Das Endspiel
Schmutzige Tricks im Parlament und Initianten, die sich in letzter Minute mit Nestlé einigen: Wie um die Konzernverantwortung gerungen wird. Bis zum allerletzten Moment.
Eine Recherche von Dennis Bühler und Carlos Hanimann, 04.06.2020
Es schien ein unverfängliches Anliegen, wofür im Frühling 2015 eine Allianz von Nichtregierungsorganisationen, Parteien und kirchlichen Kreisen Unterschriften sammelte: «Für verantwortungsvolle Unternehmen – zum Schutz von Mensch und Umwelt». Eineinhalb Jahre später kam die Konzernverantwortungsinitiative zustande: Die Initiantinnen reichten rund 120’000 gültige Unterschriften ein.
Dann begann im Parlament ein Seilziehen von schier epischem Ausmass.
Bundesrat und Parlament lehnten die Initiative ab, Nationalrätinnen verschiedener Parteien brüteten zwei Jahre lang einen Gegenvorschlag aus, dreimal tagte der Nationalrat dazu, dreimal der Ständerat, Justizministerin Karin Keller-Sutter zauberte plötzlich und zu einem ungewöhnlichen Zeitpunkt einen eigenen Gegenvorschlag aus der Tasche, FDP-Ständerat Ruedi Noser erwirkte eine Vertagung der Debatte bis nach den Parlamentswahlen, in der wegen Corona abgebrochenen Frühlingssession kam wieder keine Einigung zustande. Dann sah es während Wochen so aus, als setzten sich die in Bundesbern gut vernetzten Wirtschaftsverbände durch, welche die Konzernverantwortungsinitiative ablehnen und ihr einen auf Keller-Sutter zurückgehenden laschen Gegenvorschlag vorziehen.
Gut fünf Jahre nachdem die Initiative lanciert wurde, ist der Ausgang des Seilziehens nun aber wieder vollkommen offen. Überraschend und buchstäblich in letzter Minute nämlich lancierte der weltgrösste Nahrungsmittelkonzern Nestlé gestern Morgen einen eigenen Gegenvorschlag. Das zeigen Recherchen der Republik. Der Vorstoss hat im Parlament gute Chancen. Umso mehr, als sich das Initiativkomitee gestern Nachmittag nach mehrstündigen Diskussionen bereit erklärte, seine Initiative zurückzuziehen, sofern der neue Gegenvorschlag bis zum Ende der Beratungen Bestand hat. Das bestätigen die Initianten auf Anfrage der Republik.
Die der Öffentlichkeit bis jetzt verborgenen Vorgänge der letzten Stunden und Wochen werfen ein Schlaglicht auf die Mechanik der Schweizer Politik.
Es stellen sich gleich mehrere Fragen: Geht es mit rechten Dingen zu und her, wenn Parteien nicht ihre mit dem Dossier am besten vertrauten Vertreterinnen in die finale Einigungskonferenz schicken, sondern Politiker, deren Abstimmungsverhalten sich leichter kontrollieren lässt? Und ist es aus demokratietheoretischer Warte in Ordnung, wenn sich ein international operierender Grosskonzern im allerletzten Moment diskret in einen Gesetzgebungsprozess einmischt – und ihm nach jahrelanger Diskussion womöglich eine entscheidende Wendung gibt?
Letzte Chance: Einigungskonferenz
Heute Nachmittag, 4. Juni, werden sich 13 National- und 13 Ständeräte in einem Sitzungszimmer der Bernexpo treffen, um über den weiteren Umgang mit der Konzernverantwortungsinitiative zu verhandeln.
Die 26 Parlamentarier bilden die sogenannte Einigungskonferenz, die immer dann eingesetzt wird, wenn National- und Ständerat ihre Differenzen auch nach dreimaligem Hin und Her nicht bereinigen können. Damit soll verhindert werden, was beispielsweise 1937 bei der Revision des Strafgesetzbuches geschah: dass die Räte 16 Mal über ein Gesetz beraten.
Für die Sitzung der Einigungskonferenz ist eine Stunde eingeplant. Dann stimmen die Parlamentarierinnen ab, welcher Gegenvorschlag den beiden Räten zur finalen Abstimmung vorgelegt wird. Nachdem sowohl National- als auch Ständerat die Volksinitiative abgelehnt haben, stehen nun noch zwei bekannte Alternativen zur Wahl – plus der gestern lancierte neue Vorschlag:
der indirekte Gegenvorschlag des Nationalrats: Er ist die Wunschoption der Initianten, weil er ihre Anliegen aufnimmt und in ein Gesetz giesst, wenn auch in abgemilderter Form. Schon vor zwei Jahren kündigten sie an, bei einer Annahme dieses Gegenvorschlags ihre Initiative zurückzuziehen, vor allem, weil die Konzernhaftung so deutlich rascher umgesetzt werden könnte. Der Gegenvorschlag ist breit abgestützt, an seiner Ausarbeitung wirkten SVP-Nationalrat Hans-Ueli Vogt und FDP-Nationalrätin Christa Markwalder massgeblich mit.
der indirekte Gegenvorschlag des Ständerats: Er ist die Wunschoption der Konzerne, weil er als zahnlos gilt und keine neuen Haftungsregeln beinhaltet. Er entstand als Reaktion auf die grosse Beliebtheit des nationalrätlichen Gegenvorschlags und wurde von FDP-Bundesrätin Karin Keller-Sutter im vergangenen August aus dem Hut gezaubert. Wie die WOZ im März gestützt auf interne Mails enthüllte, geht er auf einen Vorschlag des Lobbyverbands Swiss Holdings zurück.
der Last-minute-Vorschlag von Nestlé: Er ähnelt der nationalrätlichen Variante, unterscheidet sich gemäss Recherchen der Republik aber in einem wichtigen Punkt – der Frage der Beweislast.
Sowohl die Initiative als auch der Gegenvorschlag des Nationalrats verlangen, dass zwar die geschädigte Person nachweisen muss, widerrechtlich einen Schaden erlitten zu haben, für den der Konzern oder eine von ihm kontrollierte Tochterfirma verantwortlich ist. Gelingt dies der geschädigten Person, geht die Beweislast aber an den Konzern über: Dann muss er den Nachweis erbringen, dass er seine Verantwortung gegenüber der Tochterfirma wahrgenommen hat, also alle nötigen Instruktionen und Kontrollen durchführte.
International operierende Unternehmen stören sich an diesem Passus, seit es die Konzernverantwortungsinitiative gibt. «Für die Firma gilt nicht mehr die Unschuldsvermutung, sie ist schuldig bis zum Beweis des Gegenteils», kritisierte etwa der Präsident von Swiss Holdings 2016.
Der Last-minute-Vorschlag von Nestlé kommt den Unternehmen nun genau in diesem Punkt entgegen: Mit ihm läge die Beweislast nicht mehr automatisch bei der Firma. Stattdessen würde das verhandelnde Gericht im Einzelfall entscheiden, ob der Konzern seine Unschuld oder der Kläger dessen Schuld zu beweisen habe.
Wie sich die Volksinitiative und die beiden im Parlament bereits diskutierten Gegenvorschläge im Detail unterscheiden
Volksinitiative: Sie verlangt von Konzernen mit Sitz oder Hauptniederlassung in der Schweiz, weltweit Menschenrechte zu respektieren und Umweltstandards einzuhalten. Konkret müssten sie Risiken für Mensch und Umwelt in ihren Geschäftstätigkeiten mit einer sogenannten Sorgfaltsprüfung identifizieren, Massnahmen dagegen ergreifen und öffentlich darüber berichten. Betroffene könnten in der Schweiz vor einem Zivilgericht auf Schadenersatz klagen. Haften sollen Konzerne gemäss Initiativtext für Tochterunternehmen und für «wirtschaftlich kontrollierte» Zulieferer. Betroffen wären grundsätzlich alle Unternehmen, wobei bei der Regelung der Sorgfaltsprüfungspflicht Rücksicht auf KMU zu nehmen wäre, die wenige solche Risiken aufweisen.
Gegenvorschlag des Nationalrats: Er übernimmt das Grundkonzept der Initiative, schränkt es aber stark ein. So sollen nur Grossunternehmen mit Sitz in der Schweiz betroffen sein, die im Jahresdurchschnitt 500 Vollzeitstellen anbieten und einen Umsatzerlös von über 80 Millionen Franken erzielen. Zudem sollen sie nur für Tochterunternehmen, nicht aber für sämtliche Lieferanten haften. Ferner gälte die Konzernhaftung nur bei gravierenden Fällen, etwa wenn Schäden an Leib und Leben oder Eigentum entstanden sind.
Gegenvorschlag des Ständerats: Er will, dass Grossunternehmen mit Sitz in der Schweiz zu ihrem Umgang mit Menschenrechten, Umwelt und Korruption Berichte verfassen. Davon betroffen wären nach Schätzungen rund 250 bis 400 Unternehmen. Sorgfaltsprüfungen hingegen wären nur für den Umgang mit Kinderarbeit und mit Konfliktmineralien vorgesehen. Auf Haftungsregeln verzichtet der ständerätliche Gegenvorschlag. Er beruht somit «auf der Idee von Sanktionen durch den Markt statt durch Richter», wie die NZZ schrieb.
Die Einigungskonferenz entscheidet heute Nachmittag also zwischen drei Vorschlägen und zwei Interessen: jenem der Initianten und jenem der Konzerne. Die Abstimmung ist heiss umkämpft und dürfte hauchdünn ausfallen. Deshalb stieg im Vorfeld der eigentlich schon während der Märzsession geplanten, wegen des Coronavirus aber verschobenen Sitzung der Druck auf die Fraktionen, dass sie die richtigen Leute schicken.
Das geplante abgekartete Spiel
Die Einigungskonferenz wird zu gleichen Teilen aus National- und Ständerätinnen zusammengesetzt. Das heisst, teilnehmen werden alle 13 Mitglieder der Rechtskommission des Ständerats und 13 ausgewählte Mitglieder der Kommission des Nationalrats (aufgeteilt nach Fraktionsstärke). Der Vorschlag, der mindestens 14 Stimmen holt, gewinnt. Bei Gleichstand (13:13) entscheidet die Präsidentin, in diesem Fall die Genfer SP-Nationalrätin Laurence Fehlmann Rielle.
Zunächst schienen die Chancen für den nationalrätlichen Gegenvorschlag intakt. 13 Stimmen würden genügen, den Stichentscheid der linken Präsidentin wusste man auf sicher.
Die Kräfteverhältnisse der Ständeratsdelegation sind aufgrund bisheriger Abstimmungen und Parteizugehörigkeiten absehbar. 6 der 13 Vertreter würden für den Gegenvorschlag des Nationalrats stimmen: die drei Sozialdemokraten Daniel Jositsch, Christian Levrat und Carlo Sommaruga, die beiden Grünen Lisa Mazzone und Céline Vara sowie CVP-Politiker Stefan Engler. Damit wären noch 7 von 13 Nationalrätinnen nötig, um dem griffigeren Gegenvorschlag zum Erfolg zu verhelfen.
SP, Grüne und GLP dürfen 5 Nationalrätinnen in die Einigungskonferenz entsenden. Fehlen noch 2 Stimmen. Diese könnten zum Beispiel von Bürgerlichen kommen, die sich schon für den nationalrätlichen Gegenvorschlag ausgesprochen hatten: etwa Hans-Ueli Vogt (SVP) und Christa Markwalder (FDP), die den Gegenvorschlag massgeblich mitgestaltet hatten, weil sie überzeugt sind, dass Gegenvorschläge nur sinnvoll sind, wenn sie von den Initiantinnen akzeptiert sind.
Doch dann begann hinter den Kulissen eine Reihe von undurchsichtigen Manövern.
Verdiente Politiker ausgebootet
Vogt und Markwalder wurde die Teilnahme an der Einigungskonferenz von ihren jeweiligen Fraktionen untersagt, wie mehrere Quellen der Republik bestätigen. Geschickt werden stattdessen andere Nationalräte, die für den bei den Konzernen beliebten ständerätlichen Gegenvorschlag stimmen werden. Entschieden haben das die jeweiligen Delegationsleiter in Absprache mit der Fraktionsleitung.
Schon im März sagte SVP-Delegationsleiter Pirmin Schwander der Republik, man sei zwar «froh um den Denker Vogt», aber die Fraktion habe immer gesagt, dass sie gar keinen Gegenvorschlag wolle. Das ziehe sie durch. Man werde deshalb nicht Vogt in die Einigung schicken, der dem nationalrätlichen Gegenvorschlag zum Durchbruch verhelfen könnte.
Noch brisanter gestaltet sich der Fall bei der FDP. Die freisinnige Delegation wird nämlich von Christa Markwalder angeführt. Sie ist seit sechzehn Jahren Mitglied der Rechtskommission, von der sie auch Vizepräsidentin ist, und in ihrer Partei federführend im Dossier. Vor allem aber leitet sie die 4 FDP-Politiker in der Rechtskommission als Delegationsleiterin an – sie entscheidet also, wen die FDP an die Einigungskonferenz schickt. Ginge alles mit rechten Dingen zu, würde Markwalder selbst daran teilnehmen.
Doch dazu kommt es nicht. Im März liess Markwalder die drei mit ihr in der Rechtskommission politisierenden Parteikollegen darüber abstimmen, wen die FDP in die Einigungskonferenz schicken soll. Die Kollegen booteten sie aus. Die Delegationsleiterin darf nicht an der Sitzung teilnehmen, weil sie – anders als die FDP-Fraktion – nicht die Interessen der Konzerne vertritt. Der Entscheid war eindeutig: 3 gegen 1, die Neulinge gegen die Erfahrene. Ein Affront für Markwalder.
In den zweieinhalb Pandemie-Monaten sind die Parteien nicht von ihren Plänen abgerückt. Schwander lässt sich von den Hardlinern Yves Nidegger, Barbara Steinemann und Mauro Tuena begleiten statt von Vogt, der sich während Jahren als Dossierverantwortlicher der SVP um die Konzernverantwortungsinitiative gekümmert hat. Und für die FDP nimmt nicht Markwalder in der Einigungskonferenz Einsitz, sondern Christian Lüscher und Daniela Schneeberger. Das bestätigt die Sekretärin der Kommission für Rechtsfragen auf Anfrage der Republik.
Nestlé tritt auf den Plan
Damit schien klar, wie das Ergebnis der Einigungskonferenz ausfällt: Eine knappe Mehrheit würde sich für den Gegenvorschlag des Ständerats aussprechen, für den Vorschlag ohne Haftungsregeln, für den Vorschlag im Sinn der Konzerne.
Doch dann griff Nestlé ins Geschehen ein. Weil sich der Westschweizer Multi Sorgen macht, dass sich Volk und Stände am 29. November für die Konzernverantwortungsinitiative aussprechen könnten, wenn sie ohne oder bloss mit laschem Gegenvorschlag an die Urne gelangt? Eine von den Initianten in Auftrag gegebene aktuelle Umfrage besagt, dass sich zurzeit 78 Prozent vorstellen können, Ja zu stimmen. Oder weil ein echtes Umdenken eingesetzt hat, nachdem Anfang Mai die Föderation der Schweizerischen Nahrungsmittel-Industrien (Fial) ins Lager jener gewechselt hatte, die einen griffigen Gegenvorschlag wollen? Im Fial-Vorstand sitzt der Schweiz-Chef von Nestlé gemeinsam mit Vertretern von Emmi, Migros und Coop.
Über die Gründe lässt sich bloss spekulieren.
Jedenfalls bat der Westschweizer Multi gestern Morgen Vertreterinnen des Initiativkomitees, zu einem neuen Kompromissvorschlag Stellung zu beziehen. Nach stundenlangen internen Diskussionen einigten sich die Initiantinnen, ihren Gegnern einen letzten Schritt entgegenzukommen. Schriftlich teilten sie Nestlé mit, ihre Initiative zurückzuziehen, sollte der Gegenvorschlag in der Einigungskonferenz und danach auch im National- und im Ständerat eine Mehrheit finden.
Damit veränderte sich die Ausgangslage. Mit dem Einverständnis der Initianten hausierten Nestlé-Lobbyisten gestern bis in die späten Abendstunden bei Teilnehmern der Einigungskonferenz, die eigentlich dem laschen ständerätlichen Gegenvorschlag zustimmen wollten.
Die Frage, ob die Bearbeitungsversuche von Erfolg gekrönt gewesen sind, ist offen – die Antwort wird man heute Abend erfahren, wenn die Einigungskonferenz ihren Entscheid bekannt gibt. Den allermeisten National- und Ständeräten dürfte ein Meinungsumschwung schwerfallen, haben sie sich in den letzten Jahren doch allesamt bereits öffentlich gegen einen einigermassen griffigen Gegenvorschlag ausgesprochen: im Parlament, auf Podien, in Interviews oder in Gastbeiträgen für Zeitungen.
Brisant ist die Frage nicht bloss im Hinblick auf die Konzernverantwortungsinitiative. Sie lässt sich nämlich auch in einem grösseren Zusammenhang sehen: Verfügt ein international operierendes Unternehmen tatsächlich über die Macht, ein Gesetzgebungsverfahren im allerletzten Moment noch zu seinen Gunsten zu verändern?