Geht uns diesen Winter der Strom aus? Und falls ja: Was dann?
Alle reden von der Energiemangellage. Wie ernst die Lage wirklich ist und was die Verantwortlichen tun, um das Schlimmste abzuwenden: 25 Fragen und Antworten.
Von Priscilla Imboden (Text) und Philipp Beck (Illustration), 27.10.2022
Gehen die Lichter aus? Müssen wir diesen Winter frieren? Das sind Fragen, die wir in der Schweiz nicht gewohnt sind. Und Fragen, die viele Menschen verunsichern. Einige kaufen einen Notvorrat, Kerzen und einen Dieselgenerator, andere sagen sich: Ach, da wird schon nichts passieren.
Doch wie bedrohlich ist die Lage wirklich? Wie kam es dazu? Und wer ist in der Schweiz überhaupt für die Stromversorgung verantwortlich? Die Republik versucht, die drängendsten Fragen zu beantworten und etwas, nun ja, Licht ins Dunkel zu bringen.
Anruf bei Christian Schaffner, Direktor des Energy Science Center der ETH Zürich. Auf die Frage, ob er Kerzen im Haus habe, lacht der Wissenschaftler etwas nervös und sagt: «Jetzt wird es heikel.»
Schaffner befasst sich derzeit intensiv mit Fragen rund um die drohende Energieknappheit. Heikel ist die Frage nach den Kerzen, weil die Antwort darauf schliessen liesse, was er erwartet. Und ob er der Meinung ist, die Behörden seien auf die Krise vorbereitet. Prognosen darüber, ob der Strom oder das Gas diesen Winter ausbleiben werden, will der Wissenschaftler nicht wagen. Beruhigend ist seine Einschätzung zur aktuellen Lage aber nicht: «Wir waren in der Schweiz noch nie so nahe an einer ernsthaften Energiekrise wie heute.»
Aber was heisst das konkret?
Fangen wir also bei der drängendsten Frage an:
1. Droht diesen Winter wirklich das Lichterlöschen?
Das Lichterlöschen ist ein mögliches Szenario – es muss aber nicht so weit kommen. Ob es wirklich dazu kommt, hängt von vielen Faktoren ab: Wenn der russische Machthaber Wladimir Putin das Gas nicht ganz abstellt, wenn der Winter warm wird, wenn die Atomkraftwerke in Frankreich alle wieder ans Netz gehen, wenn es im Herbst lange regnet, damit die Stauseen sich füllen, und wenn die Sparmassnahmen wirken, dann sollte es genügend Strom haben. Was die beiden letzten Punkte angeht, da hat Elcom-Präsident Werner Luginbühl letzte Woche erstmals von einer leichten Entspannung gesprochen. Aber trotzdem: Es sind ein bisschen zu viele «Wenns» im Spiel, um Entwarnung zu geben.
2. Okay. Und wenn die «Wenns» nicht oder nur teilweise eintreten: Was dann?
Dann kommt es zu der Strommangellage, wie es in der Behördensprache heisst. Das bedeutet: Es ist nicht genügend Strom da, um den Bedarf zu decken. Um das Netz stabil zu halten, muss der Verbrauch aber stets im Gleichgewicht mit der Stromerzeugung sein. Dies wiederum heisst, dass der Strom bei einer Mangellage rationiert werden muss. Ist dies der Fall, schreitet der Bundesrat ein und verbietet zuerst nicht lebensnotwendige Dinge wie den Betrieb von Saunen, Leuchtreklamen oder Skiliften. Wenn das nicht ausreicht, wird der Stromverbrauch von Grossverbrauchern kontingentiert, das heisst, dass etwa Papierfabriken oder Stahlwerke ihre Produktion herunterfahren müssen. Falls das immer noch nicht genügt, wird es für alle ungemütlich: Dann kommt es zu sogenannten «rollierenden Abschaltungen»: Dabei wird der Strom gebietsweise – also in Ihrem Quartier oder in Ihrem ganzen Dorf – jeweils für 4 Stunden abgestellt. Danach wird er wieder für 4 bis 8 Stunden angestellt.
3. Uff, 4 Stunden ohne Strom … Was kann ich dann überhaupt noch machen?
Ohne Strom funktioniert nicht mehr viel. Weder das Handynetz noch die Heizung, der Kühlschrank oder der Lift. Das Wasser würde nur noch dort aus dem Hahn fliessen, wo die Reservoire höher liegen. Das ist in Teilen von Bern und in der Stadt Zürich der Fall. Das funktioniert aber nur, solange die Reservoire gefüllt sind oder das Wasser dank Notstromversorgung hochgepumpt werden kann.
Wie schlimm es wird, kommt darauf an, wie lange der Strom ausbleibt. «Ein paar Stunden sind zu bewältigen, danach wird es kritisch», sagt Christian Schaffner vom Energy Science Center der ETH Zürich. Das Trinkwasser würde nicht mehr aus dem Hahn fliessen, keine Heizung mehr funktionieren – ausser Holzöfen.
Zudem würde die gesamte Telekommunikation ausfallen. So wird die Internetverbindung unterbrochen, sobald der Router nicht mehr mit Strom versorgt wird. Rund eine Stunde lang könnten Sie Ihr Mobiltelefon noch nutzen, wie die Swisscom auf Anfrage mitteilt, denn die Mobilfunkantennen funktionieren via Batterie noch mindestens eine Stunde lang. Länger telefonieren können Festnetzkunden, die eine direkte Verbindung in eines der Swisscom-Telekomzentren haben. Das betrifft vor allem Glasfaserkunden, funktioniert aber nur, wenn sie ihren Router irgendwie mit Notstrom versorgen können. Dauert der Stromunterbruch länger als 4 Stunden, besteht laut Swisscom keine Verbindung mehr.
4. Wie lange im Voraus werde ich erfahren, dass mir der Strom abgestellt wird?
Das ist das Verflixte daran: Sie werden wohl erst kurz vorher darüber informiert, dass Ihnen der Strom abgestellt wird. Das hat einerseits organisatorische Gründe. Andererseits will man es auch Einbrechern nicht allzu leicht machen. Wie und wann die Bevölkerung informiert werden könne, werde momentan mit den Kantonen und den Verteilnetzbetreibern diskutiert, schreibt eine Sprecherin der Ostral, der Organisation für Stromversorgung in Ausserordentlichen Lagen. Die Verteilnetzbetreiber sind übrigens diejenigen Firmen, die das Stromnetz der niedrigsten Spannungsebene unterhalten, an das die einzelnen Haushalte angebunden sind.
5. Zu Hause könnte es also ungemütlich werden. Aber was ist, wenn ich unterwegs bin: Fahren die Züge ohne Strom noch?
Nein. Die SBB verfügen zwar über eigene Kraftwerke und ein eigenes Netz für den Antrieb der Lokomotiven. Die Weichenschaltungen und Signalisierungen hängen aber am gleichen Stromnetz wie wir. Wenn das abgeschaltet wird, können die Züge nicht fahren. Gemäss SBB würden viel weniger Züge fahren, wenn der Bund den Strom rationiert. Sollten Netzabschaltungen die SBB betreffen, müsste der Bahnbetrieb ganz eingestellt werden.
6. Haben die Behörden die Situation denn im Griff?
Das wissen wir nicht. Laut Christian Schaffner von der ETH ist das «schwierig zu sagen. Wie bei allen Krisen gilt: Niemand hat das je durchgespielt, niemand weiss, was genau auf uns zukommt.» Der Bund habe zahlreiche sinnvolle Massnahmen getroffen, sagt Schaffner. Er selbst sieht das Problem eher im Kleinen, beim Endkunden: «Wenn es heisst, 15 Prozent Gas und 15 Prozent Strom sparen – wie wird das umgesetzt?» Das ist auch ein Unterschied zur Covid-Krise: Ob jemand im öffentlichen Raum eine Maske trägt, sieht man. Ob er 4 oder 10 Minuten lang duscht oder die Wohnung auf tropische Temperaturen heizt, sieht man nicht. Der soziale Druck ist also weniger gross.
7. Könnte es auch sein, dass es spontan zu einem Blackout kommt?
Das kann es immer geben, aber das ist ein Extremszenario: Ein Blackout ist im Gegensatz zu einer geplanten Netzabschaltung ein ungeplanter Ausfall, ein Unfall sozusagen. Das geschah etwa 2003, als ein Baum im Kanton Schwyz eine Überlandleitung berührte, was zu einem Stromausfall in ganz Italien führte. Ein Blackout ist wohl in der Situation einer Strommangellage etwas wahrscheinlicher als sonst, weil es dann schwieriger ist, die Spannung im Netz aufrechtzuerhalten, insbesondere wenn Teile des Netzes herunter- und wieder heraufgefahren werden. Fällt das ganze Netz aus, muss dieses danach schrittweise wieder aufgebaut werden, was nicht ganz einfach ist. Dafür ist die Netzgesellschaft Swissgrid zuständig. Die Schweiz könnte zudem indirekt betroffen sein von einem Blackout in Deutschland oder Frankreich etwa: Das würde sich auch auf die Schweiz auswirken, und es wäre Stand heute nicht möglich, das Stromnetz wieder aufzubauen, solange der Stromausfall im Ausland andauert.
8. Soll ich zur Sicherheit schon mal Kerzen kaufen und Batterien für meine Taschenlampe? Brauche ich haltbare Esswaren, die man nicht erwärmen muss?
Das ist die Frage, die Christian Schaffner, den Direktor des Forschungszentrums an der ETH, ein wenig ins Schlingern brachte. Andere, wie der Präsident der Schweizerischen Elektrizitätskommission Elcom, Werner Luginbühl, raten öffentlich zum Kauf von Kerzen und Brennholz. Das ist natürlich nicht gerade eine beruhigende Aussage, wenn man bedenkt, dass sie ausgerechnet von jenem Mann kommt, der für die Regulierung des Strommarkts zuständig ist. Aber ja: Verkehrt ist es sicher nicht, einen Vorrat mit Wasser und einigen gut haltbaren Esswaren anzulegen sowie Batterien und Kerzen. Der Bund rät auch ganz ohne drohende Strommangellage dazu, einen Notvorrat anzulegen, mit dem man etwa eine Woche über die Runden käme – und gibt auch gleich Tipps, wie Sie ohne Strom Mahlzeiten zubereiten.
9. Kommt es überhaupt darauf an, wie lange ich dusche und ob ich das Licht ausschalte?
Ja. Natürlich macht es noch keinen Unterschied, wenn nur eine einzige Person Strom spart. Aber wenn eine grosse Zahl von Personen jeweils ein bisschen tut, hat dies einen sichtbaren Effekt. Auch in der aktuellen Situation kann der Einsatz von vielen einzelnen Haushalten helfen, das Problem zu entschärfen, und dafür sorgen, dass wir schadlos durch den Winter kommen. «Eine Einsparung von 15 Prozent macht viel aus im System, bedeutet aber wenig Komforteinbusse für uns Einzelne», sagt Christian Schaffner. Das hiesse beispielsweise, nur 6 statt 10 Minuten lang zu duschen. Wer die Raumtemperatur um nur 1 Grad senkt, kann damit den Energieverbrauch um 6 Prozent senken.
Das Problem sei aber, dass es für die Bevölkerung schwer abschätzbar sei, wie gross die Dringlichkeit ist, findet der Wissenschaftler: «Es müsste eine App oder eine Website geben, wo man laufend nachschauen kann, wie gross das Problem ist und wie viel Energie gespart wird.» Das ist aber heute nicht möglich, weil die Datenlage schon fast katastrophal schlecht ist: Es gibt keine kurzfristigen Daten über den Verbrauch von Strom und Gas. Laut Schaffner ist das «in gewisser Hinsicht ein Blindflug». Die Versorger melden den Verbrauch einmal pro Monat an die Netzgesellschaft Swissgrid. Hier zeigte sich erstmals für den September, dass die Stromsparkampagne des Bundes möglicherweise wirkt.
10. Okay, aber wer ist denn nun verantwortlich dafür, wenn wir nicht mehr genügend Strom haben?
So pauschal lässt sich das nicht beantworten. Die SVP stellt sich auf den Standpunkt, der Atomausstieg sei für die drohende Energieknappheit verantwortlich, und somit letztlich Simonetta Sommaruga. Das stimmt jedoch beides nicht, denn einerseits wurde bisher erst das Atomkraftwerk Mühleberg abgestellt. Und andererseits verantwortet nicht Simonetta Sommaruga die Energiestrategie 2050, sondern ihre Vorgängerin Doris Leuthard. Diese wiederum verteidigt die Strategie in einem Gastkommentar in der NZZ und wirft der SVP vor, sie wolle «das Rad zurückdrehen». Der Atomausstieg sei richtig, weil die Kernkraft zu teuer und risikoreich und das Atommüllproblem ungelöst sei. Dass die erneuerbare Energie nicht stärker gefördert worden sei, sei das Resultat eines Kompromisses im Parlament gewesen. Die bürgerlichen Parteien hatten damals nicht mitgemacht.
11. Noch wahrscheinlicher, als dass der Strom ausbleibt, ist, dass nicht mehr genug Gas fliesst. Werde ich im Winter in meiner Wohnung frieren?
Dass beim Gas eine Mangellage wahrscheinlicher ist als beim Strom, sagt auch Bastian Schwark, Energiekrisenmanager des Bundes. Es kann also nicht ausgeschlossen werden, dass Sie im Winter frieren werden, wenn Sie eine Gasheizung haben – was fast jeden fünften Haushalt in der Schweiz betrifft. Das würde aber nur im äussersten Notfall geschehen, wenn nämlich gar kein Gas mehr flösse. Wenn nicht mehr genügend Gas da ist, um alle zu versorgen, wird dieses vom Bundesrat rationiert: Firmen werden verpflichtet, weniger Gas zu brauchen, Heizstrahler oder die Beheizung von Schwimmbädern und Wellnessbereichen werden verboten. Haushalte sind erst mal noch nicht betroffen, sie gehören zu den geschützten Verbrauchern.
12. Könnte die Schweiz nicht einfach für den Winter Gas auf Vorrat kaufen?
Gute Idee. Jedoch wird das Ganze etwas komplizierter, weil die Schweiz keine Gasspeicher im Inland hat. Der Bundesrat hat deshalb die Gasversorger damit beauftragt, Gasspeicherkapazitäten im Ausland zu reservieren und Kaufverträge für nichtrussisches Gas abzuschliessen. Das ist der Branche auch gelungen, wie der Verband der Schweizerischen Gasindustrie mitteilt. Es sei aber fraglich, ob in einer Mangellage das Gas auch wirklich in die Schweiz geliefert werde. Der Bundesrat solle weiterhin anstreben, zwischenstaatliche Vereinbarungen mit Deutschland, Frankreich und Italien abzuschliessen.
13. Aber würden unsere Nachbarländer denn das für die Schweiz reservierte Gas auch liefern, wenn sie selber zu wenig davon haben?
Das ist die entscheidende Frage. Und leider lautet die Antwort höchstwahrscheinlich: Nein. Die Bemühungen von Energieministerin Simonetta Sommaruga und Wirtschaftsminister Guy Parmelin, einen entsprechenden «Freundschaftsvertrag» mit Deutschland und Italien abzuschliessen, blieben bisher erfolglos. Das ist nicht wirklich erstaunlich, denn es ist kaum zu erwarten, dass diese Länder im Notfall ihre eigene Industrie darben und ihre Bevölkerung frieren lassen – und gleichzeitig Gas in die Schweiz schicken.
14. Meine Wohnung wird mit Gas beheizt. Was kann ich tun, damit ich es im Winter trotzdem warm habe?
Falls das Gas gar nicht mehr fliessen sollte, suchen Sie am besten Unterschlupf bei der Familie, Freunden oder Bekannten, die ohne Gas heizen. Im schlimmsten Fall müssten die Gemeinden Turnhallen oder öffentliche Räume zur Verfügung stellen, damit sich Menschen, deren Wohnungen und Häuser kalt bleiben, dort aufhalten können. So weit scheinen die Behörden aber noch nicht geplant zu haben, wie eine Republik-Umfrage bei den Städten Zürich, Basel, Luzern und Bern zeigt. Stellvertretend die Antwort einer Sprecherin des Kantons Basel-Stadt: «Bisher ist nicht explizit geplant, bei einer allfälligen Gasmangellage beheizte Räume zur Verfügung zu stellen. Jedoch würden solche Räumlichkeiten zur Verfügung stehen.»
15. Aber beginnen wir doch mal ganz am Anfang: Warum sind die Energiepreise so exorbitant gestiegen?
Auslöser war der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Westeuropa ist stark abhängig von russischem Gas, und der russische Machthaber Wladimir Putin setzt das Gas als Waffe ein, um den Westen unter Druck zu setzen. Dieses Gas wird in der EU auch verstromt, weshalb auch die Strompreise angestiegen sind. Hinzu kam, dass die alternden Atomkraftwerke in Frankreich länger gewartet werden mussten als geplant. Und dass ein trockener Sommer die Wasserkraftproduktion eingeschränkt hat. An der Strombörse haben sich die Strompreise zeitweise verzehnfacht. Da sich der Strompreis an der teuersten Stromproduktion orientiert, treibt die Gasknappheit den Preis des ganzen Stroms, der an der Börse gehandelt wird, in die Höhe. Die EU diskutiert derzeit, ob der Strompreis vom Gaspreis entkoppelt werden soll.
16. Alles klar. Aber mal eine grundsätzliche Frage: Was bedeutet eigentlich eine Kilowattstunde? Was kann ich damit machen?
Das ist ein Kilowatt Leistung, eine Stunde lang. Damit können Sie zum Beispiel mit einem Föhn eine Stunde lang die Haare trocknen. Mit zwei Kilowattstunden können Sie eine Stunde lang staubsaugen. An der Strombörse wird der Strom pro Megawattstunde verkauft. Das entspricht 1000 Kilowattstunden.
17. Was kostet es mich beispielsweise, meinen Kühlschrank ein Jahr lang zu betreiben?
Der Betrieb eines Kühlschranks von durchschnittlicher Grösse, der 120 Kilowattstunden jährlich verbraucht, kostet in der Schweiz dieses Jahr rund 25 Franken.
18. Wenn die Strompreise jetzt auf das Zehnfache gestiegen sind, kostet mein Kühlschrank auch so viel mehr?
Nein. Denn für Kleinkunden ist der Markt nicht liberalisiert. Das heisst: Sie werden von Ihrem lokalen Stromunternehmen beliefert, zu staatlich überwachten Preisen, die sich an den Herstellungskosten orientieren und nur ein Mal pro Jahr angepasst werden. Fürs nächste Jahr werden die Preise im Schnitt um 27 Prozent ansteigen – womit der Betrieb eines Kühlschranks neu durchschnittlich 32 statt 25 Franken kosten wird. Allerdings variieren die Strompreise für Kleinkunden sehr stark, je nachdem, wo Sie wohnen.
19. Und weshalb kostet der Strom nicht überall gleich viel?
Weil es in der Schweiz mehr als 600 lokale Stromversorger gibt. Wenn Sie Glück haben, wohnen Sie im Versorgungsgebiet eines Stromversorgers, der über genügend eigene Kraftwerke verfügt, um die Kundinnen mit Strom beliefern zu können. Das ist etwa in den Kantonen Bern und Zürich, in Teilen der Stadt Zürich und in Teilen Graubündens der Fall. Muss Ihr lokaler Stromversorger aber an der Börse teuren Strom zukaufen, wie in Teilen der Westschweiz, in Solothurn und Basel-Stadt, dann haben Sie Pech gehabt und bezahlen nächstes Jahr eine viel teurere Stromrechnung.
20. Für wen ist es ein Problem, dass der Strom so viel teurer ist?
Vor allem für Firmen, die viel Strom brauchen und ihn auf dem freien Markt einkaufen. Denn weil der Strommarkt in der Schweiz teilliberalisiert ist, haben Grosskunden freien Marktzugang. Das heisst aber auch, dass ihre Preise nicht staatlich überwacht sind. Und wie viel eine Megawattstunde Strom an der Strombörse kostet, ändert sich von Stunde zu Stunde. Beispiele von Unternehmen, die der Gewerbeverband und Gastrosuisse veröffentlicht haben, zeigten Angebote für den Strombezug, deren Preis sechzehn Mal so hoch lag wie bisher. Die Gastrosuisse warnt vor einem Massenkonkurs im Gastgewerbe. Doch auch die weniger stark steigenden Strompreise für Kleinkunden sind ein Problem für Haushalte mit tiefem Einkommen, die nur knapp über die Runden kommen.
21. Wieso ist denn der Strommarkt in der Schweiz überhaupt teilliberalisiert?
Im Jahr 2002 lehnten die Stimmberechtigten in der Schweiz die Liberalisierung des Strommarkts an der Urne mit knapp 53 Prozent der Stimmen ab. Der Bundesrat entschied sich 2009, in einem ersten Schritt den Strommarkt nur für Grosskunden zu öffnen, die pro Jahr mehr als 100’000 Kilowattstunden verbrauchen. Das betrifft gemäss dem Verband Schweizer Energieunternehmungen VSE allerdings bloss 0,6 Prozent der Stromkunden, und nur 0,4 Prozent haben sich tatsächlich auf den freien Markt begeben. Sie sind für rund 40 Prozent des Stromverbrauchs in der Schweiz verantwortlich. Eigentlich plante der Bundesrat, in einem zweiten Schritt den Strommarkt für alle Kunden vollständig zu liberalisieren – dieser Plan wurde aber angesichts der aktuellen Situation in der Herbstsession vom Ständerat begraben, und er dürfte vom Nationalrat kaum hervorgeholt werden.
22. Der Gewerbeverband und Gastrosuisse haben gefordert, dass Betriebe den liberalisierten Strommarkt verlassen und wieder in die Grundversorgung wechseln dürfen. War der liberalisierte Strommarkt ein Fehler?
Die aktuelle Situation ist tatsächlich keine gute Werbung für den freien Markt. Die Verbände haben Offerten vorgelegt, wonach Hotels und KMU-Betriebe das 16- bis 32-Fache für ihren Strom bezahlen müssten. Das ist ein ernsthaftes Problem, das ist klar. Doch diese Firmen haben auch jahrelang von Preisen profitiert, die tiefer lagen als jene, die Haushalte im Monopolbereich bezahlen mussten. Aktuell sind Kunden im Monopolbereich in einer besseren Lage als etwa Stromkunden in der EU, die sich auf dem freien Markt mit Strom versorgen. Das Parlament hat sicher auch deswegen den Plan, den Strommarkt vollständig zu öffnen, in der letzten Session begraben. Gut möglich, dass die aktuelle Krise dazu führen wird, dass der Strommarkt europaweit neu organisiert wird, mit einem stärkeren Fokus auf die Versorgungssicherheit.
23. Wer ist in der Schweiz eigentlich für die Stromversorgung verantwortlich?
Dazu sagt der Direktor des Forschungszentrums an der ETH, Christian Schaffner: «Das ist nicht wirklich klar definiert. Gemäss Stromversorgungsgesetz sind es erst mal die Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft. Ist die sichere und erschwingliche Versorgung mit Strom nicht mehr gewährleistet, so kann der Bundesrat Massnahmen treffen.»
Das Energiegesetz hält in sehr allgemeiner Weise fest, dass die Energieversorgung Sache der Energiewirtschaft sei, stellt aber auch klar, dass Bund und Kantone für die Rahmenbedingungen zu sorgen haben, die es der Energiewirtschaft ermöglichen, diese Aufgabe optimal zu erfüllen. Die Energiewirtschaft wiederum besteht aus sehr vielen Akteuren: Die nationale Netzgesellschaft Swissgrid ist für das Hochspannungsnetz zuständig, die 600 Elektrizitätsversorger für das Verteilnetz und die Stromproduktion oder den Einkauf. Diese wiederum gehören grösstenteils den Gemeinden und Kantonen. Reguliert wird das komplizierte Geflecht von der Strommarktregulierungsbehörde Elcom, die allerdings mangels Zugang zu Marktdaten nicht überall die Übersicht hat.
24. Ist Energieministerin Simonetta Sommaruga schuld, wenn der Strom knapp wird?
Simonetta Sommaruga kann nicht verantwortlich gemacht werden für die aktuelle Situation, die ja zum grössten Teil im Ausland verursacht wurde. Sie ist aber aktuell zusammen mit Wirtschaftsminister Guy Parmelin dafür verantwortlich, das Problem der drohenden Energieknappheit so gut wie möglich zu entschärfen. Das wird gerade mit einer ganzen Liste von Massnahmen versucht – unter anderem mit einer Energiesparkampagne sowie dem Einkauf von zusätzlichen Produktionskapazitäten. Bei Parmelins Departement ist das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung angesiedelt. Dieses ist für die Versorgung in Krisenzeiten zuständig. Falls es zu einer Mangellage kommt, wird also Parmelin das Zepter übernehmen.
25. Hat die Energiestrategie versagt – und damit die Energiepolitik der letzten Jahre?
Mit der Energiestrategie 2050 beschloss der Bundesrat, den Atomausstieg umzusetzen und die Schweiz weniger abhängig von fossilen Energieimporten zu machen. Das sei der richtige Weg, sagt Christian Schaffner. Er sei nur nicht entschlossen genug beschritten worden: «Was sich in der Krise gezeigt hat, ist, dass uns unsere Abhängigkeit vom Ausland insbesondere bei den fossilen Energien verwundbar macht», sagt er. «Dies heisst, dass wir noch schneller werden müssen, noch schneller die Elektrifizierung des Gebäude- und Verkehrssektors vorantreiben, noch schneller Effizienzgewinne erzielen und noch schneller erneuerbare Quellen zubauen müssen.»
Was bei der Frage der Elektrizitätsversorgung ausserdem oft vergessen geht: Die Zusammenarbeit mit der EU ist äusserst wichtig, da die Schweiz in das europäische Elektrizitätsnetz eingebettet ist. Da der Bundesrat die Verhandlungen mit der EU um ein Rahmenabkommen abgebrochen hat, stehen die Beziehungen auch in der Stromfrage still. Das bringt Nachteile für die Netzstabilität und kostet die Schweizer Stromkunden viel Geld.