In der Stromausfalle

Dreht Putin den Gashahn zu, schnellen die Strom­preise hoch. Dann könnte die Versorgung zusammen­brechen. Zwar plant der Bundesrat einen Rettungs­schirm für Strom­konzerne. Doch die sträuben sich – und niemand weiss, ob dieses Geld überhaupt reichen würde.

Von Priscilla Imboden (Text) und Alexander Glandien (Illustration), 14.06.2022

Synthetische Stimme
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Es war kurz vor Weih­nachten des vergangenen Jahres, als der Strom­konzern Alpiq den Bund um ein Geschenk bat, das er eigentlich gar nie haben wollte.

In den Wochen zuvor hatten die Preise verrückt­gespielt und waren in extreme Höhen geklettert. Strom­versorger verkaufen den Strom aus ihren Kraft­werken jeweils auf zwei oder drei Jahre im Voraus an der europäischen Strombörse EEX in Leipzig. (Die Schweiz hat keine eigene Strom­börse.) Der geplante Handel muss mit einer Sicher­heit hinterlegt werden, die nach der Trans­aktion zurück­erstattet wird. Dieser hinterlegte Geld­betrag orientiert sich am Strom­preis und wird folglich laufend angepasst.

Kurzfristig kann ein Preis­anstieg deshalb zu Problemen führen: Alpiq musste Ende letzten Jahres plötzlich viel mehr flüssige Mittel zur Verfügung stellen als erwartet, um geplante Käufe zu tätigen. Der Konzern geriet in einen akuten Liquiditäts­engpass, im schlimmsten Fall drohte der Konkurs. Also rief Alpiq nach der helfenden Hand des Staates.

Im Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) von Simonetta Sommaruga kam es zu notfall­mässig anberaumten Sitzungen, spätabends und übers Wochenende. Der Gesamt­bundesrat wurde informiert und bereitete sich darauf vor, per Notrecht Geld in die Alpiq einzuschiessen.

Aber dann gab Alpiq Anfang Januar Entwarnung: Das Unter­nehmen konnte das nötige Geld bei seinen Aktionärinnen auftreiben.

Zum Glück. Es lässt sich nur erahnen, wie schwer die Folgen gewesen wären, wäre Alpiq über Nacht das Geld ausgegangen. Das Unter­nehmen produziert etwa 14 Prozent des Schweizer Stroms. Und das ist nicht das einzige Problem: Die Strom­wirtschaft ist in sich verwoben wie keine andere Branche. Die Firmen handeln unter­einander mit Strom und sind gemeinsam an den grossen Wasserkraft- und Atom­kraftwerken beteiligt.

Der Ausfall eines grossen Unter­nehmens könnte einen Domino­effekt auslösen und letztlich zu einem Black­out führen.

Der Widerstand der Strom­firmen

Dieses Szenario des grossen Strom­ausfalls hat mit dem Angriffs­krieg gegen die Ukraine neue Aktualität gewonnen. Der russische Präsident Wladimir Putin könnte versucht sein, Europa den Gas­hahn zuzudrehen, wie er es im Fall von Polen und Bulgarien schon getan hat, wie es anderen Ländern bereits angedroht wurde. Da in Europa der Strom auch in Gas­kraftwerken erzeugt wird, könnte es in der Folge zu Knapp­heit kommen und die Strom­preise an den Börsen über längere Zeit in die Höhe schnellen – mit unab­sehbaren Folgen.

Das Umwelt­departement Uvek hat deshalb einen Rettungs­schirm für die Strom­branche ausgearbeitet: Der Staat garantiert Sicher­heiten für den Notfall, die Unter­nehmen zahlen mit einer Prämie und Daten. Konkreter: Der Rettungs­schirm besteht aus einem Überbrückungs­kredit im Umfang von bis zu 10 Milliarden Franken. Für die drei grossen Strom­konzerne Axpo, Alpiq und BKW soll er obligatorisch sein, da sie als system­relevant gelten. Sie bezahlen dafür eine Art Versicherungs­prämie und liefern für die Stromversorgungs­sicherheit relevante Geschäfts­daten.

Der Kredit soll so teuer sein, dass er wirklich nur als allerletzte Rettung beansprucht wird: Die Strom­versorger sollen zuerst bei ihren Aktionärinnen oder Banken Geld beschaffen.

Der Bundes­rat sorgt für einmal vor: Er verabschiedete die Vorlage im Eilverfahren. Aber die Strom­branche und viele Politiker reagierten anders als erwartet: kritisch bis ablehnend.

Das ist erstaunlich, denn es geht um viel. Die Folgen eines Strom­ausfalls wären einschneidend: Die Industrie, der Bahn­verkehr, die Kommunikation – alles stünde still. Die Schaden­summe stiege rasch auf Milliarden­beträge an.

Zuerst betroffen wären die Strom­konzerne. Doch gerade sie sind skeptisch. Am meisten: die Berner Kraftwerke BKW.

Die BKW kämpfen vehement gegen den Rettungs­schirm. Sie warnen vor einer schleichenden Verstaatlichung und behaupten, sie könnten die Risiken allein meistern.

Die Axpo gibt sich weniger ablehnend, aber ebenfalls kritisch.

Etwas zurückhaltender äussert sich nach ihren letzt­jährigen Schwierig­keiten die Alpiq, aber auch sie warnt vor einer schleichenden Verstaatlichung.

Die Angst vor dem Staat – sie ist ein seltsames Argument für Unter­nehmen einer Branche, die sich zu rund 80 Prozent im Besitz der Kantone und Gemeinden befindet: Die BKW gehört mehr­heitlich dem Kanton Bern; die Axpo den Kantonen Zürich, Aargau, Thurgau, Appenzell Innerrhoden, Appenzell Ausserrhoden, Glarus und Zug; und die Alpiq den Stromversorgern von West­schweizer Kantonen sowie Basel­land und Solothurn.

Die Warnungen dürften also einen anderen Hinter­grund haben: Die Strom­versorger wollen den Preis für die Vorlage drücken und möglichst wenig Regulierung über sich ergehen lassen.

Ein weiterer Grund: Die Liberalisierung des Strom­marktes ist auf halbem Weg stehen geblieben. Nur Gross­kundinnen können heute entscheiden, bei welchem Versorger sie ihren Strom beziehen. Klein­kunden hingegen müssen ihre Elektrizität beim regional oder lokal zuständigen Versorger beziehen, dieser hat bei ihnen das Monopol. Sie erhalten Strom zu regulierten Preisen, die sich nach den Gestehungs­kosten der Kraftwerke ihrer Strom­versorger richten. Die BKW versorgt zum grossen Teil Monopol­kundinnen mit ihrer eigenen Produktion. Sie muss deshalb weniger Strom an der Börse kaufen und ist Preis­ausschlägen darum weniger stark ausgesetzt. Axpo hat nur über eine Tochter­firma gebundene Kunden wie KMU und Haus­haltungen, Alpiq gar keine.

Der Wider­stand der Strom­konzerne hat bereits Wirkung gezeigt: So hat die stände­rätliche Kommission entschieden, dass der Rettungs­schirm freiwillig sein soll, solange die Eigner­kantone selber Massnahmen treffen. Dem Vernehmen nach ist das ein Zugeständnis vor allem an die BKW. Ausserdem soll der Rettungs­schirm für alle Firmen zugänglich sein, die ihn wollen.

Die Eigner­kantone zeigen sich allerdings wenig begeistert, dass sie die Verant­wortung tragen sollen. Christoph Ammann, sozial­demokratischer Energie­direktor des Kantons Bern, sagt auf Anfrage, sein Kanton werde keine Mass­nahmen treffen, um die BKW zu retten: «In einem Extrem­szenario, das so rasch eintritt und so grosse Auswirkungen hat, wie es der Bund der Vorlage zugrunde legt, ist eine Delegation an die Kantone, die Gemeinden und die Eigen­tümer nicht sinnvoll, nicht nachvoll­ziehbar und beinhaltet grosse Risiken für die nationale Versorgungs­sicherheit.» Die Verant­wortung für den gesamten Schweizer Strom­markt könne allein der Bund übernehmen.

Ähnlich sieht es die Konferenz der Energie­direktoren: Sie teilt mit, dass der Schutz­schirm eine sinnvolle Versicherung sei gegen Verwerfungen auf dem Markt.

Ein Aktionär, der im Notfall ebenfalls stark gefordert wäre, ist der Kanton Zürich. Zusammen mit den Elektrizitäts­werken des Kantons Zürich besitzt der Kanton mehr als 37 Prozent von Axpo. Der Zürcher Energie­direktor Martin Neukom von den Grünen sagt gegenüber der Republik: «Unsere Sorge ist: Wir können die Auswirkungen eines Preis­schocks an den Strom­börsen nicht stemmen.»

Laut Neukom könnten Alpiq und Axpo als Erste in die Bredouille geraten, bei sehr hohen Preisen wäre aber auch die BKW betroffen. Gerieten alle drei gleichzeitig in Schwierig­keiten, drohe eine Ketten­reaktion: Kleinere Strom­versorger, die von ihnen Strom beziehen, müssten diesen ander­weitig beschaffen. Die Folgen sind für Neukom unab­sehbar: «Wir haben hier ein sehr grosses Problem, das lange unter­schätzt wurde.»

Die Sorglosigkeit des Parlaments

Gegen Ende der laufenden Sommer­session wird der Ständerat den Rettungs­schirm beraten. Wäre es nach dem Bundes­rat gegangen, hätte sich der National­rat noch in der gleichen Session damit befasst. Doch das Büro der grossen Kammer, das für die Traktandierung der Geschäfte zuständig ist, lehnte ab: kein Grund zur Eile.

Die vorberatende Kommission des Ständerats sieht Handlungs­bedarf, ein Rückweisungs­antrag scheiterte aber nur knapp. Skeptisch sind gerade jene Stände­räte, die auch in Verwaltungs­räten von Strom­versorgern sitzen. Politik und Strom­branche – das ist in diesem Fall häufig deckungs­gleich, inhaltlich wie auch personell.

Zum Beispiel Pirmin Bischof: Der Solothurner Ständerat der Mitte ist gleichzeitig Verwaltungs­rat des Kernkraft­werks Gösgen. Er sagt: «Ich bin der Meinung, dass der Strom­rettungsschirm nicht nötig und nicht zielführend ist.» Das Kern­kraftwerk Gösgen sei ein Partner­werk mit Beteiligungen von zahlreichen Strom­firmen (Alpiq, Axpo sowie die Zürcher, Berner und Zentral­schweizer Elektrizitäts­werke). Auf die Frage, was passieren würde, wenn einer der Aktionäre in Konkurs ginge, sagt Bischof bloss: «Ich habe das nicht im Detail über­prüft, aber ich gehe davon aus, dass das über das Konkurs­recht weiter­geht.»

Dabei stellt sich bei den Atomkraft­werken die Frage ganz besonders, wer einspringen würde, sollten sie in Finanz­nöte kommen. Beteiligungen an Atomkraft­werken sind nicht attraktiv, da die Werke alters­bedingt nicht mehr lange laufen werden und danach alle Aktionäre gemeinsam für den Rück­bau und die Entsorgung des Atom­mülls haften müssen.

Zweites Beispiel, Jakob Stark: Der SVP-Stände­rat aus dem Kanton Thurgau sitzt im Verwaltungs­rat der Axpo. Er sagt, es brauche den Rettungs­schirm aus ordnungs­politischen Gründen nicht. Aber wenn die Vorlage schon auf dem Tisch sei, müsse man sie behandeln. «Sonst schafft das Unsicher­heit.» Und Unsicher­heit schade dem Rating und der Kredit­würdigkeit der Strom­konzerne, was wiederum zu teureren Krediten führe. Das müsse man in der aktuellen Lage verhindern.

Statt eines Rettungs­schirms bringt Ständerat Stark einen anderen Vorschlag ein: «Man müsste das Problem entschärfen, indem man die Börsen­regeln ändert, damit für lang­fristige Geschäfte nicht sofort so viel Liquidität als Sicherheit hinter­legt werden muss.» So einfach geht das aber nicht, weil die Börsen in der EU und in der Schweiz privat­wirtschaftlich organisiert sind.

Dann ist da noch Martin Schmid. Er ist FDP-Ständerat des Kantons Graubünden, Verwaltungsrats­präsident der Engadiner Kraftwerke und Verwaltungs­rat der Firma Repower, die als viertgrösste Strom­versorgerin der Schweiz den Süd­osten des Landes versorgt. Die sei aber nicht für den Rettungs­schirm vorgesehen, sagt er. Und: «Wenn es einen Rettungs­schirm braucht, heisst das, dass wir in der Strom­branche ein Too-big-to-fail-Problem haben. Als Liberaler stört mich das.» Dennoch sei er – schweren Herzens – nach Anhörung der Unter­nehmen zum Schluss gekommen, dass der Schirm nötig sei. «Die Frage ist aber: wie?» Am Beispiel der Engadiner Kraft­werke, an denen Axpo, Alpiq und die BKW beteiligt sind, sagt er: «Was würde mit der Strom­produktion passieren, wenn ein Aktionär plötzlich weg­fallen würde? Das diskutieren wir jetzt. Aber wir wissen es nicht.»

Das ist für Schmid der entscheidende Punkt: Selbst der Bundes­rat wisse zu wenig. Er habe gar keinen Einblick in die Handels­geschäfte der Firmen und kreiere dennoch eine Not­lösung. «Der Rettungs­schirm ist auf 10 Milliarden Franken limitiert. Wenn eine oder mehrere Firmen 15 Milliarden brauchen – was dann?»

Die aktuelle Vorlage sei deshalb falsch: Dem Bundes­rat müsse die Kompetenz zugesprochen werden, die Strom­versorgung im Not­fall zu garantieren, aber nicht die Unter­nehmen zu retten.

Schmid ist wie andere Kritiker der Meinung: Der Bund soll wenn überhaupt die Werke retten, also die Strom­produktion, denn sie seien entscheidend für die Versorgung.

Verschiedene Expertinnen sind aber der Ansicht, dass dieser Weg komplizierter und unsicherer wäre: Unzählige Verwicklungen und Verträge gälte es zu ent­flechten, was nicht recht­zeitig erfolgen würde. Karl Frauen­dorfer von der Universität St. Gallen, der auf Bewirtschaftungs­modelle in der Energie- und Finanz­branche spezialisiert ist, sagt: «Die Firma in Kon­kurs gehen zu lassen, würde den Staat unter dem Strich viel mehr kosten.»

Der Blindflug des Bundesrats

Das ist tatsächlich ein Problem: Niemand weiss, wie viel Strom die grossen Firmen unter­einander handeln. Folglich weiss auch niemand, wie stark die Firmen miteinander verwoben und von­einander abhängig sind. Darum ist es ausser­ordentlich schwierig, den notwendigen Betrag für einen Rettungs­schirm zu bestimmen.

Der Bundes­rat hat die Summe auf 10 Milliarden Franken festgelegt. Ist dieser Betrag ausreichend?

Die Elektrizitäts­kommission Elcom ist die Regulations­behörde der Schweizer Strom­branche. Sie teilt auf Anfrage mit, dass es sich dabei um eine «sehr grobe Schätzung» handle. Der Regulator hätte gerne Einsicht in die Daten der Strom­firmen, doch die haben sich in den letzten Jahren erfolgreich gegen Transparenz gewehrt. Ihr Argument: Geschäfts­geheimnis.

Zwar geben sie die Daten zum Strom­handel, den sie in der Europäischen Union tätigen, seit 2011 gegen­über den EU-Behörden bekannt. Dies, weil die EU-Verordnung über die Integrität und die Transparenz des Strom­grosshandels REMIT das vorschreibt. Die Schweiz zog nach und verordnete, die Schweizer Strom­firmen müssten die Daten, die sie den EU-Behörden bekannt geben, auch der Schweizerischen Elektrizitäts­kommission Elcom liefern.

Doch das betrifft nur den Handel innerhalb und mit der EU. Mit welchen Beträgen die Strom­firmen in der Schweiz handeln, bleibt ihr Geheimnis. Ein verwaltungs­intern erarbeitetes Gesetz, das die Schweizer Strom­versorger verpflichtet hätte, der Elcom auch die Handels­daten für die Schweiz bekannt zu geben, verschwand im Bundes­amt für Energie in der Schublade. Das rächt sich heute.

Matthias Finger ist emeritierter Professor für Management von Netzwerk­industrien an der ETH Lausanne und war zwölf Jahre lang Mitglied der Elcom. «Es gibt keinen Grund, die Handels­daten zu verstecken», sagt er. «Die Elcom hat schon immer auf diesen Mangel hin­gewiesen. In der Politik bestand aber kein Wille, diesen Mangel zu beheben.»

So ist der Schweizer Strom­handel heute eine Black­box, ein schwarzer Fleck inmitten eines transparenten Handels in Europa.

Wenig Durchblick in der Energie­politik

«Peinlich» findet das Jürg Grossen, Präsident der Grünliberalen Partei. «Die Schweiz ist schon fast ein Drittwelt­land, wenn es um den Über­blick über die Strom­situation geht.» Die fehlende Trans­parenz erschwere nicht nur die Regulierung, sie ermögliche auch kriminelle Aktivitäten. So sei es derzeit fast unmöglich, etwa Insider­handel fest­zustellen und zu ahnden.

Anders in der EU: Dort wurden aufsehen­erregende Fälle publik, etwa als die spanische Firma Iberdrola absichtlich die Produktion von Wasser­kraftwerken drosselte und damit die Preise am spanischen Markt in die Höhe trieb. Das bescherte Iberdrola höhere Gewinne. Dafür wurde das Unternehmen gebüsst, mit 25 Millionen Euro.

«In der Schweiz aber», sagt Jürg Grossen, «wäre ein solcher Insider­handel nicht einmal feststellbar.» Grossen hat deshalb letztes Jahr einen Vorstoss dazu eingereicht, der vom Parlament aber noch nicht behandelt wurde.

Durch die zunehmende Abkoppelung des Schweizer Markts von der EU werde es immer wichtiger zu wissen, wie die Schweizer Akteure sich im Strom­markt verhalten, sagt Grossen. Aus diesem Grund müsste die Elcom über alle Handels­tätigkeiten am Schweizer Strom­markt informiert sein, gerade auch im Hinblick auf die Versorgungs­sicherheit. Und auch anderswo fehle es an Transparenz, erklärt Grossen: «Wir wissen auch nur ungenügend, wie die Verbraucher­seite aussieht. Das hat ein Bericht des Bundesrats auf mein Postulat bestätigt.» Es sei weit­gehend unbekannt, wo und wie viele Elektro­boiler und Wärme­pumpen im Land im Betrieb seien. Dabei könnte mit einer intelligenten Steuerung solcher Anlagen sehr viel zur Versorgungs­sicherheit beigetragen werden.

Jürg Grossen findet, die Energie­politik werde holzschnitt­artig betrieben: «Wenn die Daten­lage schlecht ist, dann sind Forderungen nach einem Rettungs­schirm und Gaskraft­werken die logische Folge.» Für ein fort­schrittliches Land seien das schlechte Antworten auf die aktuellen Probleme.

Der Mangel an Daten treibt auch Matthias Finger, das ehemalige Elcom-Mitglied, um. Es brauche nicht bloss eine Energie­politik. «Es braucht eine digitale Energie­politik.» Für die Regulierung seien derzeit viel zu wenig Daten zugänglich, etwa über Strom­ausfälle und wie lange sie dauern. Dabei könnte man viel mehr zentral messen. «Aber dazu bräuchte es ein Mandat. Und da sind wir wieder bei der Politik.»

Bis sich das ändert, bleibt wohl nichts anderes, als mit geschlossenen Augen einen Schirm aufzuspannen. Und zu hoffen, dass es am Ende doch nicht regnet.

Verzocken sich die Stromfirmen an der Börse?

Ist der Stromrettungs­schirm mit 10 Milliarden Franken gross genug? Nein, sagt Karl Frauendorfer, Leiter des Instituts für Operations Research und Computational Finance der Universität St. Gallen. Er müsste zwei- bis dreimal grösser sein. «Umgesetzt auf Axpo und gestützt auf ihren Finanzbericht 2020/21 schätzen wir im Krisen­fall einen Liquiditäts­bedarf in Höhe von 12 bis 18 Milliarden Franken. Diese Grössen­ordnung sollten die Eigner­kantone für ihre Positionierung zum Rettungs­schirm mitein­beziehen.»

Frauendorfer hat die Bilanz­zahlen der grossen drei Strom­unternehmungen Axpo, Alpiq und BKW analysiert und insbesondere bei Axpo fest­gestellt, dass die Energie­derivate um das Acht­fache und die Verrechnung von Forderungen und Verpflichtungen innerhalb des Strom­handels um das Fünfundzwanzig­fache angestiegen sind – innerhalb eines Geschäftsjahres von 2020 bis 2020/21: «Diese Anstiege sind unseres Erachtens nicht mit dem Preis­anstieg an den Energie­märkten zu erklären, sondern mit dem während eines Geschäfts­jahres sukzessiven Aufbau von spekulativen Eigenhandels­positionen verbunden.»

Axpo bestreitet die Aussagen von Frauen­dorfer vehement. Sie wirft ihm vor, unseriös zu rechnen und praxisferne Modelle anzuwenden.

Doch Frauendorfer bleibt im Gespräch mit der Republik dabei: «Die Stromproduktion von Axpo von 36 Terawatt­stunden ist in keinem Verhältnis zu den im Finanz­bericht 20/21 ausgewiesenen Energie­derivaten im Umfang von 40 Milliarden Franken und einem Saldierungs­volumen von 27,6 Milliarden Franken.»

In anderen Worten: Die Axpo handelt mit deutlich mehr Strom, als sie selber produziert. Damit wäre der Konzern allfälligen Preis­verwerfungen an der Börse sehr stark ausgesetzt.

Entscheidend ist für Frauendorfer nicht nur das Handels­volumen am Bilanz­stichtag, denn auf dieses Datum hin würden viele Positionen bereinigt. Man müsse die Volumina im Strom­handel Woche für Woche kennen, um einzuschätzen, wie exponiert eine Firma an der Börse und an Over-the-counter-Handels­plattformen sein könne: «Die Volumina können unter dem Geschäfts­jahr auf das Zwei-, Drei- oder Vierfache angestiegen sein. Im Falle von Verwerfungen zieht das einen über­proportional grossen Liquiditäts­bedarf nach sich», sagt Frauendorfer. Das spekulative Geschäft lasse sich nämlich nicht von der Absicherung der effektiven Produktion trennen, so Frauendorfer. Deshalb müsse im Ernst­fall der ganze Handel mit Liquidität versorgt werden.

Frauendorfers Analyse ist umstritten. Aber er legt den Finger auf einen wunden Punkt in der Strom­branche, der bislang kaum jemanden interessierte.