Bleibt Amerikas Frauen nur der Untergrund?
Gewinnen die Republikaner am 8. November die Zwischenwahlen für den US-Kongress, droht ein nationales Abtreibungsverbot. Doch es formiert sich Widerstand. Auf allen Ebenen.
Von Solmaz Khorsand (Text) und Laia Abril (Bilder), 07.11.2022
«Der Ausgang dieser Wahl wird über unsere Freiheit bestimmen», sagt Sara Spain am Ende des Zoom-Calls. Es ist so ein Satz, den Menschen im Wahlkampf schnell einmal sagen, um mit übertriebener Dringlichkeit noch die letzte Wählerin zu mobilisieren. Spain ist Sprecherin von «Emily’s List», einem Political Action Committee. Es ist eine dieser berühmten amerikanischen Lobbygruppen, die viel Geld ausgeben, um Kandidaten, die eine bestimmte Agenda verfolgen, in politische Ämter zu hieven.
So auch bei diesen midterm elections, den Kongresswahlen am 8. November. Emily’s List unterstützt seit 1985 ausschliesslich Demokratinnen. Und zwar diejenigen, die sich explizit für eine bestimmte Sache starkmachen: Abtreibungsrechte.
Die werden dieses Mal an der Wahlurne verhandelt. Spätestens seit dem 24. Juni, als die republikanischen Richter im Supreme Court beschlossen hatten, das Leiturteil «Roe v. Wade» und damit das in der Verfassung garantierte Recht auf Abtreibung nach 50 Jahren zu kippen, ist es vielen unheimlich. Die Befürchtung: ein nationales Abtreibungsverbot. Die ersten Entwürfe dafür gibt es bereits.
«Wenn die Republikaner den Kongress gewinnen, steht alles auf dem Spiel», warnt Sara Spain, «auch in den Staaten, in denen Schwangerschaftsabbrüche jetzt noch erlaubt sind.»
Daher die dringlichen Appelle demokratischer Politiker, von Präsident Joe Biden abwärts: Wählt Demokratinnen in den Kongress, lasst uns die Wahlen gewinnen, es geht um eure Freiheit! «Wenn wir das tun, dann ist das hier mein Versprechen an euch und das amerikanische Volk: Das erste Gesetz, das ich dem Kongress schicken werde, wird ‹Roe v. Wade› festschreiben», kündigte Biden Mitte Oktober an.
Es ist ein grosses «Wenn». Schon jetzt hat seine Partei nur eine hauchdünne Mehrheit im Kongress. Im Repräsentantenhaus, bestehend aus 435 Abgeordneten, sind es gerade einmal 9 Demokraten, die den Unterschied machen. Und im Senat mit seinen 100 Mitgliedern nicht einmal das. Dort verhilft nur die Regelung, dass bei einem Patt von 50 zu 50 die Vizepräsidentin Kamala Harris den Stichentscheid hat, den Demokraten zur knappestmöglichen Vormacht.
Ob diese nach den Zwischenwahlen gehalten, gar ausgeweitet werden kann, ist fraglich. Die midterms sind in der Regel ein Stimmungstest, der zwei Jahre nach der Präsidentschaftswahl feststellen soll, wie sich der Neue im Amt so macht. Damit werden sie meist zum Denkzettelwahlkampf gegen die amtierende Administration.
Väter fürchten um ihre Töchter
Doch das Urteil des Supreme Courts hat dieses Mal die Dynamik verändert. So schien es phasenweise jedenfalls. Zu radikal war die Entscheidung vielen Amerikanern, 57 Prozent missbilligten sie. Sie begreifen, was es konkret zu bedeuten hat, wenn das Recht auf Abtreibung für Frauen nicht länger verfassungsrechtlich verankert ist, sondern outgesourct wird an die einzelnen Bundesstaaten. Schon am Tag nach dem Urteil traten die ersten trigger laws in Kraft, die in 13 von 50 Staaten Abtreibungen fast vollständig verbieten – oft auch im Falle von Vergewaltigung und Inzest.
Selbst manchen republikanisch gesinnten Vätern geht das zu weit. Etwa wenn sie Töchter unter 18 Jahren haben. In Interviews haben solche Wähler gestanden, dass sie es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren können, ihrer Stammpartei die Stimme zu geben, solange diese ihre Tochter im Falle einer Schwangerschaft durch eine Vergewaltigung dazu zwingen will, das Kind auszutragen. Haben früher solche Männer ihre Wahlentscheidung in erster Linie an der Positionierung zu Waffengesetzen, Steuererleichterung und Immigration festgemacht, so priorisieren sie nun zum ersten Mal die reproduktive Gesundheit. Ein Novum.
Darauf setzen die Demokraten und wagen es zum ersten Mal, mit dem Thema Abtreibung offensiv Kampagne zu machen. Allein in den ersten 50 Tagen nach der Supreme-Court-Entscheidung gaben sie mit knapp 32 Millionen Dollar 32-mal so viel für Wahlkampfwerbung zum Thema Abtreibungsrechte aus wie vier Jahre zuvor, fast 8-mal so viel wie die republikanische Konkurrenz.
In Spots beschwören sie Worst-Case-Szenarien: Frauen, die nach Fehlgeburten – die von medikamentösen Schwangerschaftsabbrüchen nicht zu unterscheiden sind – hinter Gitter kommen, weil die Behörden ihnen illegale Abtreibungen unterstellen. Vergewaltigte, die gezwungen werden, zu gebären. Schwangere, die ihr Leben verlieren, weil republikanische Kandidatinnen nicht einmal dann eine Abtreibung zulassen wollen, wenn das Leben der Mutter durch eine Schwangerschaft gefährdet wird. Worst-Case-Szenarien, die vielerorts bereits bedrohlich nahe an der Realität sind.
So erzählen Ärztinnen unter Tränen, dass sie ihrer Pflicht zum Retten von Menschenleben nicht länger nachkommen dürfen und ihren gefährdeten Patientinnen raten müssen, so schnell wie möglich über die Grenze in den nächsten Bundesstaat zu fahren, wo Abtreibungen noch legal sind.
Die «Abtreibungsoase» hat vorgesorgt
Illinois ist so ein Bundesstaat. Er wird auch die «Abtreibungsoase» des Mittleren Westens genannt. «Wir sind zu einer Insel geworden, umgeben von Staaten, die Abtreibungen verboten haben», erzählt Brigid Leahy von Planned Parenthood. Die Non-Profit-Organisation hat 650 Kliniken im ganzen Land und ist der grösste Anbieter von Abtreibungen in den USA.
Leahy ist Vizepräsidentin der Public-Policy-Sektion der Organisation in Illinois, des Planned Parenthood Action Fund, der sich auf politischer Ebene für Reproduktionsrechte starkmacht. Das Urteil des Supreme Courts war für Leahy keine Überraschung. Man habe sich schon früh auf den 24. Juni eingestellt, erzählt sie. Mit der Wahl von Donald Trump war klar, in welche Richtung die Besetzungen am höchsten Gericht gehen würden. Spätestens als der Richter Anthony Kennedy im Juli 2018 in den Ruhestand ging, wussten sie bei Planned Parenthood, dass sie sich für die Zeit nach «Roe v. Wade» wappnen müssen. Legal wie organisatorisch.
Während der Republik-Beitrag auf das Abtreibungsrecht in den USA eingeht, zeigen die Bilder eine internationale Perspektive auf das Thema. Die Serie stammt von der in Barcelona lebenden Fotografin Laia Abril, die sich in ihrer Arbeit intensiv mit Frauenthemen befasst. Die Bilder sind Teil des Langzeitprojekts «A History of Misogyny» («Eine Geschichte der Frauenfeindlichkeit»), bei dem auch die Geschichten von Betroffenen aufgearbeitet werden.
Also lobbyierte die Organisation dafür, das Recht auf Abtreibung in Illinois auf Bundesstaatsebene zu verankern. 2019 ist das gelungen. Ausserdem begann Planned Parenthood, neue Kliniken zu bauen, und zwar dort, wo es in einer Post-«Roe v. Wade»-Ära den meisten Nutzen haben würde: nahe den Staatsgrenzen.
Schon vor dem Richtungsentscheid des Supreme Courts waren viele Frauen aus den Nachbarstaaten für Behandlungen nach Illinois gekommen, danach explodierten die Anfragen. Waren es vor dem Urteil rund 100 Patientinnen gewesen, kamen im Juli bereits 800, und zwar aus 30 unterschiedlichen Bundesstaaten – aus doppelt so vielen Staaten wie davor.
Der Ansturm führt heute zu Verzögerungen. Haben Frauen früher innerhalb von drei bis vier Tagen einen Termin bekommen, müssen sie nun bis zu drei Wochen warten, wodurch sich die Eingriffe verkomplizieren. Ein Abbruch in der 10. Schwangerschaftswoche ist einfacher als einer in der 16. Und auch billiger. Je weiter fortgeschritten die Schwangerschaft ist, desto komplizierter und teurer wird die Abtreibung.
Mittlerweile übersteigen jedoch die logistischen Kosten ohnehin jene des Eingriffes selbst. Vor dem 24. Juni hat ein Schwangerschaftsabbruch im günstigeren Fall 560 Dollar gekostet, heute kommt er locker auf 2300 Dollar. Es müssen nun Flugtickets, Sprit, Hotelunterkunft und Kinderbetreuung für einen mehrtägigen Trip eingerechnet werden.
Auch darauf hat sich Planned Parenthood vorbereitet: Im Süden von Illinois, in Fairview Heights, betreibt die Organisation gemeinsam mit der Hope Clinic for Women seit Januar ein «regionales Logistikzentrum», das sich ausschliesslich um die finanzielle und organisatorische Abwicklung von Schwangerschaftsabbrüchen kümmert. Es werden Spendengelder angezapft, die für Teilfinanzierungen infrage kommen, Coupons für Benzingeld organisiert, Privatpersonen angefragt, die bereit sind, für einige Tage ihre eigene Wohnung kostenlos zur Beherbergung von Patientinnen zur Verfügung zu stellen.
Amerikas Widerstand
Planned Parenthood ist nicht der einzige Akteur, der den Frauen in diesem neuen Amerika zur Seite steht. Man ist kreativ geworden.
Privatpiloten melden sich bei Elevated Access, um Frauen in Kleinflugzeugen kostenlos von einem Bundesstaat in den nächsten zu fliegen.
Die Organisation Just the Pill hat angekündigt, bis Ende des Jahres mehrere Vans zu mobilen Abtreibungskliniken aufzurüsten – unter anderem mit Panzerglas – und vor den Grenzen abtreibungsfeindlicher Staaten getarnt zu patrouillieren.
In Kalifornien versucht eine Ärztin Millionen Dollar zu sammeln, um demnächst mit einer Abtreibungsjacht im Golf von Mexiko in internationalen Gewässern vor den Grenzen der Südstaaten Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Amerikas Widerstand formiert sich.
Auch in der Justiz. So haben 92 Staats- und Generalstaatsanwälte in einer gemeinsamen Erklärung festgehalten, dass sie Schwangerschaftsabbrüche nicht strafrechtlich verfolgen werden. Sie nannten die Kriminalisierung der Abtreibung «eine Verhöhnung der Justiz». Abtreibungsverbote durchzusetzen, widerspreche ihrer Verpflichtung, «die Sicherheit und das Wohlergehen aller Mitglieder ihrer Gemeinschaft zu schützen», und würde nicht nur Opfer sexueller Gewalt retraumatisieren, sondern auch das Vertrauen in den Rechtsstaat untergraben.
Und es geht weiter: Die drei Rechtsprofessorinnen David S. Cohen, Greer Donley und Rachel Rebouché haben in der «Columbia Law Review» bereits im Februar einen Gesetzesvorschlag formuliert, der der Kriminalisierung der Helfer Einhalt gebieten soll. Gemäss den drei Juristen versuchen in der neuen Post-«Roe v. Wade»-Ära einzelne Bundesstaaten, ihre Gesetzgebung über die eigenen Staatsgrenzen hinweg anderen Bundesstaaten aufzuzwingen.
«Pionierhaft» bei diesem Vorgehen war Texas. Bereits 2021 hat man dort ein De-facto-Abtreibungsverbot ab der 6. Schwangerschaftswoche beschlossen – das es zudem Privatpersonen ermöglicht, in Texas jeden zu verklagen, der einer Schwangeren bei diesem «Verbrechen» hilft: von der Ärztin, die den Abbruch vornimmt, über die NGO, die ihn finanziert, bis hin zum Taxifahrer, der sie zur Klinik fährt. Mindestens 10’000 Dollar können sich so pro Abtreibung erklagen lassen. Allerdings wurde bisher kein einziger solcher Fall vor Gericht getragen, weil viele Kliniken aus Angst sofort die Arbeit einstellten.
Nun wollen jedoch konservative Politikerinnen das Texas-Modell erweitern. In ihrer Vorstellung sollen Privatpersonen neu auch Helfer aus Abtreibungsstaaten verklagen können, sofern diese Bürgerinnen aus Bundesstaaten, in denen Abtreibung illegal ist, beim Schwangerschaftsabbruch unterstützen.
In den abtreibungsfreundlichen Staaten braucht es laut Cohen, Donley und Rebouché deswegen jetzt «Schutzgesetze». Sie sollen die Nichtkooperation mit anderen Staaten sicherstellen: Lokale Strafverfolgungsbehörden sollen in solchen Verfahren nicht gegen lokale Anbieter ermitteln, Gerichte keine Vorladungen von Anti-Abtreibungsstaaten anerkennen. Ende Gelände. In Connecticut hat Gouverneur Ned Lamont das erste Gesetz dieser Art bereits im Mai verabschiedet.
Der Fötus als Mordopfer
Doch die Kriminalisierung über Bundesstaatsgrenzen hinweg ist nicht die einzige Verschärfungsstrategie der Abtreibungsgegnerinnen. «In der Vergangenheit haben sich Abtreibungsgesetze immer auf diejenigen konzentriert, die den Eingriff durchführen, nie auf die Frauen, die sich ihm unterziehen», erklärt die Rechtsprofessorin Cynthia Soohoo von der New Yorker CUNY School of Law per Mail: «Allerdings missbrauchen Staatsanwälte diese Gesetze auch, um gegen Schwangere vorzugehen, und wir beobachten, dass einige Staaten Gesetze vorschlagen, die ausdrücklich die Schwangeren kriminalisieren würden, die Abtreibungen vornehmen lassen.»
Es gebe zwei Arten, wie die Frauen belangt werden können, erklärt Soohoo: entweder durch ein Abtreibungsverbot oder indem der Staat Föten als Mordopfer definiert. So gehört es zu den Zielen der Abtreibungsgegner, befruchteten Eizellen vollwertigen Rechtsstatus zu geben. Das würde nicht nur Abtreibungen verbieten, sondern auch einige Verhütungsmethoden wie etwa die Spirale.
Bereits jetzt gibt es in mindestens 38 Staaten Gesetze, die dieser Ultimativforderung sehr nahe kommen, indem sie es kriminalisieren, dem Fötus zu schaden. Ursprünglich waren diese Gesetze dazu gedacht, Schwangere verstärkt vor Gewalt durch Dritte zu schützen. Doch in der Praxis werden sie gegen die Frauen selbst angewandt.
Wie absurd das ist, zeigt der Fall von Marshae Jones sehr anschaulich. Im Dezember 2019 wurde die 28-Jährige aus Alabama bei einem Streit im 5. Monat angeschossen. Das Baby starb, und Jones wurde wegen Totschlags angeklagt, weil sie den Streit nicht nur angezettelt haben soll, sondern es auch versäumt hatte, sich und ihren Bauch aus der Schusslinie zu bringen.
Der Fall Jones demonstriert, wie sehr sich die Lage für schwangere Frauen in den USA bereits vor der Entscheidung des Supreme Courts verschärft hatte. So wurden zwischen 2006 und 2020 rund 1300 Frauen im Zusammenhang mit ihrer Schwangerschaft strafrechtlich verfolgt, gut dreimal so viele wie in den 33 Jahren davor, recherchierte die Organisation National Advocates for Pregnant Women. Expertinnen rechnen damit, dass sich diese Zahl nun vervielfachen wird. Längst feilen Abtreibungsgegner an Vorschlägen, wie Frauen das Reisen in abtreibungsfreundliche Staaten untersagt werden könnte.
In dem Podcast «This American Life» offenbart ein Abtreibungsgegner, wie einfallsreich und kreativ die Fanatikerinnen inzwischen werden können: Es sei jedem klar, dass Frauen nicht das Reisen zwischen Bundesstaaten verboten werden könne, meinte er. Doch was, wenn man behaupten würde, dass der Fötus als Bürger des jeweiligen Bundesstaates genauso wenig wie jeder andere Minderjährige über die Staatsgrenze gebracht werden dürfe, wenn ihm dann dort eine Gefahr drohe? «In anderen Kontexten wie Menschenhandel oder Kindesmissbrauch würde niemand bestreiten, dass der Heimatstaat für den Schutz dieses Kindes zuständig ist», führt der Abtreibungsgegner im Podcast aus.
Im Supreme Court wurden derartige Gedankenexperimente bereits gewälzt – und abgelehnt. Sie scheinen selbst den republikanischen Richtern zu weit zu gehen. Unmittelbar nach der Entscheidung bezog Brett Kavanaugh – der von Trump eingesetzte Richter, welcher der versuchten Vergewaltigung beschuldigt wurde – zu dieser Frage Stellung. Es gebe keine Anhaltspunkte in der amerikanischen Verfassung, dass es Frauen verboten sei, für Abtreibungen in andere Bundesstaaten zu reisen. Ausserdem wies das oberste Gericht Mitte Oktober eine Gruppe katholischer Klägerinnen ab, die klären lassen wollten, ob Föten verfassungsmässige Rechte zustehen.
Republikanischer Vorsprung in Umfragen
Aufatmen können Amerikas Frauen deswegen aber noch lange nicht. Das Damoklesschwert eines nationalen Abtreibungsverbots hängt gefährlich locker. Der Republikaner Lindsey Graham, Senator des Bundesstaates South Carolina, preschte im September mit dem Vorschlag vor, Abtreibungen ab der 15. Schwangerschaftswoche landesweit zu verbieten. Prompt wurde er von Fraktionskollegen zurückgepfiffen. Das Verbot ging ihnen nicht weit genug.
Grahams Vorschlag war der erste republikanische Vorstoss dieser Art im aktuellen Wahlkampf. Eigentlich hatte sich die Partei nach dem Supreme-Court-Urteil bei dem Thema zurückgehalten. Sie hätten sich regelrecht gedrückt, findet Brigid Leahy von Planned Parenthood Illinois. «Sie tauchten nicht mehr zu Debatten oder Veranstaltungen auf», erzählt sie. «Ich denke, dass sie begriffen haben, dass sie für die amerikanische Öffentlichkeit zu weit gegangen sind.»
Das Referendum in Kansas war ein Beweis dafür. Wenige Wochen nach der Entscheidung des Supreme Courts stimmten dort fast 60 Prozent der Wahlberechtigten dafür, das Recht auf Abtreibung aufrechtzuerhalten. Es war das erste Votum dieser Art nach dem 24. Juni, und zwar ausgerechnet in einem traditionell konservativen Bundesstaat mit einer dunklen Geschichte: 2009 wurde hier der Arzt George Tiller, Spezialist für Schwangerschaftsabbrüche, bei einem Gottesdienstbesuch von einem Abtreibungsgegner ermordet.
Die Republikaner hielten sich im Sommer also zunächst bedeckt und setzten auf ihre altbewährten Themen: Wirtschaft, Immigration und Kriminalität. Das zog. In den Umfragen haben sie nach einem kurzen Durchhänger die Demokraten nun wieder überholt. Es sieht jetzt ganz so aus, als würden sie die Wahlen am 8. November gewinnen. Der Worst Case eines nationalen Abtreibungsverbots scheint nicht mehr weit.
Und was dann? Zu welchen Mitteln werden die Frauen greifen? Werden sie sich zu helfen wissen?
Ab in den Untergrund
Im Ausland ist man irritiert über die Gesetzestreue der Amerikanerinnen in Sachen Abtreibung. Zu sehr hätten sie immer ihrem Rechtsstaat vertraut, der Unerschütterlichkeit von «Roe v. Wade», und auf ein Back-up verzichtet, findet die mexikanische Frauenrechtlerin Verónica Cruz Sánchez. Ihre Organisation Las Libras aus Guanajuato, Mexiko, wo Abtreibungen bis 2021 verboten waren, hat über Jahre ein informelles Netzwerk aufgebaut und Methoden gefunden, einen Staat, der seinen Frauen den Krieg erklärt hat, auszutricksen und Betroffenen beim medikamentösen Schwangerschaftsabbruch zu helfen.
So organisieren Las Libras Abtreibungspillen von Spendern, die sie dann kostenlos an Betroffene verschicken. Danach werden die Frauen bei jedem Schritt von einer Mitarbeiterin – oder einer Freiwilligen, die selbst auf diese Weise abgetrieben hat – betreut und beraten. Längst operieren Las Libras in den USA und sind zu einer der wichtigsten Anlaufstellen für Amerikas Frauen geworden.
Ähnlich auch die Organisation Aid Access der niederländischen Ärztin Rebecca Gomperts, die online Konsultationen anbietet und Frauen bis zur 12. Schwangerschaftswoche dann die Abtreibungspillen über eine indische Apotheke zuschickt. Las Libras verzichtet ganz auf die ärztliche Supervision. Frei nach dem Motto: Wenn Frauen Fehlgeburten alleine bewältigen können, schaffen sie es auch, alleine abzutreiben. Ist das die Zukunft? Müssen die Amerikanerinnen langsam damit beginnen, sich im Untergrund zu organisieren? Hat ihnen der Supreme Court nicht auch den Krieg erklärt?
Zum Porträt von Rebecca Gomperts: «Es braucht keine Entschuldigung für eine Abtreibung»
Rebecca Gomperts ist eine Ikone der internationalen Abtreibungsbewegung. Weil der Supreme Court das Recht auf Abtreibung gekippt hat, ist die niederländische Ärztin nun Anlaufstelle für verzweifelte Frauen aus den USA. Für viele die einzige. Das Porträt lesen Sie hier.
«Gewissermassen ja», sagt Brigid Leahy von Planned Parenthood. Sie lächelt ein wenig gequält in die Kamera des Zoom-Calls. Trotzdem – der Untergrund sei nicht der Ort, wo sie sich bewegten. «Wir müssen sehr darauf achten, dass es nicht so aussieht, als würden wir die Leute anstiften, das Gesetz zu brechen», stellt sie klar.
Auch wenn eine flexible Interpretation des Gesetzes gerade in Illinois Tradition hat. 1965 wurde hier das berühmte Jane-Kollektiv gegründet. Eine Gruppe «normaler Frauen», wie sie sich in der Doku «The Janes» selbst bezeichnen, aber eben auch «Krimineller», weil sie anderen bei Abtreibungen halfen. In ganz Chicago wurden Flugzettel verteilt, mit den Worten «Schwanger? Ruf Jane an!».
Niemand hiess Jane, es war nur der Codename, unter dem die Aktivistinnen einen Anrufbeantworter bedienten, auf dem die Hilfesuchenden ihren Namen, die Telefonnummer und das Datum der letzten Periode hinterlassen sollten. In der Folge wurden sie kontaktiert und mit verbundenen Augen an den Ort gefahren, wo ein Arzt die Abtreibung durchführte. Als die Janes feststellten, dass einer ihrer Vertrauensärzte gar keine medizinische Ausbildung hatte, liessen sie sich in chirurgischen Schwangerschaftsabbrüchen schulen – und führten sie selbst aus. 11’000 solcher Eingriffe sollen sie vorgenommen haben.
Ihre Geschichte ist derzeit im Film «Call Jane» mit Sigourney Weaver und Elizabeth Banks in den Hauptrollen zu sehen. Pünktlich zu den midterms. Vielleicht wird er als Inspiration für die Zeit nach dem 8. November dienen. Schlimmstenfalls wird er das müssen.