Plötzlich grün
Wer sein Geld grün und nachhaltig investieren will, dem bietet die Finanzbranche massgeschneiderte Produkte an. Doch neuerdings werden auch Konzerne als grün definiert, die bisher als Dreckschleudern galten. Was läuft da falsch?
Von Beat Schmid, 03.11.2022
An Möglichkeiten fehlt es nicht. Die Finanzbranche hat auf den wachsenden Wunsch vieler Menschen nach grünen Investitionen reagiert. Unzählige klimafreundliche Anlageprodukte sollen die Ersparnisse in Aktien von Unternehmen lenken, die die Umwelt nicht verschmutzen.
Aber wie finden Privatanlegerinnen die richtigen Firmen? Und wie können sie sicher sein, dass deren grüne Versprechen stimmen? Eine Herkulesaufgabe selbst für professionelle Investorinnen. Privatkunden bleibt, den Labels der Anbieter zu vertrauen, die klimafreundliche Geldanlagen kennzeichnen.
Von einer «Weltneuheit» sprach Reto Ringger, Gründer und Chef der Zürcher Privatbank Globalance, als er im November 2020 seine Vision eines Google Earth für die Finanzwelt vorstellte. Globalance World nannte er das Projekt, das Transparenz schaffen soll «hinsichtlich der klimatischen und ökologischen Auswirkungen von Finanzanlagen», wie der «Tages-Anzeiger» damals notierte.
In der Datenbank von Globalance World sind Klimadaten von weltweit rund 6000 Firmen gespeichert. Über eine digitale Weltkarte, die an Google Earth erinnert, können Investorinnen auf Erkundungsreise gehen und nach Firmen suchen, die eine vorteilhafte Klimabilanz ausweisen und damit in ein nachhaltig ausgerichtetes Aktienportfolio passen.
So erfährt man beispielsweise, dass Petrobras, der Mineralölkonzern aus Brasilien, weit ausserhalb der 2015 in Paris vereinbarten Klimaziele liegt. Diese sehen vor, dass die Erderwärmung im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter auf deutlich unter 2 Grad Celsius zu begrenzen ist.
Auch die Ems-Chemie im Bündner Rheintal lässt sich mit dem Klima-Google-Earth ansteuern. Beim Start von Globalance World vor zwei Jahren kam der Spezialchemiekonzern auf ein Erwärmungspotenzial von 8,3 Grad und lag damit weit ausserhalb der Pariser Ziele. Auch im Vergleich zu anderen Schweizer Firmen schnitt das Unternehmen schlecht ab. Zum Beispiel gegenüber V-Zug, das auf ein Erwärmungspotenzial von 1,3 Grad Celsius kam. Oder gegenüber der Swisscom mit 1,6 Grad.
Plötzlich sauber
Durchgefallen war auch Nestlé mit einem Wert von 5,5 Grad. Der Lebensmittelkonzern reagierte damals auf seinen schlechten Wert mit einer Stellungnahme. Er verwies darin auf die eigene Verpflichtung, «bis spätestens 2050 Netto-null-Emissionen in der gesamten Wertschöpfungskette zu erzielen». Diese eigenen Ziele würden sich nicht in dem von Globalance World entwickelten Bewertungsinstrument widerspiegeln, schrieb Nestlé weiter. Jenes erlaube «keine gänzlich genaue Darstellung der Klimaauswirkungen, die mit unserer Geschäftstätigkeit in Verbindung gebracht werden».
Der Vorbehalt des Weltkonzerns vom Genfersee konnte die Begeisterung der Finanzwelt über die neue Weltkarte der Nachhaltigkeit nicht trüben. Inzwischen ist Globalance World auf Expansionskurs.
Dass es durchaus hilfreich sein kann, auf diese Weise Firmen nach ihrer Umweltverträglichkeit zu durchleuchten, zeigte vor einem Jahr auch ein Datenbriefing der Republik. Basierend auf den Daten von Globalance ist darin der ökologische Fussabdruck der Unternehmen grafisch dargestellt. Dabei wurde unter anderem deutlich, weshalb ein Unternehmen wie Ems-Chemie am Schluss des Rankings lag: Erstens benötigen deren Produkte viel fossile Energie. Und zweitens kann man davon ausgehen, dass dies in Zukunft nicht merklich anders sein wird. Fazit damals: «Ihr Geschäft ist kaum mit den globalen Klimazielen vereinbar.»
Das war vor einem Jahr. Und heute?
Wer sich bei Globalance World einloggt, stellt fest: Fast alle Firmenwerte haben sich in der Zwischenzeit zum Besseren verändert. Bei den Unternehmen im Swiss Performance Index (SPI), der praktisch alle börsenkotierten Schweizer Firmen aufführt, ist kein Stein auf dem anderen geblieben.
Nestlé, zuvor noch weit ausserhalb des 2-Grad-Ziels, steht plötzlich sensationell gut da. Der Konzern verbesserte sich von 5,2 Grad auf 1,7 Grad und liegt damit nun innerhalb des Pariser Zielbandes.
Ems-Chemie zählt laut Globalance World plötzlich nicht mehr zu den umweltschädlichsten Unternehmen im SPI, sondern liegt mit einem Erwärmungspotenzial von neu 3,4 Grad im hinteren Mittelfeld.
Auch andere Schweizer Unternehmen kommen neu auf eine wesentlich bessere Klimabilanz. Der Luxusgüterriese Richemont, dem Marken wie Cartier, IWC oder Montblanc gehören, verbesserte sich auf 2,6 Grad, von 4,4 Grad vor einem Jahr. Das Erwärmungspotenzial von Lonza wird neu mit 2,9 Grad angegeben. Vor einem Jahr gehörte der Pharmazulieferer mit einem Wert von 5,9 Grad zu den grössten Klimasündern im SPI. Einige Unternehmen schafften es, wie Nestlé, in die 2-Grad-Zone vorzurücken: Dazu gehören die Pharmariesen Roche (1,7 Grad) und Novartis (1,6 Grad).
Nicht nur einzelne Firmen haben sich gemäss Globalance deutlich verbessert. Vor einem Jahr wies der SPI ein Klimaerwärmungspotenzial von 3,8 Grad auf, der deutsche DAX-Index lag bei 4,3 Grad und der US-Aktienindex S&P 500 bei 3,3 Grad. Die Leitindizes haben sich merklich abgekühlt: Der DAX kommt neu auf 2,5 Grad, der S&P 500 auf 2,9 Grad Celsius. Der SPI ist mit einem Erwärmungspotenzial von 2 Grad sogar Paris-aligniert.
Sind die Firmen in den letzten 12 Monaten weltweit plötzlich «grüner» geworden? Schonen sie jetzt das Klima besser?
Bei einigen Firmen mag das der Fall sein, weil sie beispielsweise umweltschädliche Produktionsmethoden aufgegeben oder «schmutzige» Tochterfirmen verkauft haben. Doch wie schaffte es Nestlé, auf ein Erwärmungspotenzial von nur 1,6 Grad zu kommen, wenn es im Jahr 2018 noch 92 Millionen Tonnen Treibhausgase ausstiess? Inklusive der indirekten Emissionen waren es gar 113 Millionen Tonnen, womit der Westschweizer Grosskonzern mehr als doppelt so viel Kohlendioxid ausstösst wie die gesamte Schweiz.
Nein, die Unternehmen sind nicht einfach innert Monaten so viel sauberer geworden.
Um sie auf einen Schlag grüner zu machen, reichte eine kleine Anpassung der Methode, die hinter den Klimadaten von Globalance World steht. Diese Methode wurde in der Schweiz entwickelt. Um sie zu verstehen, müssen wir sieben Jahre zurückblenden zu den eigentlichen Wurzeln, der Pariser Klimakonferenz.
Lukrative Klimadaten
Im April 2016, wenige Monate nach dem Klimagipfel, unterzeichneten 175 Staaten das Abkommen mit dem Ziel, die Nettotreibhausgasemissionen zwischen 2045 und 2060 auf null zurückzufahren. Damit begann auch für die Finanzindustrie eine neue Zeitrechnung. Denn Unternehmen und Regierungen begriffen von nun an die Erderwärmung als systemisches Risiko für den Finanzsektor.
Noch im selben Jahr gründete der Computerwissenschaftler Oliver Marchand mit Partnern in Zürich die Firma Carbon Delta. Das Spezialgebiet des ETH-Spin-off: die Erhebung und Modellierung von Klimadaten, mit denen sich die Auswirkungen des Klimawandels auf Investmentportfolios messen lassen. Die sogenannte climate analytics bildete ein neues, lukratives Geschäftsfeld. Die Firma wuchs schnell, und schon bald wurden globale Player auf das Zürcher Start-up aufmerksam.
Im Herbst 2019 schlug ein Gigant aus den USA zu: Der Finanzdienstleister MSCI kaufte Carbon Delta für eine unbekannte Summe. MSCI sammelt Unternehmensdaten und verarbeitet daraus Börseninformationen für Investorinnen. Sein bekanntestes Produkt ist der Börsenindex MSCI World, einer der wichtigsten Aktienindizes der Welt. Er bildet die Kurse von 1500 Aktien aus 23 Ländern ab. MSCI, gegründet 1969 in New York, ist heute ein mächtiger Player an der Wallstreet.
In der Medienmitteilung zur Übernahme von Carbon Delta machte Konzernleitungsmitglied Remy Briand deutlich, welches Potenzial MSCI im Zürcher Start-up sieht: «Wir glauben, dass der Klimawandel langfristig zu einem der wichtigsten Investitionsfaktoren werden wird.» Anleger sollten die Möglichkeit haben, ihre Portfolios entsprechend auszurichten.
Carbon-Delta-Mitgründer Oliver Marchand blieb nach dem Verkauf in den Diensten von MSCI und übernahm eine globale Führungsrolle im Bereich Nachhaltigkeitsforschung und Datenmodellierung. Die Zürcher Niederlassung fungiert innerhalb von MSCI als «Anlaufpunkt für die Entwicklung von Analysen und Instrumenten zum Klimawandelrisiko».
Die wichtigsten Klimadaten, die die Bank Globalance für ihr Google Earth für die Finanzwelt verwendet, stammen von MSCI. Auch grosse Finanzakteure wie AXA, UBS und Blackrock verwenden sie.
Ich will es genauer wissen: Mit welchen Klimadaten arbeitet die Finanzbranche?
Carbon Footprint: Hier geht es darum, den Ausstoss von Klimagasen möglichst exakt zu messen. Die Internationale Organisation für Normung (ISO) hat dazu bereits einen Werkzeugkasten definiert, um Treibhausgasemissionen zu quantifizieren, zu überwachen, zu berichten und zu validieren. Eine wichtige Rolle zur Messung des Istzustands wird auch dem GHG Protocol (Greenhouse Gas Protocol) beigemessen. Die Entwicklung des GHG Protocol wird koordiniert vom Thinktank World Resources Institute und vom World Business Council for Sustainable Development, einer von Unternehmensleitungen geführten Organisation. Es setzt unter anderem auf sogenannte Scopes (Bereiche).
Scopes: Sie sind wichtig bei der Messung und Darstellung des ökologischen Fussabdrucks eines Unternehmens. Es handelt sich um Bereiche, in die der Ausstoss von Treibhausgasen eines Unternehmens aufgeteilt wird. Auf Ebene 1 werden Emissionen erhoben, die direkt vom Unternehmen in der Produktion oder durchs Heizen ausgestossen werden. In Scope 2 werden indirekte Emissionen zusammengefasst, die durch den Kauf von Energie entstehen, etwa Strom. Scope 3 schliesslich umfasst vor- und nachgelagerte Emissionen. Darunter fällt der CO₂-Fussabdruck von Produkten oder Dienstleistungen, die ein Unternehmen irgendwo auf der Welt einkauft.
Erwärmungspotenzial: Während die Summe der Scopes den effektiven CO₂-Fussabdruck eines Unternehmens in einem Geschäftsjahr ergibt, versucht das Konzept des Erwärmungspotenzials nach vorne zu blicken. Bei der Berechnung fliessen sowohl die aktuellen Emissionen als auch die Reduktionsziele eines Unternehmens ein. Bei der Methode, die vor zwei Jahren bei der Einführung von Globalance World verwendet wurde, schaute man bis ins Jahr 2030. Mit eingerechnet wurde zudem eine Komponente, die als Kühlungspotenzial bezeichnet wird.
Das grundsätzliche Problem mit diesen Klimadaten: Sie lassen sich auf kreative Art verarbeiten und interpretieren. Je nach Ansatz, Klimasünderinnen zu identifizieren, spuckten die Modelle völlig unterschiedliche Resultate aus. Die US-Investmentbank Goldman Sachs entwickelte eine Methode, die dafür sorgte, dass ganze zwei Drittel der im MSCI-World-Index geführten Aktien ein Erwärmungspotenzial von lediglich 1,5 Grad hatten.
Alte Hasen ziehen die Fäden
Unternehmen wie Investorinnen war bald klar, dass so kein glaubwürdiges System entstehen würde. Der Markt brauchte einheitliche Definitionen. Das rief zwei einflussreiche Männer in der globalen Finanzwirtschaft auf den Plan:
Michael Bloomberg, Gründer der gleichnamigen Nachrichtenagentur und ehemaliger Bürgermeister von New York;
Mark Carney, ehemaliger Notenbankchef von Kanada und später von Grossbritannien sowie Uno-Sonderbeauftragter für Climate Action und Finance.
Bloomberg und Carney führen heute zwei Gremien, die für die Definition von grünen Anlagen eine Schlüsselrolle spielen.
Das wichtigste Gremium, das bestimmt, wie die Klimaveränderung in der Finanzindustrie dargestellt werden darf, ist eine Expertengruppe mit dem Kürzel TCFD. Sie wurde kurz nach dem Pariser Gipfel ins Leben gerufen. Im Board, das von Michael Bloomberg präsidiert wird, sitzen wichtige Vertreter von Notenbanken und von G-20-Staaten. Angeschlossen sind vor allem Unternehmen der Finanzbranche – von Versicherungen über Banken bis zu institutionellen Investorinnen und Datenanbietern. Darunter auch: MSCI.
Die TCFD arbeitet eng mit einer Allianz von Banken, Versicherungen, Pensionskassen, Datenanbietern und Beratungsunternehmen zusammen, die sich Glasgow Financial Alliance for Net Zero, kurz GFANZ, nennt. Sie vertritt Vermögenswerte in der Höhe von 130 Billionen Dollar.
Den GFANZ-Vorsitz teilen sich Bloomberg und Mark Carney. Carney gründete die Allianz im Vorfeld der Klimakonferenz von 2021 in Schottland. Nach dem Paris-Gipfel hatte er sich Gedanken darüber gemacht, wie man die unterschiedlichen Ansätze zur Berechnung der Klimaschädlichkeit vereinheitlichen könnte. Ein Team definierte daraufhin im Rahmen der Allianz Minimalkriterien und gab schliesslich 23 Empfehlungen heraus.
Die Methode, die vor rund einem Jahr verabschiedet wurde und seither allmählich in die Praxis einfliesst, erhielt die Bezeichnung Implied Temperature Rise (ITR), übersetzt: angenommener Temperaturanstieg.
Als Gründungsmitglied der GFANZ übernahm auch MSCI die Temperaturanstiegsmethode. Und überarbeitete damit ihr altes Modell, das bei Globalance World zu Beginn im Einsatz war. Ein wichtiger Unterschied war, dass die alte Methode die bis 2030 erwartbaren Emissionen als Hauptgradmesser betrachtete. Die von Mark Carney und der GFANZ empfohlene Wärmepotenzialmethode hingegen berücksichtigt die Entwicklung bis ins Jahr 2070.
Vor allem die Banken profitieren
Die Frage ist: Welche Interessen stehen hinter diesem Wandel? Haben mächtige Finanzakteure Druck ausgeübt? Solche, die ein Interesse daran haben, dass möglichst viele Aktien innerhalb der Pariser Klimavorgaben liegen?
Die Republik hat mit mehreren Branchenvertretern gesprochen. Einer, der nicht mit Namen genannt werden will, sagt: «Ja klar, in den Gremien versucht jeder, die Entwicklung in seinem Sinn zu beeinflussen.»
Wenn es mehr Aktien mit einem Wärmepotenzial von maximal 2 Grad gibt, bietet dies ganz konkrete Vorteile. Finanzunternehmen können breiter diversifizierte Finanzprodukte bauen, das heisst, sie können für klimafreundliche Finanzprodukte aus einer grösseren Zahl von Firmen auswählen.
Es gibt ihnen auch die Möglichkeit, sogenannte Transitionsfonds zu bauen. Also Produkte mit Unternehmen aus CO₂-intensiven Sektoren zu konstruieren, die aktuell sehr hohe Emissionen ausstossen, aber versprochen haben, diese in den nächsten Jahren zu senken.
Auf dem Markt gibt es inzwischen eine kaum zu überblickende Vielfalt von Finanzprodukten, die mit einem solchen Label versehen sind. Der Vorteil ist auch, dass für «grüne» Produkte aus Vermarktungsgründen höhere Gebühren verlangt werden können.
Bemerkenswert ist, dass die Modellumstellungen im Stillen erfolgten. Niemand ist hingestanden und hat gesagt, dass jetzt anders gerechnet werde und man auf Grundlage der neuen Kalkulationen ohne schlechtes Gewissen Nestlé-Aktien kaufen könne.
Gerade für Kleinanleger sind plötzliche Veränderungen wie bei Ems-Chemie oder Nestlé nicht nachvollziehbar. Wer eine eindeutige Zahl kommuniziere wie beim Erwärmungspotenzial, müsse davon ausgehen, dass private Anlegerinnen diese für bare Münze nehmen, sagt eine Kaderfrau eines kleinen Schweizer Vermögensverwalters. Sehe diese Zahl plötzlich ganz anders aus, gehe Vertrauen verloren.
Das sieht auch Oliver Marchand ein, der nun als Angestellter von MSCI die Änderungen an der Berechnungsmethode erklären muss: «Ich kann verstehen, wenn man sich fragt, was der Wert einer Metrik ist, die nach zwei Jahren neue Zahlen zeigt», sagt er zur Republik. Er glaube aber, dass die Erwärmungspotenzialdaten von verschiedenen Anbietern sich künftig immer stärker angleichen würden. Das sehe er in der Zusammenarbeit mit verschiedensten Interessengruppen: «Gemeinsam achten wir darauf, dass die Grundlagen robuster werden, als sie es in den letzten vier Jahren waren.»
Sie haben schlicht keine andere Wahl: Verlieren die Erwärmungspotenzialdaten bei den Anlegern ihre Glaubwürdigkeit, werden Finanzprodukte mit Ökolabel zu Ladenhütern.
Es bleibt ungenau
Die nächste Anpassung der Berechnungsmethode steht schon vor der Tür: «Die Folgen sind, dass der MSCI World tendenziell eher wieder wärmer wird», sagt Marchand. Der Grund: Die aktuelle Methode übernimmt die Klimaziele der Unternehmen eins zu eins. Wenn eine Firma künftig behauptet, sie werde das Netto-null-Ziel bis 2050 erreichen, dann wird diese Projektion nicht mehr ungeprüft übernommen.
Nur: Wie lassen sich die Klimaziele von Unternehmen überprüfen?
Laut Marchand empfiehlt GFANZ, eine Art Kontrollsystem zu entwickeln, das die von den Unternehmen gesteckten Ziele mit den bisher erreichten Reduktionen abgleicht und die kommunizierten Ziele somit bewertet. Wenn eine Firma nicht zeigen könne, dass sie ihre zuvor gesetzten Ziele erreicht habe, so Marchand, werde das Erwärmungspotenzial entsprechend angepasst.
Aber wie seriös ist das? Wie lässt sich heute mit Sicherheit sagen, dass ein Unternehmen in 30 Jahren kein CO₂ mehr ausstossen wird?
Dafür haben verschiedene Organisationen, darunter der WWF, die Science Based Targets Initiative (SBTi) ins Leben gerufen. Bis jetzt haben sich 1200 Unternehmen dazu verpflichtet, ihre Emissionen auf Basis der SBTi-Empfehlungen zu reduzieren. Aber auch hier bleiben zahlreiche Unsicherheiten: Das Management kann wechseln, die wirtschaftliche Situation kann sich plötzlich ändern. Zudem sind auch die Modelle bei weitem noch nicht ausgereift.
Deshalb ist man auch beim WWF noch zurückhaltend beim Thema Erwärmungspotenzial. Stephan Kellenberger, Experte für nachhaltige Finanzwirtschaft beim WWF Schweiz, sagt: Seine Organisation habe noch keine definitive Position zu den Indikatoren beim Erwärmungspotenzial, die «recht technisch und komplex» seien. Die verschiedenen Methodenanbieter, darunter MSCI, kämen mit ihren Tools auf zum Teil recht unterschiedliche Ergebnisse. Das spreche zwar nicht gegen deren Einsatz, doch es werde bei der Interpretation doch eine gesunde Portion Vorsicht und Menschenverstand erfordert, sagt Kellenberger.
Das Thema hat inzwischen auch die Schweizer Politik erreicht. Der Bundesrat hat im Sommer mit den Swiss Climate Scores ein eigenes Gütesiegel für nachhaltiges Investieren lanciert, das er allen Schweizer Finanzmarktakteuren zur Anwendung empfiehlt. Die Schweiz ist das erste Land, das ein solches Label herausgibt.
Wenn ein Finanzunternehmen ein Anlageprodukt oder ein Kundenportfolio mit dem staatlichen Label versehen will, muss eine Reihe von Kriterien erfüllt sein. Firmen müssen Auskunft geben über den Istzustand der Emissionen und wie sie die Transition Richtung netto null erreichen wollen.
Ein Faktor scheint bei den Indikatoren für das Swiss-Climate-Scores-Label zu fehlen: das Erwärmungspotenzial. Warum?
Die Antwort des federführenden Staatssekretariats für internationale Finanzfragen: «Der Indikator ‹Globales Erwärmungspotenzial› ist im Markt am neusten und daher noch mit den grössten Methodenunsicherheiten verbunden.» So steht es in einem Papier mit den wichtigsten Fragen und Antworten zu den Swiss Climate Scores. Die Behörde spricht darin von einer «hohen Schätzungsunsicherheit».
Für Anleger bedeutet das: Sie müssen sich im Klaren darüber sein, dass Hunderte erfahrene Experten aus der Finanzindustrie gemeinsam mit Klimawissenschaftlerinnen versucht haben, zu berechnen, wie stark Unternehmen mit ihrem Verhalten das Klima erwärmen – mit dem Resultat: «hohe Schätzungsunsicherheit».
Ein Vertreter der Globalance Bank sagt zur Republik, man wolle künftig klarer darauf hinweisen, dass die Temperaturangaben nicht in Stein gemeisselt sind. Man kann das auch so formulieren: Grüne Investments sind Glückssache.
Beat Schmid ist Finanzjournalist und Gründer des Wirtschafts-Onlinemediums «Tippinpoint». Er war während 17 Jahren bei Tamedia, Ringier und CH Media angestellt, wo er sich hauptsächlich mit dem Schweizer Finanzplatz beschäftigte.