Die Queen ist tot. Der Wahnsinn regiert

Es ist der perfekte Abschluss des neo­liberalen Zeit­alters: Liz Truss wird Premier­ministerin und kurz darauf steht das Vereinigte Königreich vor dem Zusammen­bruch.

Von Constantin Seibt (Text) und Clara Nebeling (Bilder), 19.10.2022

Vorgelesen von Egon Fässler
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Die Aufgabe der britischen Monarchin ist Repräsentanz – und damit der Verzicht auf die eigene Stimme. Die Sprache, die bleibt, ist die Symbolik. Und die Queen beherrschte ihr Hand­werk bis zum letzten Atem­zug.

Am 6. September empfing sie die neue Premier­ministerin Liz Truss. Zwei Tage später starb sie.

Es war, nach 70 Jahren Queen Elisabeth II., das Ende einer Epoche. Aber, wie sich in den folgenden Tagen zeigte, war es nur eine Epoche von vielen.

Mit der Queen starb nicht nur die am längsten regierende Monarchin. Mit ihr starb das Reich, in dem sie regiert hatte: die britischen Konservativen – immerhin die zweit­älteste politische Partei des Planeten, der Ruf Gross­britanniens als Handels­nation, die Zukunft Hundert­tausender ihrer Untertanen sowie die global prägende Ideologie, die 1979 in London ihren Anfang genommen hatte, als die andere prägende Frau Gross­britanniens Premier­ministerin geworden war: Margaret Thatcher.

Und – falls nicht alles täuscht – mit Elisabeth II. endete die Zeit, in der die grossen Kolonial­reiche vom Geld und Glanz der Vergangenheit profitierten. Nun werden sie von dieser Vergangenheit zerstört.

Es ist keine kleine Leistung des Zufalls, dass die Frau, die diese Zerstörung vollzog, den Vornamen der Königin trug und zuvor eine Karriere lang in Gesten, Wort­wahl, Kleidung, Programm Margaret Thatcher imitierte.

Einen Sommer lang hatten Liz Truss und ihr Konkurrent Rishi Sunak sich in endlosen Fernseh­duellen um das Amt des Premier­ministers gestritten. Es war ein heftiger, schmutziger, aber seltsam unwirklicher Wahl­kampf. Das deshalb, weil sich nur 140’000 Mitglieder der Konservativen Partei an der Wahl beteiligt hatten.

Während dieses Sommers brannten die Vororte Londons in einer beispiel­losen Hitze­welle, brach wegen miserabler Bezahlung und einer erneuten Welle an Covid-Infektionen der nationale Gesundheits­dienst teilweise zusammen, sodass Verletzte bis zu 15 Stunden auf die Ambulanz warteten, sagten Ökonominnen voraus, dass wegen der ruckartigen Steigerung der Strom­preise diesen Winter Millionen von Briten zwischen Heizen und Essen wählen müssten, wobei bereits diesen Sommer die Inflation auf 10 Prozent stand (und für Lebensmittel teils noch heftiger war), sodass diesen Herbst Geschichten wie die eines Schul­jungen die Runde machten, der über einer leeren Plastik­box dabei erwischt wurde, so zu tun, als würde er Lunch daraus essen – aus Scham, dass seine Familie sich diese Ausgabe nicht leisten konnte.

Während­dessen stritten sich die Aussen­ministerin Truss und der Schatz­kanzler Sunak darüber, wer der härtere Brexit-Anhänger war. Sunak punktete mit seinem Bekenntnis zu Finanz­disziplin, perfekten Anzügen, einem Video mit einem Schredder für EU-Regulierungen und dem Umleiten von Geldern aus ärmeren Innen­städten in die wohlhabenden Vororte, «die es verdient hatten».

Truss hingegen konterte mit nachgestellten Thatcher-Fotos und dem Versprechen, Steuer­kürzungen zu liefern. Den Ausschlag gab, dass Schatz­kanzler Sunak mit seinem Rücktritt nach dem letzten von vielen Skandalen die Regent­schaft des verlogenen Premiers Boris Johnson beendet hatte – das Publikum liebt den Verrat, niemand den Verräter.

So wurde am 5. September schliesslich Liz Truss mit 57 zu 43 Prozent Premier­ministerin. Es war eine unerwartet schwache Mehrheit, aber Truss nahm sie als Mandat für ihr komplettes Programm. Sie warf alle Gegner aus dem Kabinett und besetzte es ausschliesslich mit Anhängerinnen.

Sie nannte ein einziges Ziel: Wachstum. Und versprach, dafür wie Lady Thatcher zu arbeiten: mutig, entschieden, ohne Kompromisse.

Einen Monat später stand Gross­britannien vor dem Zusammen­bruch. Der wie jeder Zusammen­bruch war: so erwartet wie unerwartet, ohne Eleganz und weit­räumig zerstörerisch.

Der Beginn – das Ende

Genau genommen brauchte Truss dazu weniger als einen Monat. Denn die ersten zwei Wochen tat die tote Monarchin weiter ihren Dienst und hielt das Land stabil: Staats­trauer für die Queen, 25-Stunden-Schlange vor Sarg und Kondolenz­buch, Tausende Fotos und Anekdoten, Tränen und Blumen­meere.

Zwei Wochen lang hingen die Flaggen auf Halb­mast, und Gross­britannien schien wieder in Ordnung: Tee, Exzentrik, steife Ober­lippe, Pflicht, Uniformen, Churchill, Paddington Bär, James Bond. Und London war wieder der Mittel­punkt der Welt: Anreisende Staats­oberhäupter wurden im hinteren Teil der West­minster Abbey untergebracht.

Bei der Trauer­feier am 19. September sassen viele Millionen Menschen vor dem Fernseher.

Am nächsten Tag twitterte einer der Besucher, der amerikanische Präsident Joe Biden, vor seinem Treffen mit der Premier­ministerin: «Ich bin müde und angewidert von der Trickle-down-Ökonomie. Sie hat nie funktioniert.»

Ein Sprecher der Premier­ministerin kommentierte: «Die Annahme ist lächerlich, dass Präsident Biden damit auf die britische Politik angespielt haben könnte.»

Seine Chefin, Liz Truss, lieferte hingegen ein Bekenntnis zur Trickle-down-Ökonomie: Es gehe darum, den Finanz­platz zu stärken, damit wieder in Jobs und Löhne investiert werde: Sie könne nichts Unfaires an Steuer­kürzungen für Reiche entdecken. Und versicherte, ganz eiserne Lady: «Ich bin bereit, eine unpopuläre Premier­ministerin zu werden.»

Zu den Bildern

Wie ist die Stimmung gerade in Gross­britannien? Die Fotografin Clara Nebeling war im Auftrag der Republik während zweier Tage unterwegs und hat im Osten und Westen Londons mit der Kamera Szenen auf der Strasse eingefangen.

Am Freitag, dem 23. September, kurz vor Beginn der Sonder­sitzung des Parlaments, erhielt der Labour-Abgeordnete Peter Kyle eine verblüffende SMS. Ein ehemaliger konservativer Minister schrieb ihm: «Sorgt dafür, dass ihr die nächste Wahl gewinnt. Ich bin Patriot.»

Wenig später trat Truss’ neuer Schatz­kanzler Kwasi Kwarteng ans Redner­pult und stellte das neue Budget vor. Er kündigte es mit dem Satz an: «Das ist der Beginn eines neuen Zeitalters.»

Und er übertrieb nicht. Es war tatsächlich ein ausser­gewöhnliches Budget. Alles war auf ein einziges Ziel fokussiert: «2,5 Prozent Wachstum».

Zu diesem Zweck enthielt das Budget folgende Dinge:

  1. Eine Kredit­aufnahme von 60 Milliarden Pfund für Energiepreis­verbilligungen – für sämtliche Strom­bezüger, ungeachtet des Energie­verbrauchs.

  2. Das Schleifen von Regulierungen aller Art: Erlaubnis für Fracking; Abschaffung der Obergrenze für Bonus­zahlungen an Banker; ein Plan zur Einrichtung von Wirtschafts­sonderzonen mit beschränkten Steuern und Umwelt­auflagen. Sowie das Versprechen, bis Ende Jahr alle EU-Regulierungen rückgängig zu machen. (Die einzige zusätzliche Regulierung war: Die Hürden für Streiks von Gewerkschaften werden erhöht.)

  3. Eine Kredit­aufnahme von 50 Milliarden Pfund für die grössten Steuer­kürzungen seit 50 Jahren: die Rücknahme einer im Frühling beschlossenen Erhöhung der Unternehmens­steuer, die Abschaffung der Stempel­steuer für Haus­käufer, Senkung der Einkommens­steuer und des Versicherungs­beitrags – plus als Höhe­punkt die Senkung des Spitzen­steuer­satzes: von 45 auf 40 Prozent.

Es enthielt nicht:

  1. Eine Sondergewinn­steuer für die anormal grossen Gewinne der Energie­konzerne. Oder eine Abstufung bei den Energie­subventionen nach Verbrauch.

  2. Irgendeinen Finanzierungs­plan. (Ausser der Erläuterung, dass das durch Steuer­kürzungen erreichte Wachstum diese finanzieren würde.)

  3. Den geringsten Hinweis, welche Budgets gekürzt werden würden.

Letzteres war kein Versehen. Denn Kwarteng wollte, wie er später am Abend sagte, dass die Leute danach nicht über Kürzungen lamentierten. Sondern sich auf die entscheidende Botschaft konzentrierten: «Es ist ein Plan für Wachstum.»

Kurz: Kwartengs Budget war darauf getrimmt, als starkes Signal für die Märkte zu dienen.

Und das klappte. Noch während Kwarteng sprach, begann das britische Pfund einzubrechen. Während der Zins für britische Regierungs­anleihen rasant stieg.

Als die Börsen schlossen, stand das Pfund gegenüber dem Dollar auf dem tiefsten Kurs seit 1985.

Fast alle Partei­kollegen waren ebenso überrumpelt wie die Märkte. Es stellte sich heraus, dass Truss und Kwarteng weder das Budget­prüfungs­büro noch das Kabinett konsultiert hatten.

Am Sonntag­morgen erschien Kwarteng entspannt in der BBC. Und sagte zur Kritik an den Steuer­kürzungen: «Da kommt noch mehr.»

Am Montag­morgen fiel das Pfund tiefer als je in der Geschichte. Und der Zins auf die britischen Staats­anleihen stieg weiter. Was laut Sir Charles Bean, dem ehemaligen Vize­chef der Bank von England, bedeutete, dass die Kredit­kosten für die Finanzierung der neuen Massnahmen sich um 20 Milliarden Pfund erhöht hatten – pro Jahr.

Kwartengs Budget war tatsächlich historisch. Nur war es wahrscheinlich kein Anfang, sondern ein Ende – der perfekte Abschluss des neoliberalen Zeit­alters: Das kapitalmarkt­freundlichste Budget der Geschichte führte auf den Kapital­märkten zu Panik.

Schock

Anders als in der Finanz­krise blieben die Zahlen keines­wegs abstrakt. Sie schlugen direkt als Faust­schlag auf die Bevölkerung durch.

Das, weil das Misstrauen der Kredit­geber gegenüber Regierung und Inflation nicht nur die britischen Staats­anleihen erfasste, sondern sämtliche Wert­papiere in Pfund Sterling.

Was auch die Zinsen für Business­kredite, Kreditkarten­schulden und vor allem für Hypotheken schlagartig in die Höhe trieb. In wenigen Tagen verschwanden fast 1000 günstige Hypothekar­angebote vom Markt.

Gross­britannien ist ein Land der Haus­besitzerinnen – jeder Vierte davon hält eine variable Hypothek. Nun, mitten in der grössten Lebenskosten­krise seit dem Zweiten Weltkrieg, explodierten die Preise: Wer zuvor 850 Pfund für sein Haus zahlte, zahlte im neuen Vertrag bis zu 1500 Pfund.

Zwecks Finanzierung von Steuer­erleichterungen für Reiche standen mit einem Schlag Hundert­tausende von britischen Familien vor dem finanziellen Ruin.

Am Dienstag rüffelte der Internationale Währungs­fonds die britische Regierung: Die «grossen und ungezielten Ausgaben­pakete», warnte der IWF, würden «sehr wahrscheinlich die Ungleichheit vergrössern».

Eine Warnung des IWF war etwas, was sonst nur Schwellen­ländern passierte.

Was einige Kommentatoren logisch fanden: Der Ökonom Umair Haque etwa schrieb, der Unterschied zu autokratischen Drittwelt­ländern, in denen irgendein Präsident Staats­kredite aufnahm, um das Geld an seinen Clan zu verteilen, sei nicht gerade gross.

Am Mittwoch­morgen wurde es wirklich übel. Kurz nach Börsen­öffnung drohte der britische Renten­markt zusammen­zubrechen. Nicht wenige Pensions­kassen waren bis zum Dach gefüllt mit britischen Staats­anleihen – der Wertverlust zwang sie zu Not­verkäufen. Ein Crash im Stil der Banken­krise 2008 drohte.

Darauf sah sich die Bank von England gezwungen, mit 65 Milliarden Pfund Staats­anleihen zu kaufen. Das Fluten des Markts mit Geld zeigte die Verzweiflung der Zentral­bank. Schon weil es das pure Gegenteil dessen war, was die Bank von England vorhatte: weiter die Zinsen zu erhöhen, um die fieberhaft ansteigende Inflation zu bekämpfen.

Kein Wunder, mussten Kritiker wenig anderes tun, als die Zahlen zu veranschaulichen. Auf Twitter etwa kursierte folgende Rechnung zu den 65 Milliarden: Angenommen, ein Irrer verbrennt jede Stunde 3600 Pfund, das ohne Schlaf und Pause – dann müsste er, um zu Truss’ Amts­antritt fertig zu sein, bei Christi Geburt damit angefangen haben.

Und die Anti-Brexit-Gruppe «Geführt von Eseln» lieferte zum 50-Milliarden-Steuer­geschenk eine der eindrücklichsten Infografiken ab, seit es Infografiken gibt. (Warnung: Sie brauchen dafür 5 Minuten.)

Während der drei Tage Chaos blieben Truss, Kwarteng und ihr Kabinett für die Presse unerreichbar. Indirekt hörte man von Durchhalte­parolen: Der Plan stimme, die Regierung werde Kurs halten und sich nicht der «finanziellen Orthodoxie» beugen.

Ein paar einsame Tories gingen in die Verteidigung. Das Schatz­kanzler­amt erklärte, die Krise sei nichts Lokales, sondern eine welt­weite – ausgelöst durch den Russland-Ukraine-Krieg und die globale Inflation. Der Tory-General­sekretär Jake Berry hingegen sah kein Problem: «Die Leute kennen das – wenn die Rechnungen kommen, dann kürzen sie die Ausgaben, verhandeln ein höheres Gehalt oder wechseln in einen neuen Job.»

Und der konservative Gross­spender Lord Daniel Hannan erklärte, die Panik der Märkte sei die Furcht vor einer möglichen Labour-Regierung.

Labour, Wirtschafts­partei

Der Partei­tag der Labour-Partei begann am Sonntag, zwei Tage nach Kwartengs Budget-Rede. Als Erstes sangen die Delegierten die National­hymne, gedachten mit einer Schweige­minute Ihrer Majestät, der Queen, und einer der Schatten­minister sagte: «Wir sind jetzt die patriotische Partei!»

Nach der Börsen­eröffnung am Montag wurden die Reden in rasendem Tempo umgeschrieben. Aber die Pointen ergaben sich wie von selbst:

«Die Tories glauben an die Märkte, aber die Märkte nicht länger an die Tories!», «Wenn die Tories herausfinden, wer in den letzten 12 Jahren die Wirtschafts­politik gemacht hat, werden sie sehr verärgert sein.»

Mit einem Schlag hatte Labour ein scharfkantiges Wirtschafts­programm: Rücknahme der Steuer­kürzungen, Investitionen in ein Staats­programm für grüne Energie, in Gesundheit, in Bildung. Renationalisierung der zerfallenden Eisenbahn.

Unter Boris Johnson hatte Labour geklungen wie eine Dorf­ärztin, die gegen einen Voodoo­priester argumentiert. Johnsons Brexit funkelte als Wunder­elixier für die Entwicklung der Regionen, welt­weite Deals und eine neu erweckte nationale Würde.

Doch jetzt, fast über Nacht, war Labour die Partei der ökonomischen Vernunft.

Der Partei­tag war ein Triumph des Labour-Chefs Keir Starmer, der lange als Langweiler verspottet wurde. Starmer, ein methodisch arbeitender Anwalt, hatte die Partei von den Radikalen seines Vorgängers Jeremy Corbyn befreit und zäh an Programmen gefeilt. Von der bürgerlichen Seite herkommend, hatte er das Kriegs­glück gehabt, dass die Ideen dazu fast ausschliesslich von der Linken kam. Und dass Krise und Covid im wirtschafts­nahen Flügel die Debatte verändert hatten: Der Staat hatte wieder eine Rolle.

Kwartengs Budget besorgte den Rest: Es war der erste Labour-Parteitag seit langem ohne hinter­hältige Manöver, plötzlich war die Partei stolz und einig, und Keir Starmer hielt, was alle und doch plötzlich niemand mehr überraschte: eine mitreissende Rede.

Am Donnerstag­morgen trat dann die Premier­ministerin Liz Truss wieder auf. Zur Sicherheit in einer Serie von Viertelstunden­interviews bei lokalen BBC-Radio­stationen. Das ging gründlich schief. Die Moderatoren fragten: «Wo waren Sie?», «Wollen Sie sich entschuldigen?», «Was passiert mit unserem Spital?» Und als Liz Truss nichts heraus­brachte als anfangs quälendes Schweigen und dann den Hinweis auf Zuschüsse für die Strom­rechnung, antworteten ihr die sonst stets freundlichen Radio­menschen damit, dass die höheren Hypotheken die Zuschüsse für Strom und Gas längst aufgefressen hätten.

Am Donnerstag­abend erschien die erste Wahl­umfrage nach dem Budget: Labour schlug nun die Tories mit einem Vorsprung von 33 Prozent­punkten: 54 zu 21.

Wäre dies das Wahl­resultat, hätte Labour im nächsten Parlament 565 Sitze – und die Tories, eine der ältesten Parteien der Welt, exakt 3.

Ein konservativer Abgeordneter kommentierte: «Die wirkliche Überraschung ist, dass uns überhaupt noch 21 Prozent wählen.»

Lange Messer

Kein Wunder, wurde der Tory-Parteitag am folgenden Wochen­ende ein Desaster.

Dabei half es wenig, dass die «Times» enthüllte, dass der Schatz­kanzler Kwarteng den Abend nach seiner Budget­rede auf einer Champagner-Party mit Bankern, Hedgefonds-Managern und weiteren Gross­spendern verbracht hatte, die ihm gratuliert und zum Abschluss geraten hatten, «noch einen draufzusetzen».

Noch weniger half, dass die Hedgefonds-Manager schon vor der Rede auf das fallende Pfund gesetzt und damit alle ein Vermögen verdient hatten. Und einige von ihnen Kwarteng an der Party «einen nützlichen Idioten» genannt hatten.

Es half auch wenig, dass Truss plötzlich behauptete, die Steuer­kürzungen seien Kwartengs Idee, während Kwarteng später behauptete, das Budget sei wegen des Todes der Queen nicht zeit­gerecht neutral zu überprüfen gewesen.

Und es war ebenso keine Hilfe, dass Tory-General­sekretär Berry das Publikum dazu ermahnte, die Teilnehmer der Champagner-Party zu «loben», weil diese durch die Finanzierung einer politischen Partei etwas für die Demokratie täten.

Und es war kein gutes Zeichen, dass der berüchtigte Partei­intrigant Michael Gove noch vor dem Start des Partei­tags die Schleifung des Spitzen­steuer­satzes «unkonservativ» nannte und dazu aufrief, ihn zurück­zunehmen.

Hier blieben Truss und Kwarteng jedoch klar: Der Plan stimmt, keine Korrektur, keine Entschuldigung. «Ich stehe zum ganzen Paket», sagte Truss im Fernsehen am Sonntag.

Die britische Boulevard­presse stand hinter ihr, kritisierte Gove und zitierte Thatcher: «The Lady’s not for turning!»

Die anwesenden Parlamentarierinnen (viele hatten sich gedrückt) waren uneinig. Einige rebellierten, andere verteidigten die gesenkte Spitzen­steuer mit zusammen­gebissenen Zähnen.

Sie sollten ihre Loyalität schnell bereuen.

Denn am Montag­morgen, zwei Stunden vor Kwartengs Auftritt, geriet der Partei­tag völlig ausser Kontrolle: In einer sensationellen Wende wurde die Reduktion des Spitzen­steuer­satzes aufgegeben.

Der Grund war einfach: Die Stimmen im Parlament waren nicht da. Eine Menge konservativer Abgeordneter plante, mit Labour zu stimmen.

In seiner Rede begründete das Kwarteng damit, dass die Senkung des Spitzen­steuer­satzes eigentlich unwichtig und nur «eine Ablenkung von einem ansonsten starken Paket» gewesen sei. Und er habe die Demut, «den Leuten zuzuhören». Wozu er ergänzte: «Es gab ja leichte Turbulenzen.»

Das war der einzige Moment, an dem der Partei­tag lächelte.

Der Rest war Chaos. Die Innen­ministerin Suella Braverman bezichtigte ihre Partei­kollegen eines «geplanten Staats­streichs, der unprofessionell die Premier­ministerin unterminiert», die knall­harte Konservative Nadine Dorries sah ihre Partei «nach rechts taumeln» und amtierende Minister klagten, auch nicht zu wissen, was die Regierung wolle.

In ihrer Rede ging die Premier­ministerin auf nichts davon ein. Und kündigte keine konkrete Politik an. Höhe­punkt war die Zeichnung eines neuen gemeinsamen Feindes, der «Anti-Wachstums-Koalition»: Labour, schottische Nationalisten, Liberal­demokraten, Gewerkschaften, Umwelt­organisationen, Brexit-Gegner, linke Podcaster – kurz: alle, «die Protest der Tat vorziehen und Kommentare auf Twitter schreiben, statt harte Entscheidungen zu treffen».

Das allgemeine Echo war, dass die Rede keine Katastrophe war. Also weit besser als erwartet.

Thatcher (ohne Thatcher)

Keine Frage, Liz Truss hat ein Problem.

Schon deshalb: Der Gross­teil konservativer Wähler ist Haus­besitzer. Und Portemonnaies haben ein gutes Gedächtnis.

Und deshalb: Die Tories werden alles tun, um den Schaden zu begrenzen. Das einstündige Fraktions­treffen von Truss am Mittwoch beschrieb ein Parlamentarier als «Begräbnis».

Und natürlich deshalb: Weil jetzt die Debatte ansteht, wie die durch das Budget gerissenen Löcher gegen­finanziert werden sollen. Und die Streichungen werden ein Blut­bad sein: Das Institute for Fiscal Studies sprach von 62 Milliarden Pfund für die Jahre 2026 und 2027 – oder 15 Prozent bei allen Budgets, ausgenommen bei Gesundheit und Verteidigung.

Und deshalb: Weil der Zusammen­bruch weiter­läuft. Am Dienstag, dem 11. Oktober, startete die Bank von England ein zweites Not­programm zum Kauf von Staats­anleihen – aber nur bis Freitag. Sie äusserte eine Warnung an die Pensions­kassen: «Ihr habt noch drei Tage. Ihr müsst es schaffen bis zur Deadline.» Der IWF kritisierte ein weiteres Mal Gross­britannien: Die Steuer­senkungen würden «die Inflations­bekämpfung erschweren». Der Investmentchef des Allianz-Konzerns Mohamed El-Erian gab der britischen Regierung die Schuld an der Krise und sagte, die Märkte würden hohe Budget­kürzungen nicht schlucken. Er sehe keine Alternative, als die Steuern nicht zu senken.

Und auch deshalb: Weil Truss ungebremst weitermacht – hier ein paar Pläne und Massnahmen der britischen Regierung der letzten Tage:

  • Senkung der Zuschüsse für Hauskäuferinnen

  • Die Weigerung, zu versprechen, dass die Sozial­leistungen an die Inflation angepasst werden

  • Eine Sondergewinn­steuer für Energie­produzenten, aber ausschliesslich für Wind- und Solar­strom

  • Streichung der Subventionen für Landschafts­pflege

  • Das Verbot von Solar­anlagen auf Landwirtschafts­flächen

  • Das Verbot für König Charles III., zum Klima­gipfel nach Ägypten zu reisen

  • Streichung der Anti-Rauch-Prävention

  • Streichung der vom eigenen Minister Jacob Rees-Mogg vorgeschlagenen Energiespar­kampagne

  • Schubladisierung des unter Michael Gove entwickelten Gesetzes, dass niemand ohne Begründung aus der Wohnung geschmissen werden kann

Kurz: Liz Truss ist vielleicht Thatcheristin, aber sicher keine Politikerin. Mehr Feinde und Probleme kann man sich nicht machen.

Margaret Thatcher hatte als Premier­ministerin bei aller Radikalität die Geduld, lange Wege zu gehen: Sie wälzte Dossiers, stritt mit jedem und holte ihre Gegner in ihr Kabinett. Und ihre Ideen, so zweifelhaft sie waren, waren neu.

Liz Truss kopierte von ihr äusserlich alles und innerlich nichts. Nicht ohne Grund gleicht sie bei ihren Auftritten einer Wachs­figur.

In Tradition

Die grosse Frage ist: Warum tut Gross­britannien sich das an?

Denn Truss ist nun die vierte Premier­ministerin in Serie, die ihrem Land nachhaltigen Schaden zufügt:

  • David Cameron fuhr den vielleicht härtesten Spar­kurs in Europa; als seine Wieder­wahl auf der Kippe stand, kündigte er ein Referendum zur EU an, vermasselte die Abstimmung und trat ab.

  • Theresa May aktivierte ohne Not den Austritts­mechanismus, verhandelte zwei Jahre hinter verschlossenen Türen, brachte 700 Seiten Klein­gedrucktes zurück, verlor drei Abstimmungen im Parlament, die Autorität und den Job.

  • Boris Johnson stürzte May mit dem Versprechen, einen besseren Brexit zu liefern, übernahm Mays Vertrag faktisch unverändert und nannte ihn einen besseren. Wonach er die Wahl gewann und das Land unvorbereitet in eine wolkige Zukunft führte.

Die Bilanz nach 12 Jahren konservativer Regierung: Gross­britannien ist weit hinten beim Pro-Kopf-Einkommen, dafür weit vorn bei der sozialen Ungleichheit; fast auf dem letzten Platz beim Wachstum, dafür in der Spitzen­gruppe bei der Inflation.

Liz Truss’ Politik ökonomischer Grausam­keit ist insofern nichts Neues: Sie arbeitet nur schneller.

Tabu

Fragt man Ethnologen, was das Entscheidende in einer Gesellschaft ist, antworten sie: Worüber nicht geredet wird.

In der Tat haben die Brexit-Premiers etwas gemeinsam: dass sie zum entscheidenden Projekt ihrer Amts­zeit keine prägende Idee hatten und nichts sagten, was über wenige Parolen hinaus­ging. Sodass im Zentrum ihrer Politik eine Leere stand, ein Tabu, getarnt durch Lärm: der Brexit.

Für Cameron war er der Knochen für die Pit­bulls. Theresa May behandelte ihn wie eine Familien­schande: Sie wickelte still die juristischen Konsequenzen ab. Für Boris Johnson war er das Ticket zum Aufstieg in die Downing Street: Als er dort sass, las er nicht einmal das Klein­gedruckte.

Da niemand brauchbare Ideen hatte, wieder­holten sie vor allem Mantras:

Cameron: «Ihr habt das Sagen!»
May: «Das ist der bestmögliche Deal!»
Johnson: «Holt die Kontrolle zurück! Ich habe einen ofen­frischen Brexit! Lasst uns Brexit tun!»

Das Schweigen hält in der britischen Politik bis heute an.

Liz Truss erwähnte in ihrer fantasie­vollen Liste der Wachstums­gegner den Brexit mit keinem Wort.

Auch Labour-Chef Keir Starmer erledigte das Thema in wenigen Sätzen und der Formel «Brexit machen».

Selbst Michael Gove, zusammen mit Johnson eine der treibenden Kräfte hinter dem Brexit, sagte der «Financial Times»: «Ich frage mich die ganze Zeit: War es das Richtige? Ich glaube schon …»

Und zur Begründung nannte er: die «schnelle Impf­kampagne», «dass die Bürger gesehen haben, dass sie über Politiker Macht haben» – und: «Brexit ist eine gute Sache an sich.»

Schon diese Zusammen­fassung ist lang­weilig. Der Brexit ist das leere Zentrum der britischen Politik.

Fucking Brexit (Wirtschaft)

Dabei ist es schwer, die gemeinsame Wurzel der drei aktuellen politischen Plagen – kein Wachstum, Inflation, eine Regierung, der keiner mehr glaubt – nicht zu sehen: Fucking Brexit.

Der Brexit versprach Souveränität, Rebellion, British­ness, florierende Handels­abkommen, mehr Geld für den staatlichen Gesundheits­dienst, keine EU-Bürokratie mehr, Welt­offenheit, lokalere Politik, Respekt – und brachte fast exakt das Gegen­teil:

  • Eine Flut von Bürokratie. Importeure und Exporteure müssen zusätzlich Leute anheuern, die ganz­tägig labyrinthische Formulare ausfüllen, einmal für die EU, einmal für Gross­britannien: Eine kleine neue Branche ist dadurch entstanden. Plus erhebliche Kosten.

  • Die Liefer­zeit hat sich vervielfacht. Wer jeder­zeit liefern will, zahlt Lager­kosten. Wer Lebens­mittel importiert oder exportiert, riskiert verdorbene Ware.

  • Ausländerinnen kommen nicht mehr schnell ins Land. Rohre werden nicht verlegt. Universitäten nicht gefüllt. Ernte verfault.

  • Bei Reisen ins Ausland, als Mensch oder als Last­wagen, steht man Schlange.

  • Gross­britannien ist ein Import­land. Alles ist nun teurer: ausländische Waren wegen des Aufwands, inländische wegen mangelnder Konkurrenz.

  • Importe verteuern sich zusätzlich, weil das Pfund gesunken ist.

  • Exporte verringern sich wegen der Bürokratie.

  • Nord­irland ist ein fast unlösbares Problem. (Und die nord­irischen Protestanten fühlen sich betrogen.)

  • Die dauernde Drohung der britischen Regierung, Verträge zu brechen, schafft Unsicherheit.

  • Folge der Unsicherheit: Investoren überlegen sich ein Engagement mehr als zwei­mal.

  • Nach Jahren erbitterter Debatte ist die Ausländer­feindlichkeit und die Feindschaft im Inland gestiegen.

  • Die Handels­abkommen, von denen alle redeten, kamen nie. Diesen Frühling begrub Liz Truss, damals noch Aussen­ministerin, das grösste davon: Die USA haben kein Interesse.

  • Hat man die Schlange im Flug­hafen hinter sich, wird man als Brite im Ausland für verrückt gehalten oder bemitleidet.

Mehr Bürokratie, mehr Kosten – und dadurch: weniger Wachs­tum und stärkere Inflation. Und: Nichts davon macht im Geringsten Spass.

Gross­britannien ist das einzige G-7-Land, dessen Wirtschaft schlechter läuft als in der Vor-Covid-Zeit.

Fucking Brexit (Politik)

Vielleicht noch lähmender als für die britische Wirtschaft war der Brexit für die britische Politik. Das, weil sich das gesamte Land fast zehn Jahre mit einem Projekt beschäftigte, das kein klares Ziel hatte. (Ausser natürlich: raus!)

Der Brexit war eine Brut­stätte für Als-ob-Politik. David Cameron tat, als ob er ein Referendum wolle – er wollte Ruhe. Boris Johnson tat, als ob er aus der EU wollte – und nicht in die Downing Street. Theresa May tat zwei Jahre, als ob sie die EU in der Tasche hätte – aber nein. Dann tat Boris Johnson so, als ob er die EU in der Tasche …

Der Brexit war die grösste Wunsch­vernichtungs­maschine der britischen Geschichte. Alles, was an kapitalistischen Wünschen da war, erfüllte sich nicht. Alles, was an anti­kapitalistischen Wünschen da war, erfüllte sich nicht. Alles, was an patriotischen Wünschen da war, erfüllte sich nicht. Der Brexit war kein Geschäft, keine Befreiung, kein Orden.

Das unklare Projekt mobilisierte Romantiker, Clowns, Scharlatane für die grosse Schlacht. Doch der Krieg war lang, und am Schluss erbten die Ideologen die Beute: Der Brexit war vom britischen Volk beschlossen, also heilig. Kritik war Sabotage, Teil des «Projekts Angst». Wie begründet wurde, war egal. Michael Gove prägte den Satz: «Ich habe genug von Experten.»

Und irgend­wann hörte niemand mehr auf niemanden – schon aus Erschöpfung.

Das Problem mit dem Vakuum im Zentrum der britischen Politik war, dass fast niemand etwas damit anfangen konnte. Weil es fast niemandes Sache war: Vor dem Referendum war die EU bei den meist­genannten Problemen nicht einmal in den Top 10.

Und so besiedelte die kleine radikale Gruppe, die schon seit den Fünfziger­jahren davon geträumt hatte, den leeren Raum: die rechten Aussen­seiter der Konservativen Partei – Nostalgiker, Exzentrikerinnen, Ausländer­feinde, Libertäre.

Der Platz im Zentrum verschaffte ihnen ungeahnte Macht. Sie benutzten den Brexit als Schwert für alle ihre Träume: das Schleifen von Regulierungen, geschlossene Grenzen, Zementierung von Privilegien, Busspredigten, Steuer­nachlässe. Sowie als Frei­pass, bestehende durch eigene Regeln zu ersetzen.

Kaum ein Premier rückte die Politik weiter Richtung rechts als der kompass­lose Boris Johnson. Gross­britannien hat keine eigentliche Verfassung, alles beruht auf Konvention. Johnson schloss das Parlament, belog die Queen, spottete über seine Verurteilung am obersten Gericht, feuerte Brexit-Skeptikerinnen, traf einen russischen Spion, beförderte Freunde, bediente Geld­geber und sich selbst.

Johnson hatte einen tadellosen, aber teuren Geschmack. Kein Zufall, profitierten unter Johnson nur die reichsten 5 Prozent.

Und Johnson log. Andauernd. Aber das war die grosse Lektion des Brexit: Lügen war patriotisch, denn ohne Lügen hätte der Brexit nicht gewonnen. Ohne Lügen wäre er nie umgesetzt worden, ohne Lügen hätte das wichtigste britische Projekt gar keine Grund­lage.

Zwar gab es irgendwann genug Betrogene. Und Johnson stürzte, von seinem Kabinett verlassen.

Aber er veränderte die Sitten. Und seine Aussen­ministerin lernte von ihm: Worte sind Fakten. Und der Premier darf alles.

Zombie-Politik

Warum flüchteten die Märkte aus dem kapitalistischen Paradies?

Niemand kann Truss und ihrem Schatz­kanzler Kwarteng Kompromisse vorwerfen: Steuer­kürzung, Boni, Frei­handel, Gewerkschafts­zähmung – sie boten alles auf, was liberale Think­tanks auf der Speise­karte haben.

Der Grund war, dass sie nach Ruin rochen. Intellektuell, politisch, finanziell.

Sicher, Truss’ und Kwartengs Budget war radikal markt­liberal, doch vor allem radikal veraltet. So ausser­gewöhnlich das Budget im Umfang war, so konventionell waren die Ideen. Sie waren in den letzten 20 Jahren oft genug probiert worden. Und so gut wie immer gescheitert.

Die Business­presse reagierte flächen­deckend gereizt. «Das ist kein Wachstums­plan, sondern ein Wunder­trank», schrieb etwa Martin Wolf, Chef­ökonom der «Financial Times».

Die Haupt­kritik war, was schon Präsident Biden getwittert hatte: Trickle-down funktioniert nicht. Was für die ökonomische Forschung keine Neuigkeit war. Im Jahr 2020 etwa veröffentlichte die London School of Economics eine Studie von David Hope und Julian Limberg. Die beiden Autoren untersuchten die wirtschaftlichen Folgen von Steuer­kürzungen für Reiche in 18 Industrie­ländern über den Zeitraum von 50 Jahren.

Das Resultat war – keines. Fünf Jahre nach den Steuer­kürzungen blieben Arbeits­losigkeit und Wirtschafts­wachstum überall so gut wie unverändert. Der einzige messbare Effekt war: Die Reichen wurden massiv reicher.

Der Grund dafür war ziemlich einfach: Kapital ist lukrativer als Arbeit. Und deshalb hat Geld auch eine andere Physik als Wasser: Es rieselt nicht nach unten, sondern nach oben.

Eine hohe Kapital­konzentration ist vor allem ineffizient: In einer Milliardärs­wirtschaft fliesst das grosse Kapital nicht mehr in Investitionen, sondern in Anlagen: Immobilien und Finanz­märkte. Wo es dann eine wachsende Blase bildet.

Gross­britannien mit seinem Finanzplatz-Wasserkopf, land­besitzender Klasse und verarmten Industrie­landschaften war schon vor Truss das Lehrbuch­beispiel für eine Politik aus Steuer­kürzungen und Spar­programmen: eine «Stagnation-Nation», in der Investment und Produktivität seit nun 10 Jahren auf bescheidenem Niveau konstant bleiben.

Für Finanz­profis war es schlicht vorsintflutlicher Wahn­sinn, bezüglich der wirtschaftlichen Zukunft ihres Landes auf Steuer­geschenke zu setzen – und dann noch auf Pump.

Es war sogar Sabotage. Wäre das Ziel der Regierung ernst­haft Wachstum gewesen, hätte sie völlig anders investiert. Denn in der Praxis spielen Steuern beim Ansiedelungs­entscheid von Unternehmen nur am Rand eine Rolle.

Was zählt, sind vor allem politische Verlässlichkeit, hervorragende Infra­struktur, gut ausgebildete Menschen. Eine Investition von 100 Milliarden in diesen Bereichen «hätte weitaus grössere Auswirkungen als Steuer­senkungen für Besser­verdienende und Unternehmen in gleicher Höhe», kommentierte etwa die Direktorin der London School of Economics, Minouche Shafik. Doch nach den Steuer­geschenken auf Kredit sei die Tür nun zu – das sei «eine miserable Wirtschafts­politik und eine verpasste Gelegenheit».

Die Firmen­chefs auf dem Tory-Parteitag wirkten, laut «Financial Times», auch nicht glücklich. Manche gingen vorzeitig. Nicht einmal die Lobbyisten wollten den tieferen Spitzen­steuer­satz.

Dasselbe galt auch für die härteren Streik­regeln und die Streichung von Hunderten EU-Gesetzen, etwa für gleiche Löhne von Mann und Frau. Ein Firmen­chef kommentierte: «Wenn das Gesetz gestrichen wird, werden so gut wie alle Firmen es trotzdem einhalten. Ohne bekommt man keine guten Leute.»

Und ein anderer sagte: «Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie hier auch nur einen einzigen ernst zu nehmenden Arbeit­geber finden, der es eine gute Sache findet, die Gewerkschaften fertig­zumachen. Wir stellen diese Leute an. Wir schätzen sie.»

«Die Truss-Regierung hat sich bemerkens­wert Mühe gegeben, vorsätzlich unsympathisch zu sein», schloss die «Financial Times»: «Es ist sehr unklar, warum das britische Business ihr dorthin folgen sollte.»

Das Ende

Der Panik des Marktes folgte die Panik der Politik – Kwasi Kwarteng lud am 28. September die Chefs aus der Finanz­industrie ein. Doch statt eine Botschaft zu haben, stellte er den Bankern Fragen: Was er tun solle, um die Märkte zu beruhigen.

Der Rat der Top-Banker klang, als müsse man ein Wild­tier zähmen: «Keine Panik zeigen, hör niemals auf, dem Markt zu erklären, was du machst … Wir mögen keine Unordnung.»

Die schreckliche Wahrheit war eher, dass Kwarteng längst nicht mehr zugehört wurde. Weil es bei den Investorinnen längst nicht mehr um diese oder jene fiskalische Mass­nahme ging. Sondern um einen umfassenden Zusammen­bruch der Glaubwürdigkeit der britischen Regierung.

Und dieser war bereits seit sieben Jahren in Arbeit. Denn dramaturgisch gesehen war der Brexit die perfekte Falle:

  • In ruhigeren Zeiten hat die Lüge in der Politik nur selten ernsthaft Konsequenzen. Das, weil es in der Politik nicht um Recht haben geht, sondern um Recht behalten. Die Aufgabe von Politikern ist nicht die Beschreibung der Wirklichkeit, sondern deren Veränderung. Und nichts verändert die Wirklichkeit so effizient wie eine Lüge.

  • Das Problem war, dass das Brexit-Lager eine gefährliche Sehn­sucht verkaufte: Souveränität. Wieder Kontrolle – über Gesetze, Gelder, Grenzen. Wieder zurück zu den Zeiten des einsamen stolzen Britanniens im Zweiten Weltkrieg. (Und: Zurück zur Macht des Empire!)

  • Souveränität ist oft das Code­wort für Willkür. Man ist wer und kann es den anderen zeigen. Und die Lüge ist eine der verführerischsten Formen der Souveränität. Wir 1, Wirklichkeit 0.

  • Zu allem Übel liess sich fast kein einziger konkreter politischer oder wirtschaftlicher Vorteil für den Brexit finden. Ergo blieb nur Bombast, Ablenkung, Versprechen baldiger Wunder – kurz: so tun als ob.

  • Wodurch sich a) die britische Politik immer tiefer in irrelevante Debatten verwickelte. Sie beschäftigte sich mit Handels­abkommen, die nie zustande kamen, beschwerte sich über Verträge, die sie im Triumph unter­schrieben hatte, rechnete mit Freiheits­dividenden, die nur in den eigenen Propaganda­papieren standen.

  • Während sich b) ein Wett­bewerb in der Konservativen Partei entwickelte, wer das Als-ob am kühnsten beherrschte. Die radikalere Fraktion besiegte dabei stets die «realistischere», weil diese eben auch nicht realistisch war, dafür trauriger klang.

  • Der Zirkus ging erstaunlich lange erstaunlich gut. Man gewöhnte sich daran, dass das also nun Politik war. Absurdität war die neue Normalität. Wirtschaftlich war der Brexit eine Katastrophe, aber politisch ein Bomben­geschäft.

  • Truss gewann den Wahl­kampf in ihrer Partei nach den internen Regeln: Wer die Dosis verdoppelt, siegt. Ihr Gegner Rishi Sunak warnte vor Steuer­kürzungen, weil: zu riskant während steigender Inflation. Sie nannte das: «unkonservativ».

  • Nur nehmen Lügen als Geschäfts­modell unausweichlich immer dasselbe Ende: Irgendwann landen die Lügenden im Boden­losen.

Die Rechnung kam dann über Nacht – aber es wird eine Generation brauchen, sie zu zahlen: Wegen des Zusammen­bruchs der Glaubwürdigkeit wird Gross­britannien auf Jahre hinaus viele Milliarden mehr an Schuld­zinsen zahlen – Geld, das man in Spitäler oder Schulen hätte stecken können.

Die Regierung, die für Wirtschaft und Wachstum angetreten war, wird ein sehr viel ärmeres Land hinter­lassen. (Und weiss Gott, was noch auf dem Renten­markt passiert!)

Ebenso klar ist: Der lange Marsch des kleinen, lauten, libertären Flügels der Konservativen Partei ist zu Ende. Über 50 Jahre lang intrigierten sie, sabotierten sie und stürzten sie Premier um Premier – und als sie zwei der ihren an der Macht hatten, brach in ein paar Tagen das Land zusammen. Und auch die Tories selbst sind wahrscheinlich für eine Generation Vergangenheit. Sie haben ihr wichtigstes Wahl­argument verloren: die Partei für das Portemonnaie zu sein.

Und auch die politische Zukunft von Truss und Kwarteng ist entschieden: Es wird sie nicht geben.

Am Freitag, dem 14. Oktober, versuchte die Premier­ministerin noch einen letzten verzweifelten Schach­zug: Sie stimmte einer Erhöhung der Unternehmens­steuer zu und entliess ihren Schatz­kanzler Kwarteng.

Kwarteng erfuhr davon, als er zurück aus Washington im Dienst­wagen die Schlag­zeilen las. Wenig später sagte es Truss ihm auch unter vier Augen. Sie teilte ihm mit, dass sie keine Wahl gehabt hätte, weil die Märkte ihm das Vertrauen entzogen hätten.

Niemand schätzte ihre Opfer­bereitschaft. «Einer runter – eine geht noch», kommentierte etwa Martin Wolf in der «Financial Times».

Am Montag­mittag, dem 17. Oktober, trat der neue Schatz­kanzler Jeremy Hunt vor die Presse. Sein Auftritt dauerte nur 5 Minuten 30 Sekunden und war ein epochaler Traditions­bruch. Zum ersten Mal in der britischen Geschichte verkündete ein Schatz­kanzler nicht alle seine Steuer­pläne vor dem Parlament.

Seine Rede spiegelte die Macht­verhältnisse: Die Märkte waren souveräner als Gross­britannien. Und Hunt mächtiger als Truss.

Denn die 5 Minuten und 30 Sekunden genügten Hunt, um das komplette Programm seiner Premier­ministerin zu annullieren: Er nahm fast alle Steuer­kürzungen zurück. Und verkrüppelte ihr einziges populäres Versprechen: Die Energie­subventionen laufen statt zwei Jahre nur noch sechs Monate.

Ein Journalist des «Guardian» beschrieb es in drei Worten: ein «sehr höflicher Staats­streich».

Nach Hunts Rede sahen alle aufs Handy: Und atmeten auf, als das Pfund einen Hauch stieg und die Zinsen auf Staats­anleihen einen Hauch sanken. Die Märkte hatten Vertrauen geschenkt.

Doch selbst wenn das so bleibt, wird dadurch nichts freundlicher. Denn Hunt versprach «Stabilität», warnte vor «schwierigen Entscheidungen» und bekannte sich zu den Werten eines «mitfühlenden Konservativen» – Code­worte für massive Budget­kürzungen.

Dazu warnte Andrew Bailey, Chef der Bank von England, dass die Zins­erhöhungen schärfer sein könnten als erwartet. Was heisst: Inflations­bekämpfung.

Was heisst: Die Party ist vorbei. Und zwar vor allem für die, die schon zuvor keine gehabt hatten.

Was heisst: Gross­britannien wird das Land, in dem Träume vernichtet werden. Die Träume des Brexit von einsamer Grösse und der Rückkehr des Empires, die Träume des Neo­liberalismus von unternehmerischen Genies und einem unfehlbaren Lehr­buch mit nur einer einzigen Seite, die Träume der zweit­ältesten politischen Partei des Planeten, dass die Wirklichkeit sich der Partei­linie beugt.

Aber vor allem werden die Träume von Millionen Britinnen zerstört werden, die damit nichts zu tun hatten, aber die Illusion hatten, ein Haus kaufen oder abzahlen zu können, eine Familie zu gründen oder ernähren zu können, die die Kühnheit hatten, zu glauben, souverän und in Würde leben zu können.

Was Liz Truss angeht, veröffentlichte der «Economist» bereits vor längerer Zeit einen passend kurzen Nachruf:

«Liz Truss ist bereits heute eine historische Figur. Wie lange sie auch immer im Amt verbleibt, sie wird als die Premier­ministerin in die Geschichte eingehen, die am wenigsten lang an der Macht war. Ms Truss betrat die Downing Street am 6. September. Sie jagte ihre Regierung mit einer Serie von nicht finanzierten Steuer­kürzungen und Energie­subventionen am 23. September in die Luft. Zieht man die 10 Tage Staats­trauer nach dem Tod der Queen ab, war sie 7 Tage an der Macht. Das ist die Regal­zeit eines Kopfsalats.»

Wir haben in einer früheren Version geschrieben, dass mit Elisabeth II. die Zeit endete, «in der die grossen Kolonial­reiche nicht mehr vom Geld und Glanz der Vergangenheit profitierten». Wir haben die Wörter «nicht mehr» gestrichen und danken für den Hinweis aus der Verlegerschaft.