Die Macht der Lüge in der Politik

Kaum ein Politiker hat so systematisch gelogen wie Donald Trump. Nur schadet ihm das wenig. Im Gegenteil: Sein Stil macht weltweit Schule. Warum ist die Lüge ein so brauchbares Mittel in der Politik?

Von Constantin Seibt (Text) und Chrigel Farner (Illustrationen), 30.10.2018

Teilen3 Beiträge3

Die Zahl klang wie die Statistik aus dem Verhörraum eines grösseren Polizeireviers.

In 500 Tagen 3250 falsche Aussagen.

Doch es handelt sich um die Startbilanz des amerikanischen Präsidenten. Ende Mai 2018 lieferte die «Washington Post» dazu eine lange, akribisch belegte Liste von öffentlichen Falschaussagen im Netz. Darauf legte Präsident Donald Trump an Tempo zu. Im Juni und im Juli kamen 970 weitere dazu. 16 Lügen pro Tag.

Dabei wurden Sätze wie «Ich bin ein stabiles Genie!» nicht einmal erwähnt. Die Liste der «Post» beinhaltet nur nachweislich Falsches: abenteuerliche Statistiken, geplatzte Dementis zu Sexaffären, wilde Unterstellungen an politische Gegner, immer neue Versionen zur Russland-Verstrickung.

Seit dem Zweiten Weltkrieg hat kein demokratisch gewählter Staatschef so systematisch gelogen wie Präsident Trump. Das Verblüffende ist, wie wenig es ihm geschadet hat. In Umfragen unter republikanischen Wählern steht er bei über 85 Prozent Zustimmung. Und ist damit unantastbar als Champion der Partei.

Was bei den Wahlen passiert, zeigt sich am 6. November. Für den Senat stehen die Chancen der Republikaner bei rund 85 Prozent, für das Repräsentantenhaus gerade umgekehrt. Gewinnen die Republikaner beides, endet Trumps Angriff auf die Wirklichkeit mit einem Triumph über sie.

Trumps bisheriger Erfolg inspirierte Autokraten wie Erdogan oder Putin, Parteien wie die AfD oder den Front national. Und lieferte dem Faschisten Jair Bolsonaro das Rezept für den Sieg in Brasilien. Ohne Zweifel ist Donald Trump der stilbildende Politiker des frühen 21. Jahrhunderts.

Nur: Warum?

Taten, nicht Tatsachen!

Zwar ist die Menge der Lügen im Fall Donald Trump eine echte Neuerung. Doch dass Politiker nicht die Wahrheit sagen, ist keine.

In der Tat verblüfft, wie wenig es verblüfft, wenn ein Politiker lügt. Eine geplatzte Lüge schadet seiner Karriere fast nie. Zwar fordern dann Journalisten und politische Gegner gern den Rücktritt. Aber selbst sie wissen: Das gehört zum Spiel.

Warum diese Gelassenheit? Der Grund ist, wie Hannah Arendt in ihrem grossen Essay «Wahrheit und Politik» schrieb, dass kein Mensch die Politik für zuständig hält in Bezug auf die Wahrheit. Der Beruf eines Politikers ist nicht das Beschreiben von Wirklichkeit – sondern ihre Veränderung. Und nichts verändert die Wirklichkeit so effizient wie eine Lüge.

Kein Wunder, sehen seine Wähler die Lüge eines Politikers im Zweifel als Zeichen seiner Ehrlichkeit. Indem der Präsident lügt, kämpft er gleich dreifach für seine Leute: Er bestätigt ihren Blick auf die Welt. Er setzt seine Agenda durch – im Zweifel auch gegen die Fakten. Und wenn sich die Dummköpfe auf der Gegenseite ärgern – umso besser.

Wahrheit versus Meinung

Die Geschichte der politischen Lüge ist erstaunlich jung – sie beginnt erst mit dem Aufstieg der Massenmedien im 20. Jahrhundert.

Dann allerdings erreichte sie schnell brutale Wucht. Die kommunistischen und faschistischen Parteien waren die Ersten, die nicht nur die Macht über die Menschen wollten, sondern auch über die Tatsachen. Egal ob Geschichtsdaten, wissenschaftliche Theorien oder Wirtschaftsstatistiken: Für die totalitären Politiker waren sämtliche Tatsachen politisch. Sie kontrollierten, retuschierten, eliminierten sie im grossen Stil.

Doch die heutige Propaganda funktioniert völlig anders als noch im 20. Jahrhundert. Damals dominierten Ideologien: Politiker mit autokratischen Neigungen setzten auf angeblich unfehlbare Systeme. Und damit auf wissenschaftliche Traktate, Kohärenz, Kontrolle, Zentralismus.

Im Internetzeitalter benutzen Demagogen aller Lager die gegenteilige Strategie: Sie pfeifen auf Systematik jeder Art. Ihr Ziel ist, fast nichts mehr feststehend zu lassen. Und Tatsachen durch Meinungen zu ersetzen.

Es ist ein Modell der Machtergreifung in vier Schritten.

Von Demokratie zu Diktatur

Der erste Schritt moderner Demagogen ist, Tatsachen wie Meinungen zu behandeln. Und damit egal was als beliebig umstritten hinzustellen.

Auch Donald Trump begann so. Typisch dafür ist etwa ein TV-Auftritt von Trump im Jahr 2012 bei dem Moderator Wolf Blitzer von CNN. Trump war damals noch kein Politiker – nur ein exzentrischer Milliardär. Er behauptete, Präsident Obama sei in Kenia, nicht auf Hawaii geboren. Blitzer konterte mit einem unwiderlegbaren Beweis – der Einblendung von Obamas Geburtsanzeige in einer Lokalzeitung von Hawaii. Worauf Trump erwiderte: «Sie haben Ihre Meinung, das ist wunderschön, ich habe meine Meinung, das ist auch wunderschön.»

Im politischen Kampf arbeiten Demagogen systematisch daran, Tatsachen zu Meinungen zu verwässern. Das ist harte, teure Arbeit. In den USA finanzierten konservative Milliardäre über dreissig Jahre eine ganze Industrie zur Produktion von alternativen Fakten: Thinktanks, Universitäten, Medienimperien – von Radioshows bis zum Sender Fox News.

Der Erfolg ihrer Investitionen ist, dass in den USA Republikaner und Demokraten in Paralleluniversen leben. Politik und Medien liefern den Bürgern nicht zwei verschiedene Interpretationen der Wirklichkeit, sondern zwei komplett verschiedene Wirklichkeiten. Je nach politischer Präferenz hört man komplett verschiedene Experten, Statistiken, Tatsachen.

Damit hat die Demagogie die zweite Stufe erreicht: Fakten sind nicht mehr nur eine Frage der persönlichen Meinung, sondern eine der Loyalität. Denn durch die Spaltung in zwei Universen sind Fakten in den USA längst Lagersache. Egal, ob Evolution, Wirtschaftsentwicklung oder Krankenkasse – die Fragen lauten nicht mehr: Welche Analyse oder Massnahme ist richtig oder falsch? Sondern: Bist du für oder gegen uns?

Kein Wunder, kann Trump nun die dritte Stufe der Verwandlung von Tatsachen in Meinungen zünden. Und Glaubwürdigkeit bereits im Vornherein beanspruchen. So empfiehlt er seinen Anhängern, keine Zeitungen mehr zu lesen. Sondern alle Nachrichten «direkt bei eurem Lieblingspräsidenten» zu beziehen.

Wahrheit ist in Trumps Universum quasi eine persönliche Eigenschaft des Parteiführers. Nicht zuletzt dient seine Kaskade an Falschaussagen als Herrschaftsinstrument: Abgeordnete müssen permanent ihre Loyalität beweisen, indem sie die neueste Unrichtigkeit ihres Chefs verteidigen.

Die vierte Stufe kennt man aus der Geschichte: Sie zündet, wenn die Justiz mitmacht. Und jede abweichende Meinung strafbar wird.

Das Sagen

Präsident Trump ist alles andere als einsam. In den Debatten des Internets herrschen oft die Sitten einer Stammesgesellschaft – Leute mit abweichender Meinung (egal, ob Dummheiten oder Klugheiten) werden beleidigt, bedroht, teils im Rudel verfolgt.

Woher diese Gereiztheit?

Im letzten Jahrhundert war der Fall klar: Etwas zu sagen hatte, wer Zugang zu Massenmedien hatte. Wer das war, bestimmten (mit was für Gründen auch immer) die Journalisten: Mächtige, Expertinnen, Exzentrische erhielten Zutritt. Normale Menschen schafften es erst mit der Todesanzeige in die Medien.

Mit dem Netz bekamen plötzlich alle Zugang zur Kanzel. Aber zu einem brutalen Preis: Jeder kann der Welt alles mitteilen. Nur hört die Welt nicht zu. Kein Wunder, griffen viele zum einfachsten Mittel, um ein Echo zu bekommen: Je extremer ein Statement, desto sicherer sind Reaktionen.

Millionen von Amateuren fingen an zu publizieren. Kein Wunder, ging es roh zu. Nichts erzeugt so viel Wut wie Ohnmacht. Die eigene. Aber auch die fremde.

Wenn man liest, was heutigen Politikern im Netz am brutalsten vorgeworfen wird, dann ist es nicht das Zuviel, sondern das Zuwenig an Macht. Der Hass entzündet sich kaum je an Machtmissbrauch, sondern an Kontrollverlust. Es ist kein Versehen, dass Politiker wie Angela Merkel oder Berufsgruppen wie Journalisten erst dann als feindliche Verschwörer verdächtigt werden, wenn ihr Einfluss abnimmt.

Dagegen sind Barbaren populär – man hält sie für durchsetzungsfähig. Denn auf die grossen Entwicklungen haben traditionelle Politiker kaum mehr Einfluss; nicht auf das komplexe Netz der Verträge, nicht auf die Handels- und Geldströme, nicht auf Schwelfeuer wie Eurokrise oder Klimawandel, nicht auf die Fortschritte von Robotern und künstlicher Intelligenz.

Eine doppelte Machtlosigkeit vergiftet den Ton der Debatte: die der Kommentatoren. Und die der Machthaber. Beide haben zwar das Sagen, aber keinen greifbaren Hebel, es umzusetzen. Kein Wunder, herrscht die Sehnsucht nach Rohheit, nach Anfang, nach Souveränität.

Ist die gewünschte Ware Rohheit, schadet es Autokraten wie Trump nicht, wenn die «Washington Post» seine nun über 5000 Falschaussagen im Netz auflistet. Denn bei allen Lügen war Trump von Anfang an in einer Hinsicht schamlos ehrlich: über seine Natur als Barbar. Es gibt nichts an ihm zu entlarven. Seine Wähler machten sich über ihn nur wenige Illusionen.

Sie wählten ihn, um eine Handgranate ins Weisse Haus zu werfen.

Die tödlichste Waffe von allen

Die Illusionen machen sich eher die Aufklärer: all die, die glauben, dass Fakten das Fundament einer Gesellschaft bilden. Der Kitt besteht aus anderem Stoff: aus Erzählungen.

In seinem Buch «Eine kurze Geschichte der Menschheit» überlegt der israelische Historiker Yuval Harari, warum der Mensch, über Millionen von Jahren ein unbedeutendes Tier in der Mitte der Nahrungskette, vor 70’000 Jahren plötzlich anfing, sein Biotop in Afrika zu verlassen, um das erfolgreichste Raubtier des Planeten zu werden. In nicht einmal 10’000 Jahren verbreitete er sich rund um den Erdball und rottete über die Hälfte aller Grosssäuger aus. Und das noch vor der ersten Waffe aus Eisen.

Der Grund war, dass der Mensch durch eine Mutation bereits die furchtbarste Waffe in die Hand bekommen hatte, die die Welt je gesehen hat: die Sprache.

Nur: Was machte diese so wirksam? Das Entscheidende war nicht die Möglichkeit, durch Worte Hinweise oder Warnungen zu geben oder soziale Bindungen zu festigen. All das können auch andere Tiere. Das wirklich Neue an der Sprache, so Harari, war, dass sie es gestattete, von dem Nichtexistierenden zu reden. Es war die Möglichkeit, Geschichten zu erzählen.

Das Problem, das durch Erzählungen gelöst wurde, war das der Organisation. Denn für Mensch wie Tier gibt es eine universelle Konstante: Kein Lebewesen kann mit mehr als 150 Individuen persönliche Bekanntschaft pflegen. Das beschränkt die Grösse und die Macht eines Rudels.

Durch das Reden über Nichtexistierendes aber können Menschen zusammenarbeiten, die sich nie gesehen haben. Sie tun es im Namen eines Gottes, einer Dynastie, einer Idee wie Freiheit, Nation oder Gerechtigkeit, einer Marke wie Novartis oder Apple.

Ihre Fähigkeit, an Erzählungen zu glauben, liess die Menschen in grosser Zahl und oft über Generationen hinweg an dem Gleichen arbeiten. Dieser Hartnäckigkeit konnte keine andere Spezies etwas entgegensetzen. Harari definierte den Menschen deshalb als das «brandrodende, Geschichten erzählende Tier».

Deshalb ist die Verantwortung all derer, die Geschichten erfinden, so gross: weil Menschen sich an Geschichten orientieren. Und alles daransetzen, diese wahr zu machen.

Und es macht einen enormen Unterschied, welche Geschichte das ist. Ob wir die Geschichte des Schmelztiegels erzählen oder die einer Willensnation. Oder die Geschichte, dass nur die Reinheit des Blutes zählt, dass die Hälfte aller Mitbürger Verräter sind und nur der Boss es richten kann.

Kommt ein Demagoge mit einer destruktiven Erzählung an die Macht, dann trifft ein, was die politischen Philosophen seit Plato an der Demokratie gefürchtet haben: die Tyrannei der Mehrheit.

Demokratie versus Demagogie

Für den Fall des Sieges eines Demagogen haben die Gründer der modernen Demokratie verschiedene Schutzvorrichtungen konstruiert. Nur sind diese unterschiedlich stark.

Als wenig resistent haben sich die Profipolitiker im Parlament herausgestellt. Die Republikanische Partei in den USA ist nach nur einem Jahr Trump nicht wiederzuerkennen. Über Jahrzehnte waren die Republikaner stolz auf ihre Prinzipien: christliche Familienwerte, fiskalische Vernunft, Kämpfer für die Freiheit. Sie sahen sich als harte, aber gerade Kerle.

Heute loben dieselben Parlamentarier den Präsidenten vor laufender Kamera als «Genie». Und sagen nichts gegen aussereheliche Affären mit Pornostars, nichts zur Unterwanderung des eigenen Wahlsystems durch Russland. Stattdessen jagen sie das Defizit auf eine Billion Dollar hoch.

Präsident Trumps Lügen haben sich nach einer ersten Irritation als erstaunlich effizientes Unterwerfungsmittel erwiesen – gerade die absurden, unnötigen unter ihnen. Das deshalb, weil der Loyalitätstest für republikanische Abgeordnete darin bestand, sie zu wiederholen. Und wer das einmal tat, verteidigte dann alles.

Auch die Presse hat wenig Wirkung. In einer gespaltenen Gesellschaft wird Journalismus nur noch als Stimme eines Lagers wahrgenommen, egal, wie sehr sich ein Medium um Neutralität, Transparenz oder Faktentreue bemüht. Die Polarisierung liess zwar überall die Auflage steigen, vernichtete aber ihre Autorität als neutrale Instanz.

Wenig Schutz bieten auch die Ideale der Demokratie: Die Menschenrechte werden als Hindernis für die nationale Souveränität von autoritären Parteien flächendeckend angegriffen – meist, indem Verträge gekündigt werden. In den USA reihenweise, in der Schweiz etwa per Selbstbestimmungsinitiative.

Das Einzige, was die amerikanische Demokratie noch in den Angeln hält, ist die Institution, die sich am humorlosesten an Beweise und Buchstaben hält – die Justiz. Mehrere Gerichte und Ermittler haben die Spur des Präsidenten aufgenommen – sie untersuchen nun seine Entscheidungen, seine Geschäfte, seine Verbindungen nach Russland.

Bereits schreiben die ersten Magazine, dass der Präsident das Muster eines Trickbetrügers zeigt: Die Zahl und die Intensität der Lügen steigen, mit dem Ziel, durch immer neue Ablenkung die Entlarvung zu verhindern. Gut möglich, dass ausgerechnet ein paar simple Tatsachen am Ende zu Trumps Verhängnis werden.

Währenddessen allerdings ernennen Trumps Leute in Rekordzahl neue Richter. Nicht nur am Supreme Court, wo nach der Wahl von Brett Kavanaugh die republikanische Mehrheit auf Jahrzehnte zementiert ist – sondern auch auf allen anderen möglichen Ebenen: nach dem Kriterium der Parteitreue.

Und für Trumps Anhänger ist klar, dass die wahre Geschichte der Untersuchungen gegen Trump eine völlig andere ist: Politisierte Justizbeamte unterwandern die Demokratie. Indem sie den Mann zu kippen versuchen, der den Volkswillen verkörpert.

Kurz: Die Lüge hat lange Beine. Es ist ein offenes Rennen.

Illusionen

Was tun? Nun, Illusionen sollte man sich nicht machen: Tatsachen, Studien, Statistiken überzeugen nicht. Diese sind die Zutaten – aber nicht der Kuchen. Als Zutaten sollten sie zwar rein sein, aber nichts enthebt einen der Verantwortung, aus diesen Zutaten eine Erzählung zu machen. («Plausibilität», schrieb Raymond Chandler, «ist eine Frage des Stils.»)

Auch auf die demokratische Debatte darf man nicht viel setzen, wenn die Lüge ihre volle Macht entwickelt hat und nackt ohne jeden Hauch von Spin auftritt. Wenn etwa wie in den Zwischenwahlen die Republikaner nach einem riesigen Steuergeschenk für Reiche behaupten, dass sie das Defizit verkleinert hätten. Oder wenn Kandidaten behaupten, dass sie die Krankenversicherung ausbauen wollten, die sie gerade abschaffen.

Ist eine Gesellschaft derart gespalten, dass platte 180-Grad-Lügen genügen, ist die demokratische Debatte tot. Die Macht der Lüge kann nicht mehr durch Entlarvung oder Argumente gebrochen werden. Sondern nur, indem die Macht der Lügner gebrochen wird. Wer Trump stoppen will, muss – mit welchem Mittel auch immer – die Wahlen gegen ihn gewinnen.

Freiheit

Zugegeben: Auf den ersten Blick hat das autoritäre Programm durchaus Charme. Denn Willkür schafft bei aller Rohheit wieder Raum zum Handeln. Und das ist kein kleines Versprechen in einer Gesellschaft, die aus tausend Verträgen, Gewohnheiten, Zufällen, Abhängigkeiten, Privilegien gebaut ist.

Die Lüge, schamlos angewandt, hat eine faszinierende Zerstörungskraft. Zunächst auf die Wahrnehmung. Dann auf die wirkliche Welt.

Denn letztlich bleibt der systematischen Lüge keine andere Möglichkeit als reale Vernichtung. Ihr Ziel ist der möglichst komplette Ersatz der Wirklichkeit durch sie selbst.

Und hier scheitert die Lüge als politisches Projekt jeweils. Zwar lassen sich Experten, Tatsachen, die Wirklichkeit erstaunlich einfach beseitigen – nur gibt es dann nur noch das Bodenlose, in dem alles möglich ist. Und nichts mehr passiert: Denn in Gesellschaften – wie etwa der Sowjetunion –, wo die Lüge dominiert, dominiert als Funktionär auch bald der Zyniker, der alles weiss, das Gegenteil sagt und nichts tut.

Gesellschaften können Jahrzehnte verharren in diesem Zustand. Erst grell in Fantasiefarben, dann rot in Blut, dann grau in grau.

Es ist das Ende des wirklichen Versprechens, das die Lüge zu geben scheint. Denn warum ist die Lüge so stark? Das Verführerische an ihr ist die Freiheit. Die Lüge ist, wie Hannah Arendt einmal bemerkte, einer der wenigen Beweise der Freiheit des menschlichen Willens: die seltsame Fähigkeit zu sagen, es regnet, wenn die Sonne scheint.

Dies ist die stark überarbeitete Fassung des Vorworts zum Katalog der Ausstellung «Fake. Die ganze Wahrheit» im Stapferhaus Lenzburg.