollen eine international abgestimmte Lösung. Das ist das, was der Gegenvorschlag bietet», sagt sie.
Doch das Schweizer Recht fällt nun hinter die internationale Regulierung zurück, wie der Bundesrat neulich selbst festgestellt hat: Er zeigte in einem Bericht auf, wie das Schweizer Regelwerk im Vergleich zur existierenden und zur geplanten EU-Regulierung Lücken aufweist. Trotzdem setzt KKS nun auf die Methode Aussitzen: Der Bundesrat soll erst im Jahr 2024 eine Vernehmlassung starten, wenn die neuen Regeln der EU bereits in Kraft sind.
Die Winkelzüge rund um die Konzernverantwortungsinitiative und ihre Hartnäckigkeit danach zeigen, dass Karin Keller-Sutter fähig ist, ihre politischen Ziele knallhart zu verfolgen und sich durchzusetzen – hier im Interesse der Konzerne.
Aber sie geht auch mit Mitte-links Koalitionen ein – wenn es ihren Zielen nützt. So etwa im Kampf gegen die Begrenzungsinitiative der SVP. Um der den Wind aus den Segeln zu nehmen, zimmerte sie mit der SP und der Mitte ein neues Sozialwerk: die Überbrückungsrente für ältere Arbeitslose, ein Projekt, das innerhalb des Freisinns keineswegs auf einhellige Freude stiess.
Das sei bezeichnend für Keller-Sutter, sagt die St. Galler FDP-Nationalrätin Susanne Vincenz-Stauffacher, die sie seit Jahrzehnten aus der Kantonalpartei kennt: «Wenn ihr etwas wichtig ist, lässt sie sich nicht beirren.»
2. Keine Gnade für Rivalen
Mit Widersachern geht KKS unzimperlich um. Vor allem mit einem: Ignazio Cassis.
Die Rivalität der Partei- und Regierungskollegen geht zurück auf die Departementsverteilung 2018. Anders als erhofft, durfte KKS damals nicht das frei gewordene Wirtschaftsdepartement übernehmen, sondern musste mit dem Justizdepartement vorliebnehmen. Grund: Bundesrat Cassis schlug sich auf die Seite von SVP-Kollege Guy Parmelin, der vom Verteidigungs- ins Wirtschaftsdepartement wechseln wollte. Ein Verhalten, das ihm Keller-Sutter laut mehreren Quellen bis heute nachträgt. Weshalb sie ihn im Bundesrat oft auflaufen lässt.
Verschärft wurde der Konflikt durch das schlechte Abschneiden der FDP bei den Wahlen 2019: Seither fürchtet die Partei, dass sie einen ihrer beiden Bundesratssitze verlieren könnte, sollte sie bei den Wahlen 2023 erneut Stimmanteile verlieren. KKS will sichergehen, dass es im Ernstfall nicht ihr Sitz sein wird.
Ab und zu trägt sie den Zwist auch in die Öffentlichkeit. So etwa in den bewegten Tagen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine. Am Donnerstag, 24. Februar 2022, dem Tag der Invasion, beschloss der Bundesrat, die Sanktionen der EU nicht zu übernehmen, sondern nur Massnahmen zu treffen, die deren Umgehung via die Schweiz verhindern sollten. «Aussenpolitisch werden diese Massnahmen von allen Staaten verstanden», sagte Aussenminister und Bundespräsident Cassis einen Tag später vor den Medien. «Dass die Schweiz ein neutraler Staat mit einer langen Tradition ist, ist bestens bekannt und akzeptiert.»
Innert weniger Stunden zeigte sich, wie falsch Cassis mit dieser Einschätzung lag. Die USA und die EU übten Druck aus, in der Schweiz wurden Petitionen lanciert, Menschen gingen auf die Strasse.
Zwei Tage später stahl Keller-Sutter Cassis die Show. Sie reiste nach Brüssel an ein ausserordentliches Treffen der Justiz- und Innenminister der EU. Auf dem Weg in den Saal sagte sie auf die Frage eines Journalisten: «Persönlich bin ich für eine Verschärfung der Massnahmen gegenüber Russland. In diesen Stunden bereitet die Bundesverwaltung solche Massnahmen vor, ich kann Ihnen aber nicht sagen, was der Bundesrat morgen entscheiden wird.»
Einige Stunden später eilte Bundesrat Ignazio Cassis in die «Tagesschau» des Westschweizer Fernsehens RTS, um die Deutungshoheit wieder zu übernehmen: «Wir haben den zuständigen Departementen die Aufgabe erteilt, strengere Sanktionen vorzubereiten», erklärte er. «Und ich denke, wir werden in diese Richtung gehen.»
Keller-Sutter ist bereit und entschlossen, Fehleinschätzungen ihres Parteikollegen zu ihren eigenen Gunsten zu nutzen. Das zeigte sich einige Wochen später erneut. Als Bilder eines Massakers an Zivilisten in der ukrainischen Kleinstadt Butscha veröffentlicht wurden, verbreitete Cassis’ Aussendepartement eine Stellungnahme, in der es «alle Seiten» dazu aufrief, «das humanitäre Völkerrecht strikt einzuhalten». Nach lautstarker Kritik verteidigte Cassis im Fernsehen die diplomatische Wortwahl: «‹Kriegsverbrechen› ist kein Wort der Politik.» Einen Tag später sagte Keller-Sutter bei SRF: «Zivilisten zu töten und zivile Infrastrukturen zu zerstören, das ist auch nach Schweizer Strafgesetzbuch ein Kriegsverbrechen.»
Diese Rempeleien schaden der Arbeit des Bundesrats, etwa in der Europapolitik. Beide freisinnigen Bundesräte sitzen nämlich im dreiköpfigen Europa-Ausschuss der Regierung. KKS bremste dort das Rahmenabkommen, das Cassis’ Departement ausgehandelt hatte, und setzte sich für den Verhandlungsabbruch ohne Plan B ein – während sich der Dritte im Bunde, SVP-Bundesrat Guy Parmelin, zurücklehnen konnte, zufrieden, dass sich nichts tat.
In letzter Zeit habe sich der Konflikt etwas entschärft, heisst es im Umfeld von Cassis und Keller-Sutter. Nicht weil sich die beiden Bundesrätinnen zusammengerauft hätten. Sondern weil das im Oktober publizierte aktuellste Wahlbarometer vorhersagt, dass die FDP 2023 nicht zu den Verlierern zählen wird.
Doch selbst wenn, hätte die Ostschweizerin bessere Chancen als der Tessiner, wiedergewählt zu werden. «Wenn es hart auf hart kommt, ist es klar, zu wem wir stehen», sagt eine SP-Nationalrätin, die ihren Namen nicht veröffentlicht haben will. Cassis sei ein Bundesrat von SVP-Gnaden, Keller-Sutter im Gegensatz zu ihm wenigstens berechenbar und verlässlich: Wenn man sich mit ihr auf etwas einige, bringe sie es durch den Bundesrat und das Parlament.
3. Image pflegen
Als Karin Keller-Sutter am 1. August am Walensee gleich zu Beginn einer Wanderung mit der «Schweizer Illustrierten» eine Schuhsohle verlor, hatte sie vorgesorgt: Ein Paar Ersatzschuhe stand im Auto bereit. KKS bereitet sich vor, selbst auf unvorhersehbare Ereignisse. Sie will in jeder Situation die Kontrolle behalten – ganz besonders über ihr Image.
Sie weiss die Medien zu nutzen: Mal trauert sie im «Blick» um ihren verstorbenen Hund, mal erzählt sie der «Schweizer Illustrierten», dass sie am liebsten Musik der Punkband The Clash hört. Und wenn KKS das Ruder übernimmt, sorgt sie dafür, dass es alle mitbekommen.
In den Wochen nach Kriegsbeginn lud sie die Medien auffällig häufig ein, um zu zeigen, wie sie die Schweiz auf die Unterbringung von Kriegsflüchtlingen vorbereitete. Und das war nicht bloss Show. Auch politische Gegner gestehen ihr zu, dass sie mit der Aktivierung des Schutzstatus S in Koordination mit den europäischen Ländern effizient und rasch handelte.
Wird Keller-Sutter kritisiert, dann scheut sie nicht, Gegenmassnahmen zu ergreifen. So erhielt SP-Nationalrat Fabian Molina einen erzürnten Anruf ihrer persönlichen Mitarbeiterin, nachdem er ein Video aus einer Ratsdebatte vertwittert hatte, in dem er gestützt auf einen WOZ-Artikel sagte, Keller-Sutters indirekter Gegenvorschlag zur Konzernverantwortungsinitiative sei von Swissholdings entworfen worden. «Die Mitarbeiterin stellte den Artikel infrage und forderte mich auf, den Tweet zu löschen», erzählt Molina. Selbstverständlich habe er das nicht gemacht.
Von derselben Mitarbeiterin wurde auch die Republik gerüffelt, weil sie in einem Artikel über die parlamentarische Beratung der Konzernverantwortungsinitiative auf die erwähnte WOZ-Recherche verlinkt hatte. Nach Artikeln, in denen KKS ihrer Meinung nach zu Unrecht kritisiert wurde oder in denen Politikerinnen Lob erhielten, das, wie sie fand, ihr selbst zugestanden hätte, liess Keller-Sutter ihre Kommunikationsabteilung auch schon beim «SonntagsBlick», bei der NZZ und der «NZZ am Sonntag» intervenieren.
Dieses Verhalten zeigt: Karin Keller-Sutter hat zwar den Ruf, hart zu sein. Doch sie ist zugleich sehr empfindlich. Und sie hat einen starken Geltungsdrang.
Wann immer sie eine Gelegenheit sieht, ihre Leistungen ins Scheinwerferlicht zu rücken, ergreift sie diese. Besonders auffällig war das an jenem Tag, als der Bundesrat vor den Medien erklärte, wer ab Anfang 2023 für welches Departement zuständig sein würde. Zunächst erklärte Bundespräsident Cassis, welche Überlegungen sich das Gremium vor der Aufgabenverteilung gemacht hatte. Er sprach exakt drei Minuten. Dann ergriff Keller-Sutter das Wort – und wollte es kaum mehr abgeben: Satte zehneinhalb Minuten lang sprach sie über ihre Verdienste als Justizministerin.
4. Härte zeigen
Karin Keller-Sutter fürchtet, von rechts als «Weichsinnige» kritisiert zu werden. So erzählen es verschiedene bundesratsnahe Beobachter. Diese Angriffsfläche reduzierte sie mit ihrer Migrationspolitik deutlich. Beat Gerber, Sprecher von Amnesty International Schweiz, sagt: «Kompromisslos hat sie eine rechtsbürgerliche Asylpolitik mit wenig Offenheit und Verständnis für menschenrechtliche Bedenken durchgesetzt, die im europäischen Verbund auf Abschottung und Abschreckung zielt.»
Drei Beispiele:
Nach einem verheerenden Brand im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos erklärten sich verschiedene Schweizer Städte bereit, obdachlos gewordene Menschen aufzunehmen. Doch der Bund hätte zustimmen müssen, was Keller-Sutter verhinderte.
Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan bat der Uno-Hochkommissar für Flüchtlinge die Schweiz und weitere Länder, mehr Flüchtlinge aus dem Resettlement-Programm aufzunehmen. KKS winkte ab. Obwohl sie das Programm immer wieder als «legalen Zugangsweg» lobte.
Und dann, wenige Tage bevor sie die Schlüssel zum Justizdepartement an ihre Nachfolgerin Elisabeth Baume-Schneider übergab, beschloss Keller-Sutter, die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Resettlement-Programm des Uno-Flüchtlingshilfswerks UNHCR zu sistieren. Dies, weil die Kantone beklagt hatten, dass sie zu wenig Platz und Personal hätten, weil bereits viele Flüchtlinge, vor allem aus der Ukraine, die Unterkünfte belegten. Damit können 800 Flüchtlinge – fast ausschliesslich Kinder, Frauen und Kranke – nicht wie vorgesehen in die Schweiz kommen.
Angesichts dieser tiefen Zahl ist das reine Symbolpolitik. Doch für Keller-Sutter erfüllt sie einen Zweck: Die Bundesrätin signalisiert damit Härte – und dass sie bis zum Schluss die Kontrolle behält.
5. Herrschen
Wer ihr wohlgesinnt ist, dürfte es als Versprechen gelesen haben. Für jene, die das nicht sind, klang es wohl eher wie eine Drohung: «Meine Absicht wäre es sowieso, nicht bloss Departementsvorsteherin zu sein», sagte Karin Keller-Sutter, als sie 2018 für die Landesregierung kandidierte. «Ich würde mich sicher gerne stark einbringen, bei allen Geschäften im Bundesrat.»
Seit ihrer Wahl tut sie genau das: Sie bringt sich ein. Und sie versucht, der gesamten Regierungspolitik ihren Stempel aufzudrücken.
Nicht immer ist sie damit erfolgreich. «Karin Keller-Sutter startet imposant», schrieb die NZZ, als die neue Justizministerin das Europa-Dossier an sich riss, mit der Ankündigung, die Blockade bei den Sozialpartnern lösen zu wollen. Passiert ist das bis heute nicht.
Aber Keller-Sutter redet ihren Kolleginnen und Kollegen auffällig häufig rein durch Mitberichte, in denen sie zu Anträgen anderer Departemente Stellung nimmt, bevor diese im Bundesrat behandelt werden. Ausser Ueli Maurer, heisst es in Bundesbern, habe in den letzten vier Jahren kein anderes Regierungsmitglied ähnlich oft zu diesem Instrument gegriffen. «Das Bundesamt für Justiz kann sehr unangenehm sein, wenn es in Mitberichten sagt, es sei nicht verfassungskonform, was ein Kollege oder eine Kollegin bringt», sagte Keller-Sutter jüngst mit hör- und sichtbarer Genugtuung.
Laut einem FDP-Nationalrat hält sich KKS auch bei parteiinternen Diskussionen nicht zurück. Im Unterschied zu Cassis äussere sie sich an Fraktionssitzungen auch zu Geschäften aus anderen Departementen offensiv – und vertrete dabei nicht immer die Meinung des Gesamtbundesrats.
Auf die Fraktion kann sich Keller-Sutter verlassen. Sie ist die Basis ihres Erfolgs im Parlament, der innerste Kern des Netzwerkes, an dem sie seit Jahren spinnt. Besonders gute Beziehungen unterhält sie zu den freisinnigen Ständerätinnen, zu denen sie früher selbst gehörte.
Ihr wichtigster Partner: Parteipräsident Thierry Burkart.
Das Verhältnis von Bundesrätin und FDP-Chef wird von Beobachtern inner- und ausserhalb des Freisinns als fast schon symbiotisch bezeichnet. Kritikerinnen von Burkart sehen in ihm einen PR-Sprecher der Bundesrätin; wer es besser mit ihm meint, glaubt, dass beide stark voneinander profitieren.
Jedenfalls betonen alle von der Republik befragten Personen, dass Burkarts Beziehung zu Keller-Sutter viel enger sei als jene zu Ignazio Cassis. Mit Ausnahme von Burkart selbst, der sagt, er habe als Parteipräsident selbstverständlich zu beiden Bundesräten einen guten Draht.
Für die Freisinnigen als Partei der restriktiven Finanzpolitik ist es von Vorteil, dass ihre Bundesrätin ins Finanzdepartement wechselt. Als Kassenwartin sieht sie in sämtliche Bereiche hinein, weil sie ständig Geld lockermachen soll. «Wer hier sitzt, gleicht einer Spinne im Netz», schrieb die «SonntagsZeitung» jüngst treffend. «Allen graut es vor dem Finanzminister, niemand kann sich ihm entziehen.»
Die Erwartungen von bürgerlicher Seite an Karin Keller-Sutter sind klar: Sie soll den Rotstift ansetzen.
Und das dürfte sie aller Voraussicht nach auch tun. Ihr Departement ist federführend, wenn es darum geht, wo welche Ausgaben gekürzt werden sollen, und gibt der Spardebatte damit die Richtung vor. Natürlich kann das Parlament die Vorschläge der neuen Finanzministerin ablehnen und Änderungen vornehmen. Dank dem System KKS wird sie aber auch auf die Räte einwirken, um ihre Ziele zu erreichen.
Sparen, sparen, sparen: Falls sie dieses Ziel zwischendurch aus den Augen verlieren sollte, wird sie das rote Sparschwein mit dem weissen Schweizer Kreuz daran erinnern.
In einer früheren Version haben wir Karin Keller-Sutter als «Regierungsratspräsidentin» bezeichnet – richtig ist «Regierungspräsidentin». Die Stelle ist korrigiert und wir bedanken uns für den Hinweis aus der Verlegerschaft.