Verzweifelte schwangere Frauen, die nicht legal abtreiben können, benutzen den berüchtigten Drahtkleider­bügel, was Komplikationen bis hin zum Tod verursachen kann. In den USA könnte er wieder vermehrt zum Einsatz kommen. Der Drahtkleider­bügel dient auch als Symbol der Pro-Choice-Bewegung.

Bleibt Amerikas Frauen nur der Untergrund?

Gewinnen die Republikaner am 8. November die Zwischen­wahlen für den US-Kongress, droht ein nationales Abtreibungs­verbot. Doch es formiert sich Widerstand. Auf allen Ebenen.

Von Solmaz Khorsand (Text) und Laia Abril (Bilder), 07.11.2022

Vorgelesen von Dominique Barth
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«Der Ausgang dieser Wahl wird über unsere Freiheit bestimmen», sagt Sara Spain am Ende des Zoom-Calls. Es ist so ein Satz, den Menschen im Wahl­kampf schnell einmal sagen, um mit übertriebener Dringlichkeit noch die letzte Wählerin zu mobilisieren. Spain ist Sprecherin von «Emily’s List», einem Political Action Committee. Es ist eine dieser berühmten amerikanischen Lobby­gruppen, die viel Geld ausgeben, um Kandidaten, die eine bestimmte Agenda verfolgen, in politische Ämter zu hieven.

So auch bei diesen midterm elections, den Kongress­wahlen am 8. November. Emily’s List unterstützt seit 1985 ausschliesslich Demokratinnen. Und zwar diejenigen, die sich explizit für eine bestimmte Sache stark­machen: Abtreibungs­rechte.

Die werden dieses Mal an der Wahl­urne verhandelt. Spätestens seit dem 24. Juni, als die republikanischen Richter im Supreme Court beschlossen hatten, das Leiturteil «Roe v. Wade» und damit das in der Verfassung garantierte Recht auf Abtreibung nach 50 Jahren zu kippen, ist es vielen unheimlich. Die Befürchtung: ein nationales Abtreibungs­verbot. Die ersten Entwürfe dafür gibt es bereits.

«Wenn die Republikaner den Kongress gewinnen, steht alles auf dem Spiel», warnt Sara Spain, «auch in den Staaten, in denen Schwangerschafts­abbrüche jetzt noch erlaubt sind.»

Daher die dringlichen Appelle demokratischer Politiker, von Präsident Joe Biden abwärts: Wählt Demokratinnen in den Kongress, lasst uns die Wahlen gewinnen, es geht um eure Freiheit! «Wenn wir das tun, dann ist das hier mein Versprechen an euch und das amerikanische Volk: Das erste Gesetz, das ich dem Kongress schicken werde, wird ‹Roe v. Wade› festschreiben», kündigte Biden Mitte Oktober an.

Es ist ein grosses «Wenn». Schon jetzt hat seine Partei nur eine hauch­dünne Mehrheit im Kongress. Im Repräsentanten­haus, bestehend aus 435 Abgeordneten, sind es gerade einmal 9 Demokraten, die den Unterschied machen. Und im Senat mit seinen 100 Mitgliedern nicht einmal das. Dort verhilft nur die Regelung, dass bei einem Patt von 50 zu 50 die Vize­präsidentin Kamala Harris den Stich­entscheid hat, den Demokraten zur knappest­möglichen Vormacht.

Ob diese nach den Zwischen­wahlen gehalten, gar ausgeweitet werden kann, ist fraglich. Die midterms sind in der Regel ein Stimmungs­test, der zwei Jahre nach der Präsidentschafts­wahl feststellen soll, wie sich der Neue im Amt so macht. Damit werden sie meist zum Denkzettel­wahlkampf gegen die amtierende Administration.

Väter fürchten um ihre Töchter

Doch das Urteil des Supreme Courts hat dieses Mal die Dynamik verändert. So schien es phasen­weise jedenfalls. Zu radikal war die Entscheidung vielen Amerikanern, 57 Prozent missbilligten sie. Sie begreifen, was es konkret zu bedeuten hat, wenn das Recht auf Abtreibung für Frauen nicht länger verfassungs­rechtlich verankert ist, sondern outgesourct wird an die einzelnen Bundes­staaten. Schon am Tag nach dem Urteil traten die ersten trigger laws in Kraft, die in 13 von 50 Staaten Abtreibungen fast vollständig verbieten – oft auch im Falle von Vergewaltigung und Inzest.

Selbst manchen republikanisch gesinnten Vätern geht das zu weit. Etwa wenn sie Töchter unter 18 Jahren haben. In Interviews haben solche Wähler gestanden, dass sie es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren können, ihrer Stamm­partei die Stimme zu geben, solange diese ihre Tochter im Falle einer Schwanger­schaft durch eine Vergewaltigung dazu zwingen will, das Kind auszutragen. Haben früher solche Männer ihre Wahl­entscheidung in erster Linie an der Positionierung zu Waffen­gesetzen, Steuer­erleichterung und Immigration fest­gemacht, so priorisieren sie nun zum ersten Mal die reproduktive Gesundheit. Ein Novum.

Darauf setzen die Demokraten und wagen es zum ersten Mal, mit dem Thema Abtreibung offensiv Kampagne zu machen. Allein in den ersten 50 Tagen nach der Supreme-Court-Entscheidung gaben sie mit knapp 32 Millionen Dollar 32-mal so viel für Wahlkampf­werbung zum Thema Abtreibungs­rechte aus wie vier Jahre zuvor, fast 8-mal so viel wie die republikanische Konkurrenz.

In Spots beschwören sie Worst-Case-Szenarien: Frauen, die nach Fehlgeburten – die von medikamentösen Schwangerschafts­abbrüchen nicht zu unterscheiden sind – hinter Gitter kommen, weil die Behörden ihnen illegale Abtreibungen unter­stellen. Vergewaltigte, die gezwungen werden, zu gebären. Schwangere, die ihr Leben verlieren, weil republikanische Kandidatinnen nicht einmal dann eine Abtreibung zulassen wollen, wenn das Leben der Mutter durch eine Schwangerschaft gefährdet wird. Worst-Case-Szenarien, die vielerorts bereits bedrohlich nahe an der Realität sind.

So erzählen Ärztinnen unter Tränen, dass sie ihrer Pflicht zum Retten von Menschen­leben nicht länger nachkommen dürfen und ihren gefährdeten Patientinnen raten müssen, so schnell wie möglich über die Grenze in den nächsten Bundes­staat zu fahren, wo Abtreibungen noch legal sind.

Die «Abtreibungs­oase» hat vorgesorgt

Illinois ist so ein Bundes­staat. Er wird auch die «Abtreibungs­oase» des Mittleren Westens genannt. «Wir sind zu einer Insel geworden, umgeben von Staaten, die Abtreibungen verboten haben», erzählt Brigid Leahy von Planned Parenthood. Die Non-Profit-Organisation hat 650 Kliniken im ganzen Land und ist der grösste Anbieter von Abtreibungen in den USA.

Leahy ist Vize­präsidentin der Public-Policy-Sektion der Organisation in Illinois, des Planned Parenthood Action Fund, der sich auf politischer Ebene für Reproduktions­rechte stark­macht. Das Urteil des Supreme Courts war für Leahy keine Überraschung. Man habe sich schon früh auf den 24. Juni eingestellt, erzählt sie. Mit der Wahl von Donald Trump war klar, in welche Richtung die Besetzungen am höchsten Gericht gehen würden. Spätestens als der Richter Anthony Kennedy im Juli 2018 in den Ruhestand ging, wussten sie bei Planned Parenthood, dass sie sich für die Zeit nach «Roe v. Wade» wappnen müssen. Legal wie organisatorisch.

Magdalena, 32, aus Polen: «Nach den Pillen habe ich mehrmals geduscht und meine Hygienebinden mehrmals gewechselt. Wir haben einen Film geschaut, danach habe ich viel geschlafen. Aber die Blutungen haben nicht aufgehört. Ich war besorgt und rief meinen Arzt an. Er meinte, es sei wohl noch nicht alles draussen, und riet mir, weitere Pillen und Antibiotika zu nehmen. Das zweite Mal war es ein Horror. Ich war buchstäblich am Gebären. Ich war erschöpft. Danach blieben immer noch Blutklumpen im Uterus zurück. Sie mussten mit einer Ausschabung entfernt werden.»

Zu den Bildern

Während der Republik-Beitrag auf das Abtreibungs­recht in den USA eingeht, zeigen die Bilder eine internationale Perspektive auf das Thema. Die Serie stammt von der in Barcelona lebenden Fotografin Laia Abril, die sich in ihrer Arbeit intensiv mit Frauen­themen befasst. Die Bilder sind Teil des Langzeit­projekts «A History of Misogyny» («Eine Geschichte der Frauen­feindlichkeit»), bei dem auch die Geschichten von Betroffenen aufgearbeitet werden.

Also lobbyierte die Organisation dafür, das Recht auf Abtreibung in Illinois auf Bundesstaats­ebene zu verankern. 2019 ist das gelungen. Ausserdem begann Planned Parenthood, neue Kliniken zu bauen, und zwar dort, wo es in einer Post-«Roe v. Wade»-Ära den meisten Nutzen haben würde: nahe den Staats­grenzen.

Schon vor dem Richtungs­entscheid des Supreme Courts waren viele Frauen aus den Nachbar­staaten für Behandlungen nach Illinois gekommen, danach explodierten die Anfragen. Waren es vor dem Urteil rund 100 Patientinnen gewesen, kamen im Juli bereits 800, und zwar aus 30 unterschiedlichen Bundes­staaten – aus doppelt so vielen Staaten wie davor.

Der Ansturm führt heute zu Verzögerungen. Haben Frauen früher innerhalb von drei bis vier Tagen einen Termin bekommen, müssen sie nun bis zu drei Wochen warten, wodurch sich die Eingriffe verkomplizieren. Ein Abbruch in der 10. Schwangerschafts­woche ist einfacher als einer in der 16. Und auch billiger. Je weiter fortgeschritten die Schwangerschaft ist, desto komplizierter und teurer wird die Abtreibung.

Mittlerweile übersteigen jedoch die logistischen Kosten ohnehin jene des Eingriffes selbst. Vor dem 24. Juni hat ein Schwangerschafts­abbruch im günstigeren Fall 560 Dollar gekostet, heute kommt er locker auf 2300 Dollar. Es müssen nun Flug­tickets, Sprit, Hotel­unterkunft und Kinder­betreuung für einen mehrtägigen Trip eingerechnet werden.

Auch darauf hat sich Planned Parenthood vorbereitet: Im Süden von Illinois, in Fairview Heights, betreibt die Organisation gemeinsam mit der Hope Clinic for Women seit Januar ein «regionales Logistik­zentrum», das sich ausschliesslich um die finanzielle und organisatorische Abwicklung von Schwangerschafts­abbrüchen kümmert. Es werden Spenden­gelder angezapft, die für Teil­finanzierungen infrage kommen, Coupons für Benzin­geld organisiert, Privat­personen angefragt, die bereit sind, für einige Tage ihre eigene Wohnung kostenlos zur Beherbergung von Patientinnen zur Verfügung zu stellen.

Amerikas Widerstand

Planned Parenthood ist nicht der einzige Akteur, der den Frauen in diesem neuen Amerika zur Seite steht. Man ist kreativ geworden.

Privat­piloten melden sich bei Elevated Access, um Frauen in Klein­flugzeugen kostenlos von einem Bundes­staat in den nächsten zu fliegen.

Die Organisation Just the Pill hat angekündigt, bis Ende des Jahres mehrere Vans zu mobilen Abtreibungs­kliniken aufzurüsten – unter anderem mit Panzer­glas – und vor den Grenzen abtreibungs­feindlicher Staaten getarnt zu patrouillieren.

In Kalifornien versucht eine Ärztin Millionen Dollar zu sammeln, um demnächst mit einer Abtreibungs­jacht im Golf von Mexiko in inter­nationalen Gewässern vor den Grenzen der Süd­staaten Schwangerschafts­abbrüche durchzuführen. Amerikas Widerstand formiert sich.

Abtreibungs­drohne: Im Juni 2015 hatte diese Drohne der Organisation «Women on Waves» ihren Jungfern­flug von Frankfurt an der Oder nach Słubice in Polen. Mit an Bord: Abtreibungs­pillen. Abtreibungen sind in den meisten EU-Ländern legal, aber nicht in Polen. Offiziell gibt es in Polen (Einwohner­zahl: 38 Millionen) weniger als 2000 Abtreibungen im Jahr. Die Dunkel­ziffer wird jedoch auf etwa 200’000 geschätzt.

Auch in der Justiz. So haben 92 Staats- und General­staatsanwälte in einer gemeinsamen Erklärung festgehalten, dass sie Schwangerschafts­abbrüche nicht strafrechtlich verfolgen werden. Sie nannten die Kriminalisierung der Abtreibung «eine Verhöhnung der Justiz». Abtreibungs­verbote durchzusetzen, widerspreche ihrer Verpflichtung, «die Sicherheit und das Wohl­ergehen aller Mitglieder ihrer Gemeinschaft zu schützen», und würde nicht nur Opfer sexueller Gewalt retraumatisieren, sondern auch das Vertrauen in den Rechts­staat unter­graben.

Und es geht weiter: Die drei Rechts­professorinnen David S. Cohen, Greer Donley und Rachel Rebouché haben in der «Columbia Law Review» bereits im Februar einen Gesetzes­vorschlag formuliert, der der Kriminalisierung der Helfer Einhalt gebieten soll. Gemäss den drei Juristen versuchen in der neuen Post-«Roe v. Wade»-Ära einzelne Bundes­staaten, ihre Gesetz­gebung über die eigenen Staats­grenzen hinweg anderen Bundes­staaten aufzuzwingen.

«Pionierhaft» bei diesem Vorgehen war Texas. Bereits 2021 hat man dort ein De-facto-Abtreibungs­verbot ab der 6. Schwangerschafts­woche beschlossen – das es zudem Privat­personen ermöglicht, in Texas jeden zu verklagen, der einer Schwangeren bei diesem «Verbrechen» hilft: von der Ärztin, die den Abbruch vornimmt, über die NGO, die ihn finanziert, bis hin zum Taxi­fahrer, der sie zur Klinik fährt. Mindestens 10’000 Dollar können sich so pro Abtreibung erklagen lassen. Allerdings wurde bisher kein einziger solcher Fall vor Gericht getragen, weil viele Kliniken aus Angst sofort die Arbeit einstellten.

Nun wollen jedoch konservative Politikerinnen das Texas-Modell erweitern. In ihrer Vorstellung sollen Privat­personen neu auch Helfer aus Abtreibungs­staaten verklagen können, sofern diese Bürgerinnen aus Bundes­staaten, in denen Abtreibung illegal ist, beim Schwangerschafts­abbruch unterstützen.

In den abtreibungs­freundlichen Staaten braucht es laut Cohen, Donley und Rebouché deswegen jetzt «Schutz­gesetze». Sie sollen die Nicht­kooperation mit anderen Staaten sicher­stellen: Lokale Strafverfolgungs­behörden sollen in solchen Verfahren nicht gegen lokale Anbieter ermitteln, Gerichte keine Vorladungen von Anti-Abtreibungs­staaten anerkennen. Ende Gelände. In Connecticut hat Gouverneur Ned Lamont das erste Gesetz dieser Art bereits im Mai verabschiedet.

Der Fötus als Mordopfer

Doch die Kriminalisierung über Bundesstaats­grenzen hinweg ist nicht die einzige Verschärfungs­strategie der Abtreibungs­gegnerinnen. «In der Vergangenheit haben sich Abtreibungs­gesetze immer auf diejenigen konzentriert, die den Eingriff durchführen, nie auf die Frauen, die sich ihm unterziehen», erklärt die Rechts­professorin Cynthia Soohoo von der New Yorker CUNY School of Law per Mail: «Allerdings missbrauchen Staats­anwälte diese Gesetze auch, um gegen Schwangere vorzugehen, und wir beobachten, dass einige Staaten Gesetze vorschlagen, die ausdrücklich die Schwangeren kriminalisieren würden, die Abtreibungen vornehmen lassen.»

Es gebe zwei Arten, wie die Frauen belangt werden können, erklärt Soohoo: entweder durch ein Abtreibungs­verbot oder indem der Staat Föten als Mord­opfer definiert. So gehört es zu den Zielen der Abtreibungs­gegner, befruchteten Ei­zellen vollwertigen Rechts­status zu geben. Das würde nicht nur Abtreibungen verbieten, sondern auch einige Verhütungs­methoden wie etwa die Spirale.

Bereits jetzt gibt es in mindestens 38 Staaten Gesetze, die dieser Ultimativ­forderung sehr nahe kommen, indem sie es kriminalisieren, dem Fötus zu schaden. Ursprünglich waren diese Gesetze dazu gedacht, Schwangere verstärkt vor Gewalt durch Dritte zu schützen. Doch in der Praxis werden sie gegen die Frauen selbst angewandt.

Angezeigt wegen illegaler Abtreibung: Im Februar 2015 nahm eine 19-jährige schwangere Frau in Brasilien Abtreibungs­pillen ein. Daraufhin bekam sie Unterleibs­schmerzen und musste ins Spital gebracht werden. Nach der Behandlung rief der Arzt die Polizei und sagte, er werde den Fötus obduzieren, wenn sie nicht zugebe, dass sie abgetrieben habe. Die Frau wurde mit Hand­schellen an ihr Bett gefesselt und erst nach der Zahlung einer Kaution freigelassen. Denunziation durch Ärzte ist in Brasilien, Peru oder El Salvador keine Seltenheit.

Wie absurd das ist, zeigt der Fall von Marshae Jones sehr anschaulich. Im Dezember 2019 wurde die 28-Jährige aus Alabama bei einem Streit im 5. Monat angeschossen. Das Baby starb, und Jones wurde wegen Totschlags angeklagt, weil sie den Streit nicht nur angezettelt haben soll, sondern es auch versäumt hatte, sich und ihren Bauch aus der Schuss­linie zu bringen.

Der Fall Jones demonstriert, wie sehr sich die Lage für schwangere Frauen in den USA bereits vor der Entscheidung des Supreme Courts verschärft hatte. So wurden zwischen 2006 und 2020 rund 1300 Frauen im Zusammen­hang mit ihrer Schwanger­schaft strafrechtlich verfolgt, gut dreimal so viele wie in den 33 Jahren davor, recherchierte die Organisation National Advocates for Pregnant Women. Expertinnen rechnen damit, dass sich diese Zahl nun vervielfachen wird. Längst feilen Abtreibungs­gegner an Vorschlägen, wie Frauen das Reisen in abtreibungs­freundliche Staaten untersagt werden könnte.

In dem Podcast «This American Life» offenbart ein Abtreibungs­gegner, wie einfallsreich und kreativ die Fanatikerinnen inzwischen werden können: Es sei jedem klar, dass Frauen nicht das Reisen zwischen Bundes­staaten verboten werden könne, meinte er. Doch was, wenn man behaupten würde, dass der Fötus als Bürger des jeweiligen Bundes­staates genauso wenig wie jeder andere Minder­jährige über die Staats­grenze gebracht werden dürfe, wenn ihm dann dort eine Gefahr drohe? «In anderen Kontexten wie Menschen­handel oder Kindes­missbrauch würde niemand bestreiten, dass der Heimat­staat für den Schutz dieses Kindes zuständig ist», führt der Abtreibungs­gegner im Podcast aus.

Im Supreme Court wurden derartige Gedanken­experimente bereits gewälzt – und abgelehnt. Sie scheinen selbst den republikanischen Richtern zu weit zu gehen. Unmittelbar nach der Entscheidung bezog Brett Kavanaugh – der von Trump eingesetzte Richter, welcher der versuchten Vergewaltigung beschuldigt wurde – zu dieser Frage Stellung. Es gebe keine Anhalts­punkte in der amerikanischen Verfassung, dass es Frauen verboten sei, für Abtreibungen in andere Bundes­staaten zu reisen. Ausserdem wies das oberste Gericht Mitte Oktober eine Gruppe katholischer Klägerinnen ab, die klären lassen wollten, ob Föten verfassungs­mässige Rechte zustehen.

Republikanischer Vorsprung in Umfragen

Aufatmen können Amerikas Frauen deswegen aber noch lange nicht. Das Damokles­schwert eines nationalen Abtreibungs­verbots hängt gefährlich locker. Der Republikaner Lindsey Graham, Senator des Bundes­staates South Carolina, preschte im September mit dem Vorschlag vor, Abtreibungen ab der 15. Schwangerschafts­woche landesweit zu verbieten. Prompt wurde er von Fraktions­kollegen zurück­gepfiffen. Das Verbot ging ihnen nicht weit genug.

Grahams Vorschlag war der erste republikanische Vorstoss dieser Art im aktuellen Wahl­kampf. Eigentlich hatte sich die Partei nach dem Supreme-Court-Urteil bei dem Thema zurück­gehalten. Sie hätten sich regelrecht gedrückt, findet Brigid Leahy von Planned Parenthood Illinois. «Sie tauchten nicht mehr zu Debatten oder Veranstaltungen auf», erzählt sie. «Ich denke, dass sie begriffen haben, dass sie für die amerikanische Öffentlichkeit zu weit gegangen sind.»

Das Referendum in Kansas war ein Beweis dafür. Wenige Wochen nach der Entscheidung des Supreme Courts stimmten dort fast 60 Prozent der Wahl­berechtigten dafür, das Recht auf Abtreibung aufrecht­zuerhalten. Es war das erste Votum dieser Art nach dem 24. Juni, und zwar ausgerechnet in einem traditionell konservativen Bundes­staat mit einer dunklen Geschichte: 2009 wurde hier der Arzt George Tiller, Spezialist für Schwangerschafts­abbrüche, bei einem Gottesdienst­besuch von einem Abtreibungs­gegner ermordet.

Die Republikaner hielten sich im Sommer also zunächst bedeckt und setzten auf ihre altbewährten Themen: Wirtschaft, Immigration und Kriminalität. Das zog. In den Umfragen haben sie nach einem kurzen Durch­hänger die Demokraten nun wieder überholt. Es sieht jetzt ganz so aus, als würden sie die Wahlen am 8. November gewinnen. Der Worst Case eines nationalen Abtreibungs­verbots scheint nicht mehr weit.

Und was dann? Zu welchen Mitteln werden die Frauen greifen? Werden sie sich zu helfen wissen?

Ab in den Untergrund

Im Ausland ist man irritiert über die Gesetzes­treue der Amerikanerinnen in Sachen Abtreibung. Zu sehr hätten sie immer ihrem Rechtsstaat vertraut, der Unerschütterlichkeit von «Roe v. Wade», und auf ein Back-up verzichtet, findet die mexikanische Frauen­rechtlerin Verónica Cruz Sánchez. Ihre Organisation Las Libras aus Guanajuato, Mexiko, wo Abtreibungen bis 2021 verboten waren, hat über Jahre ein informelles Netzwerk aufgebaut und Methoden gefunden, einen Staat, der seinen Frauen den Krieg erklärt hat, auszutricksen und Betroffenen beim medikamentösen Schwangerschafts­abbruch zu helfen.

So organisieren Las Libras Abtreibungs­pillen von Spendern, die sie dann kostenlos an Betroffene verschicken. Danach werden die Frauen bei jedem Schritt von einer Mitarbeiterin – oder einer Freiwilligen, die selbst auf diese Weise abgetrieben hat – betreut und beraten. Längst operieren Las Libras in den USA und sind zu einer der wichtigsten Anlauf­stellen für Amerikas Frauen geworden.

Ähnlich auch die Organisation Aid Access der niederländischen Ärztin Rebecca Gomperts, die online Konsultationen anbietet und Frauen bis zur 12. Schwangerschafts­woche dann die Abtreibungs­pillen über eine indische Apotheke zuschickt. Las Libras verzichtet ganz auf die ärztliche Super­vision. Frei nach dem Motto: Wenn Frauen Fehl­geburten alleine bewältigen können, schaffen sie es auch, alleine abzutreiben. Ist das die Zukunft? Müssen die Amerikanerinnen langsam damit beginnen, sich im Untergrund zu organisieren? Hat ihnen der Supreme Court nicht auch den Krieg erklärt?

Zum Porträt von Rebecca Gomperts: «Es braucht keine Entschuldigung für eine Abtreibung»

Rebecca Gomperts ist eine Ikone der internationalen Abtreibungs­bewegung. Weil der Supreme Court das Recht auf Abtreibung gekippt hat, ist die nieder­ländische Ärztin nun Anlauf­stelle für verzweifelte Frauen aus den USA. Für viele die einzige. Das Porträt lesen Sie hier.

«Gewisser­massen ja», sagt Brigid Leahy von Planned Parenthood. Sie lächelt ein wenig gequält in die Kamera des Zoom-Calls. Trotzdem – der Untergrund sei nicht der Ort, wo sie sich bewegten. «Wir müssen sehr darauf achten, dass es nicht so aussieht, als würden wir die Leute anstiften, das Gesetz zu brechen», stellt sie klar.

Auch wenn eine flexible Interpretation des Gesetzes gerade in Illinois Tradition hat. 1965 wurde hier das berühmte Jane-Kollektiv gegründet. Eine Gruppe «normaler Frauen», wie sie sich in der Doku «The Janes» selbst bezeichnen, aber eben auch «Krimineller», weil sie anderen bei Abtreibungen halfen. In ganz Chicago wurden Flug­zettel verteilt, mit den Worten «Schwanger? Ruf Jane an!».

Niemand hiess Jane, es war nur der Code­name, unter dem die Aktivistinnen einen Anruf­beantworter bedienten, auf dem die Hilfe­suchenden ihren Namen, die Telefon­nummer und das Datum der letzten Periode hinter­lassen sollten. In der Folge wurden sie kontaktiert und mit verbundenen Augen an den Ort gefahren, wo ein Arzt die Abtreibung durch­führte. Als die Janes feststellten, dass einer ihrer Vertrauens­ärzte gar keine medizinische Ausbildung hatte, liessen sie sich in chirurgischen Schwangerschafts­abbrüchen schulen – und führten sie selbst aus. 11’000 solcher Eingriffe sollen sie vorgenommen haben.

Ihre Geschichte ist derzeit im Film «Call Jane» mit Sigourney Weaver und Elizabeth Banks in den Haupt­rollen zu sehen. Pünktlich zu den midterms. Vielleicht wird er als Inspiration für die Zeit nach dem 8. November dienen. Schlimmsten­falls wird er das müssen.

Fehlgeburt auslösen: Lokale Kräuter wie Weinraute oder Chipilin werden von Frauen in El Salvador als Aufguss benutzt, um im ersten Trimester eine Abtreibung einzuleiten. Es gibt eine lange Liste von Ingredienzen, die oral eingenommen werden und angeblich eine Fehlgeburt einleiten, sie gehen zurück bis auf die Zeit des Hippokrates. Beispiele: Klee gemischt mit Weisswein, spritzende Gurke, stinkender Iris, Bierhefe, Melone, Aloe, Papaya, zerdrückte Ameisen, Kamelhaar, Blei. Oder, als Alternative: selbst­verhungern.