Weltweit vernetzt und engagiert für Rechte der Frauen: Rebecca Gomperts. Jitske Schols/Lumen

«Es braucht keine Entschuldigung für eine Abtreibung»

Rebecca Gomperts ist eine Ikone der internationalen Abtreibungs­bewegung. Weil der Supreme Court das Recht auf Abtreibung gekippt hat, ist die nieder­ländische Ärztin nun Anlauf­stelle für verzweifelte Frauen aus den USA. Für viele die einzige.

Von Solmaz Khorsand, 07.11.2022

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Vorgelesen von Dominique Barth
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Menschen in freien Gesellschaften hängen einem Irrglauben nach: dass ein demokratischer Staat samt seinen Institutionen immer auf der Seite seiner Bürgerinnen steht. Dass er auch zum Feind werden kann, begreifen die wenigsten. Umso hysterischer reagieren sie, wenn sie es schliesslich realisieren. Das hat Rebecca Gomperts im Laufe ihres Lebens häufiger beobachtet. Aktuelles Beispiel: die USA.

Seit die republikanische Mehrheit im Supreme Court am 24. Juni 2022 das landesweit geltende Recht auf Abtreibung gekippt hat, ist für eine Mehrheit der Frauen in den USA klar, auf welcher Seite Amerikas ehrwürdigste Institution steht: nicht auf ihrer. Mit der Aufhebung des Leiturteils «Roe v. Wade» aus dem Jahr 1973 ist das verfassungs­mässige Recht jeder Frau, über Abbruch oder Fortführung ihrer Schwangerschaft selbst entscheiden zu können, nach 50 Jahren endgültig Geschichte. Eine historische Zäsur.

In 13 von 50 Staaten sind Abtreibungen seither gänzlich verboten, in 8 selbst im Fall von Inzest und Vergewaltigung. Nur die Gefährdung des Lebens der Mutter erlaubt in diesen Juris­diktionen noch einen Schwangerschafts­abbruch. Und sogar da müssen Ärztinnen warten, bis sich der Zustand der Frau lebens­bedrohlich verschlechtert hat, um einen Eingriff legal werden zu lassen. Wie lange genau, weiss niemand. Wie nah muss die Betroffene am Tod vorbei­schrammen? Reicht ein bisschen? Oder braucht es schon die volle Wucht?

Was nach zynischen Gedanken­spielen klingt, sind heute konkrete Überlegungen in Amerikas medizinischer Community. Mit Anwälten werden in Kranken­häusern neue Richt­linien definiert, ab welchem Punkt das Gesundheits­personal eingreifen darf, ohne später juristisch belangt werden zu können. Ein schmerzlich absurdes Unter­fangen für alle Beteiligten. Denn nicht das Wohl der Patientinnen steht dabei im Fokus, sondern die Angst vor einer etwaigen Straf­verfolgung.

Zur Recherche: Bleibt Amerikas Frauen nur der Untergrund?

Gewinnen die Republikaner am 8. November die Zwischenwahlen für den US-Kongress, droht ein nationales Abtreibungsverbot. Doch es formiert sich der Widerstand. Auf allen Ebenen. Hier lesen Sie die Recherche.

Diese Angst dominiert derzeit den US-Diskurs: unter Betroffenen, Ärztinnen, Aktivisten und selbst millionen­schweren Sponsoren von speziellen abortion funds, die Abtreibungs­willige nicht länger bei ihrem nun «kriminell» gewordenen Unter­fangen beraten oder finanziell unterstützen wollen. Zu sehr fürchten auch sie, als «Mittäterin» vor Gericht gezerrt zu werden.

Rebecca Gomperts schüttelt darüber nur den Kopf. Mit dieser Einstellung kann die nieder­ländische Ärztin und Abtreibungs­aktivistin nichts anfangen. «Dieser alarmistische Diskurs hilft niemandem und ist sehr problematisch», sagt die 56-Jährige im Gespräch mit der Republik. Sie kann zwar nachvollziehen, dass er in diesen Tagen unmittelbar vor den midterm elections, den Zwischen­wahlen zum Kongress am 8. November, noch einmal kräftig befeuert wird. Auf diese Weise sollen möglichst viele Wählerinnen mobilisiert werden, um demokratische Kandidatinnen ins Repräsentanten­haus und in den Senat zu wählen. Das Schlimmste, so die Ansage, muss verhindert werden: ein nationales Abtreibungs­verbot, wie es den Republikanern bereits vorschwebt. Aber auf Dauer, sagt Gomperts, bringe die Panik nichts. Sie lähme.

Wer in ihrem Bereich tätig ist, muss wie eine Dissidentin denken, die danach trachtet, was möglich ist, auch wenn nichts mehr möglich scheint. Nach dem leisen «Ja» suchen, statt das laute «Nein» zu beklagen. «Es ist eine andere Art zu denken», sagt Gomperts. Statt sich wie das Kaninchen vor der Schlange zu fürchten und alles daran­zusetzen, bloss nicht gefressen zu werden, gelte es, die Schlange zu überlisten. Oder in der Sprache des Rechts: nach der Gesetzes­lücke zu suchen, der Grauzone.

Mit Schiffen, Drohnen und Robotern

Das ist Gomperts Spezialgebiet: die Grauzone. Sie hat sie berühmt gemacht, zur Ikone der Abtreibungs­bewegung, die sie heute ist. Seit über zwei Jahrzehnten hilft Rebecca Gomperts ungewollt Schwangeren weltweit. Und das auf kreative Weise. 2001 charterte sie mit Gleich­gesinnten ein Schiff mit dem Ziel, Frauen in jenen Ländern zu helfen, in denen Abtreibungen verboten waren. Die Gesetzeslücke: 20 Kilometer vor der Küste stehen zu bleiben, in internationalen Gewässern, wo nicht länger die Gesetze des jeweiligen Anrainer­staates gelten, sondern jene, unter dessen Flagge das Schiff fährt.

Deshalb gilt unter niederländischer Flagge das nieder­ländische Recht, das es Frauen seit 1984 erlaubt, bis zur 24. Schwangerschafts­woche abzutreiben. Women on Waves war geboren. Mit ihrem Schiff reiste Gomperts vor die Küsten Irlands, Polens, Marokkos, Portugals, Spaniens, Guatemalas und Mexikos. In Polen wurde sie dafür mit Eiern und Farbe beworfen. In Irland kam es zu Bomben­drohungen. In Portugal nahmen im August 2004 sogar zwei Kriegs­schiffe Kurs auf die Abtreibungs­aktivistinnen und hinderten sie daran, anzulegen – und sorgten damit für ein grosses Medienecho.

Doch die Zahl der Frauen, denen auf dem Schiff geholfen werden konnte, blieb überschaubar. Der Radius musste grösser werden, und zwar so maximal wie möglich. 2005 gründete Gomperts die Organisation Women on Web, die Frauen virtuell auf der ganzen Welt berät und ihnen per Post Abtreibungs­pillen zukommen lässt. Über die Jahre hat sich Gomperts mit ihren Mitstreiterinnen verschiedenste Mittel einfallen lassen, wie die Medikamente, die in abtreibungs­feindlichen Ländern immer wieder vom Zoll beschlagnahmt werden, dennoch bei den Betroffenen ankommen.

So liessen Aktivistinnen von Deutschland aus Drohnen mit den Tabletten über die Grenze nach Polen fliegen. Oder sie steuerten von Mexiko-Stadt aus, wo Abtreibungen erlaubt waren, kleine «Star Wars»-ähnliche Droid-Roboter in jene elf mexikanische Staaten, wo sie verboten waren. Sie sollten den Frauen die Medikamente dann wie Kuriere aushändigen. Es waren solche Kampagnen, die Gomperts den Ruf als «bekannteste Abtreibungs­aktivistin der Welt» einbrachten. 2020 kürte sie das «Time»-Magazin» zu einer der 100 einfluss­reichsten Personen der Welt.

Jetzt ist Rebecca Gomperts die letzte Hoffnung vieler Frauen in den USA. Manche würden behaupten, die wichtigste Anlauf­stelle für ungewollt Schwangere in der Ära nach «Roe v. Wade». Denn Gomperts macht weiter, während viele ihrer US-Kolleginnen aufgehört haben aus Angst, ihre Lizenz zu verlieren oder hinter Gitter zu landen. Und zwar damit, womit die Nieder­länderin schon Tausenden Frauen weltweit geholfen hat: mit der Abtreibungs­pille. Sie ist der Grund, warum es trotz reaktionärer Richter kein Zurück geben muss in die Zeit, als Frauen noch mit Kleider­haken und Bleiche ihr Leben riskierten, um eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden.

Der Gamechanger

Die Abtreibungspille hat den Schwangerschafts­abbruch in den 1980er-Jahren revolutioniert. Genau genommen handelt es sich dabei um mehrere Pillen: eine mit dem Wirkstoff Mifepriston, der das körpereigene Progesteron blockiert und so das Wachstum des Embryos stoppt; und vier – je nach Stadium der abzubrechenden Schwangerschaft auch mehr – mit dem Wirkstoff Misoprostol, die spätestens 48 Stunden danach eingenommen werden sollten. Sie sorgen für Kontraktionen, damit sich die Gebär­mutter «leert». Krämpfe und starke Blutungen sind die Folge. Ähnlich wie bei einer Fehlgeburt. Je früher die Kombination eingenommen wird – am besten bis zur 9. Schwangerschafts­woche –, umso geringer die Schmerzen und umso höher die Chancen für eine erfolgreiche Abtreibung.

Bis zur 12. Schwangerschafts­woche können die Tabletten laut Empfehlung der Weltgesundheits­organisation zu Hause von den Patientinnen eingenommen werden, ohne ärztliche Aufsicht. Ganz in Eigenregie. Das war der Gamechanger – und so war es auch intendiert. Etienne-Emile Baulieu, ein französischer Mediziner und ehemaliger Kämpfer der Résistance, hatte Mifepriston 1988 entwickelt. «Meine Absicht war es, Frauen durch eine Pille die Wahl­möglichkeit zu geben, die ihre Privatsphäre und körperliche Unversehrtheit respektiert und es ihnen ermöglicht, einen aggressiven operativen Eingriff vollständig zu vermeiden», sagte der heute 95-Jährige jüngst im «New Yorker».

In den USA sind die Abtreibungs­pillen mittlerweile zur meistgenutzten Methode des Schwangerschafts­abbruchs geworden. 54 Prozent aller Abtreibungen wurden 2020 auf diese Weise eingeleitet. Regulär sind die Tabletten nur mit Rezept erhältlich. Ein solches kann in vielen Bundes­staaten inzwischen auch nach einer tele­medizinischen Beratung ausgestellt werden – doch der Anbieter macht sich strafbar, wenn eine Abtreibung am Standort der Patientin untersagt ist. Hier kommt Rebecca Gomperts ins Spiel.

Ursprünglich wollte sie nie in den USA Fuss fassen, war in dem Land das Recht auf Abtreibung doch verfassungs­rechtlich verankert. Kein Gomperts-Terrain also. Doch bereits in der Ära von Ex-Präsident Donald Trump stiegen die Anfragen verzweifelter Amerikanerinnen. Immer mehr Kliniken sperrten zu, der Zugang zu Abtreibungen wurde immer schwieriger, und die Kosten für einen medizinischen Schwangerschafts­abbruch von durch­schnittlich 500 Dollar waren für viele nicht bezahlbar.

Daher gründete Gomperts 2018 die gemeinnützige Organisation Aid Access, registriert in Österreich und mit dem Ziel, Frauen in den USA den Zugang zu medikamentöser Abtreibung bis zur 12. Schwangerschafts­woche bezahlbar zu machen und sicher zu gewährleisten. Die Frauen müssen dazu online einen Frage­bogen ausfüllen, der abklopft, wann ihre letzte Regel­blutung war, wogegen sie allergisch sind, ob jemand sie zur Abtreibung zwingt und ob sie im Falle von Komplikationen innerhalb von einer Stunde die nächste Notfall­ambulanz erreichen könnten.

Bei Bedarf steht auch die Möglichkeit offen, einen virtuellen Termin mit einer Ärztin zu buchen. Danach wird ein Rezept an eine Apotheke in Indien geschickt, die den Betroffenen die Tabletten zustellt. Egal, in welchem US-Bundesstaat sie sich befinden. Diskret per Post und innerhalb von ein bis drei Wochen. Die ganze Prozedur findet im toten Winkel der US-Behörden statt. Als in Europa lizenzierte Ärztin mit einer europäischen Organisation untersteht Gomperts mit Aid Access nicht den amerikanischen Gesetzen.

Zwar hat die amerikanische Arznei- und Lebensmittel­behörde FDA 2019 versucht, Gomperts mit einem Unterlassungs­schreiben einzuschüchtern und zum Aufgeben zu zwingen. Doch weiter­verfolgt hat die FDA den Fall dann doch nicht. «Ich mache mir keine Sorgen, das ist vorbei. Wir werden sehen, ob da noch etwas kommt», sagt Gomperts gegenüber der Republik und winkt ab.

Anfangs machte ihr die Drohgebärde Angst, schliesslich ist die FDA eine mächtige Behörde. Zwei Monate liess sie die Arbeit ruhen, bis sie wieder damit anfing, Frauen in Amerika mit Tabletten zu versorgen – und in die Offensive ging. Sie verklagte die FDA, da sie vermutete, dass ein Teil der verschickten Medikamente bei der Einfuhr konfisziert und Zahlungen von Patientinnen blockiert worden seien. Beides konnte sie jedoch nicht beweisen. Gomperts liess die Klage fallen.

«Es braucht keine Entschuldigung für eine Abtreibung»

Sie reibt sich die Augen. Erschöpft wirkt sie. Es ist Montag­vormittag, wir treffen uns an einem warmen Herbsttag im Erdgeschoss­büro von Women on Waves, im Osten Amsterdams unweit des Bahnhofs Muiderpoort. Die Gegend ist belebt, in Reise­führern wird sie für ihr «multi­kulturelles Flair» und den «multi­kulturellen Markt» gepriesen. Aid Access und die USA scheinen ganz weit weg, auch mental.

Gomperts Hauptfokus liegt inzwischen bei einem anderen Projekt, an dem sie schon seit acht Jahren arbeitet: der Entwicklung von Mifepriston als Wirkstoff einer Alleskönner­pille. Diese soll zugleich als Verhütung, «Pille danach» und Abtreibungs­medikament benutzt werden können. Alles in einem. Damit hätten die Frauen in jeder Situation etwas zur Verfügung, auf Vorrat zu Hause, unabhängig von irgend­welchen Urteilen. Die ultimative Ermächtigung. Bis Ende des Jahres weiss Gomperts, ob sie die Gelder für die Forschung dafür zusammen­bekommt. Wenn ihr das gelingt, rechnet sie in spätestens fünf Jahren mit den ersten Ergebnissen.

In ihrem kleinen Büro bei Women on Waves stehen auch eine Pritsche und ein Ultraschall­gerät. Einmal die Woche betreut Gomperts hier Ausländerinnen ohne Dokumente. Sie mag es, mit den Frauen zu arbeiten, so gewinnt sie neue Perspektiven und lernt dazu. Zum Beispiel habe sie aufgehört, bei der Untersuchung zu fragen, welche Verhütungs­mittel die Frauen verwenden. Das würde ihnen nur suggerieren, dass es das Falsche gewesen sei, dass ein selbst begangener Fehler sie in eine Situation gebracht habe, die sie unbedingt vermeiden müssten.

«Es braucht keine Entschuldigung für eine Abtreibung», stellt Gomperts klar. Sie ist freundlich und bestimmt. Andere Autorinnen attestierten ihr eine «heitere Dreistigkeit». Sie wird nie aggressiv in der Sache, auch gegenüber Abtreibungs­gegnerinnen nicht, darauf legt sie Wert. Es stehe zu viel auf dem Spiel, als dass man mit Aggression das Gegenüber vergraulen dürfe.

Seit über zwei Jahrzehnten bestimmt die Sache ihr berufliches Leben. Noch im Studium assistierte sie während eines Praktikums in einer Klinik in Guyana bei ihrer ersten Abtreibung. Doch es war ihre Zeit als Schiffs­ärztin auf dem Greenpeace-Motorsegler Rainbow Warrior II, nach dem Medizin- und Kunst­studium, die sie nachhaltig prägen sollte. Damals begegnete sie auf Reisen nach Südamerika zahlreichen Frauen, die körperlich und psychisch am Ende waren, weil sie keinen Zugang zu sicheren Abtreibungen hatten. Das ging ihr unter die Haut, wie sie sagt, und es stachelte ihren Ehrgeiz an: Wie konnte sie diesen Frauen helfen, ohne das Gesetz zu brechen? Und spielt das Gesetz überhaupt noch eine Rolle, wenn es zu einer Gefahr geworden ist?

Eine Schulung im zivilen Widerstand

«Wenn eine gute Gesundheits­versorgung im Rahmen des Gesetzes nicht zugänglich ist, was bedeutet dann das Gesetz?», fragt Gomperts ruhig in die Kamera. Es ist eine Szene aus der Dokumentation «Vessel» (2014). Darin begleitet die Regisseurin Diana Whitten Women on Waves auf ihren Missionen und schält Sequenz für Sequenz heraus, was Gomperts darunter versteht, «anders zu denken». Es ist im Kern eine Schulung in zivilem Ungehorsam. So unterrichtet sie etwa in einem Workshop in Tansania eine Gruppe von Männern und Frauen darin, wie es ihnen gelingen kann, an die Abtreibungs­medikamente zu kommen.

Misoprostol, der zweite Wirkstoff in der Abtreibungs­pille, der in hoher Dosis auch als alleiniges Mittel für einen Schwangerschafts­abbruch eingesetzt werden kann, ist in vielen Ländern ohne Rezept als Medikament gegen Magen- und Darm­geschwüre erhältlich. Ausserdem wird es ebenso zum Stillen von Blutungen nach der Geburt eingesetzt. Auch in Tansania, wo Abtreibungen verboten sind. Solange es für die Magen­geschwüre der Grossmutter besorgt wird oder für etwaige postpartale Blutungen der schwangeren Freundin, ist es ohne weiteres erhältlich. Es muss nur das Angebot geben.

In einem Rollenspiel erfindet Gomperts eine Geschichte, was Betroffene sagen könnten, um Apotheken dazu zu bringen, die Tabletten auf Vorrat en masse zu lagern – und sie ihnen ohne Bedenken auszuhändigen: Die Schwester und mehrere Nach­barinnen im Ort könnten zum Beispiel schwanger sein und vor der Niederkunft stehen. Dann wären grosse Mengen Misoprostol notwendig, um mögliche Blutungen nach der Geburt in den Griff zu bekommen.

Auf der Website von Women on Waves gibt es viele kreative Ratschläge zu «Selbst­hilfe» dieser Art. Es sind subversive Anleitungen zur Vorbereitung des Schwangerschafts­abbruchs – aber auch für Schwierigkeiten, die danach entstehen könnten. So wird betont, dass selbst im Fall einer Komplikation und eines Krankenhaus­aufenthalts der Arzt keinen Unterschied zwischen einer Abtreibung und einer Fehlgeburt feststellen kann – sofern ihn die Frau nicht darauf hinweist. Solange sie ihn nicht aufklärt, kann sie deshalb keiner Tat beschuldigt werden. Wo kein Beweis, da kein Delikt. So einfach.

Was für rechtschaffene Moralisten nach einem Albtraum klingt, ist für Gomperts nur die Ausweitung der Grauzone. Was haben die Frauen davon, brave Bürgerinnen eines Staats zu sein, der rücksichtslos ihre Gesundheit aufs Spiel setzt? «Es ist ziviler Widerstand, und das ist ermächtigend», sagt Gomperts und lächelt. «Anstatt zu sagen, du musst dich fürchten, nimmst du die Dinge in die Hand und sorgst dafür, dass das System sich dir anpasst, nicht umgekehrt.» Ganz besonders, wenn das System so kaputt ist wie in den USA. Jedenfalls ist es das, was Gomperts sich heute wünschen würde für die Post-Roe-versus-Wade-Ära.

Unmittelbar nach der Entscheidung des Supreme Court geriet Gomperts verstärkt in den Fokus der US-Öffentlichkeit. Die Anfragen an Aid Access verdreifachten sich von 1200 im Monat auf 3600. Rund zwei Drittel davon kamen von Frauen aus Bundes­staaten, deren sogenannte Trigger­gesetze sofort nach Bekannt­gabe des Supreme-Court-Urteils in Kraft traten und die Abtreibung kriminalisierten.

Schon im Jahr davor hatte sie einen starken Anstieg bemerkt, als Texas im September 2021 ein De-facto-Verbot beschlossen hatte und Abtreibungen nur noch bis zur 6. Schwangerschafts­woche zuliess. Einige Frauen, die nicht schwanger waren, bestellten damals die Pillen via Aid Access, um sie im Fall der Fälle auf Vorrat schon einmal zu Hause zu haben.

Solche Frauen würden auch in Zukunft Wege finden, sich zu helfen, sagt Gomperts im Gespräch, um sie macht sie sich keine Sorgen. Es sind die anderen, die ihr Kopf­zerbrechen bereiten, die weniger informierten, weniger politisierten und finanz­schwachen. Auf sie kommen in diesem Amerika harte Zeiten zu. «Dieser Supreme Court ist noch lange nicht am Ende», prophezeit sie. «Dieses Land wird sich in den kommenden zehn Jahren dramatisch und fundamental verändern.»

Noch reist Gomperts gelegentlich in die USA. Sie fürchtet keine Straf­verfolgung. Solange sie dort keine Abtreibungen durchführt, wähnt sie sich auf der sicheren Seite. Fürs Erste. In ein paar Jahren mag ihre Zuversicht der Angst gewichen sein, die viele ihre Kolleginnen erfasst hat. Dann müsste auch sie sich dem rigiden Schwarz-Weiss geschlagen geben – und wie ihre US-amerikanischen Kolleginnen im schlimmsten Fall mit einer Strafverfolgung rechnen. Doch bis dahin nutzt sie jeden Millimeter der Grauzone.