Einer von uns

Ein Mann aus prominentem linkem Elternhaus propagiert auf Twitter eine rechts­terroristische Ideologie. Dann sticht er einen Menschen fast zu Tode. Warum bleibt der Fall der Öffentlichkeit so gut wie unbekannt?

Von Daniel Ryser, Basil Schöni (Text) und Yann Le Bec (Illustration), 06.10.2022

Vorgelesen von Miriam Japp
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Stellen Sie sich vor, ein Mann zieht ein T-Shirt von Osama bin Laden an und provoziert damit an einer Trauer­feier für Opfer eines islamistischen Terror­anschlags. Oder mit einem T-Shirt des Islamischen Staats vor einer Kirche oder einer Synagoge. Und als der Mann irgendwann angegangen und aufgefordert wird, sein T-Shirt auszuziehen oder zu verschwinden, da zückt er ein Messer und sticht zu. Er verletzt eine Person schwer, sie kommt nur knapp mit dem Leben davon.

Stellen Sie sich vor, was dann in diesem Land los wäre.

Das hier ist so eine Geschichte: Ein junger Mann provoziert mit einem T-Shirt, wird angegangen, sticht zu, verletzt jemanden schwer.

Nur vertrat dieser Mann bei seiner Tat keine islamistische Ideologie, sondern eine rechts­extremistische. Er trug kein T-Shirt von Osama bin Laden, sondern von amerikanischen Rassisten. Er provozierte nicht nur einmal, sondern mehrmals. Und als der Mann dann schliesslich zustach, da war in diesem Land praktisch gar nichts los.

Der Fall dieses jungen Mannes wurde im Juli 2022 vor dem Zürcher Bezirks­gericht verhandelt, und wer die Vorgänge aus der Ferne verfolgte, also aus den Medien, für den sahen sie wie eine ganz gewöhnliche Messer­stecherei aus, die die Zeitungen auf die hinteren Seiten des Lokalteils verbannten: Im Nachgang einer Rangelei mit einem Fussball­fan hatte ein Mann vor einem Einkaufs­zentrum mehrmals mit einem Rüstmesser zugestochen und dabei sein Opfer lebens­gefährlich verletzt.

Bemerkenswert an der Verhandlung war, dass das Gericht den Medien sehr strenge Auflagen gemacht hatte: Es hatte angeordnet, dass die Anonymität des Beschuldigten und seiner Familie gewahrt werden müsse, dass die Familie aufgrund ihrer Bekanntheit besonders schützens­wert sei und auf gar keinen Fall ein identifizierender Bezug zu einem kulturellen Projekt hergestellt werden dürfe, das der Beschuldigte mit seiner Familie produziert und öffentlichkeits­wirksam in Presse und Fernsehen vermarktet hatte.

Die Medien hielten sich an die ausser­gewöhnliche Massnahme. Nicht nur das: Sie thematisierten die Einschränkung der Presse­freiheit nicht einmal. Und darum kritisierten sie auch nicht, dass die Massnahme womöglich sogar rechtswidrig war. Aber dazu später.

Was dabei völlig zur Neben­sache verkam, war der Umstand, dass der Messer­stecher vor seiner Tat über ein Jahr lang in den sozialen Medien eine rechts­terroristische Ideologie propagiert hatte.

War es irgendwo auf der Welt zu einem rechts­terroristischen Massenmord gekommen – im neuseeländischen Christchurch, im texanischen El Paso oder im deutschen Hanau –, spürte der Mann innert Stunden das Manifest des Täters im Netz auf, lud es herunter oder las es online. In der Denkweise und in der Sprache dieser Manifeste hetzte der junge Mann dann auf Twitter in Hunderten Beiträgen gegen Nicht-Weisse, gegen Frauen, gegen Linke, gegen Homosexuelle.

Ein Detektiv der Stadtpolizei, der sich im Nachgang zur Messer­attacke im Juni 2020 über Monate mit dem Fall befasste und fast tausend Social-Media-Beiträge las, Manifeste und Fotos sichtete, die sich auf zwei beschlagnahmten Smart­phones des Rechts­extremisten befanden, kam, so steht es in den Untersuchungs­akten, nicht nur zum Schluss, dass sich der Mann seit 2019 ein «xeno- und misanthropisches Weltbild» aufgebaut, «eine klare und vertiefte Radikalisierung» durchgemacht und eine «rassistische Einstellung» verinnerlicht habe. Der Detektiv gelangte auch «zur ernsthaften Befürchtung und Annahme», dass der Mann wieder «eine ähnliche Tat» ausführen könnte – oder «noch schlimmer ein Attentat».

Die Republik hatte Einblick in die Untersuchungs­akten. Wir werteten zudem 2430 online archivierte Tweets des Mannes aus, von denen 615 auf eine eindeutig rechts­terroristische Ideologie hinweisen. Und wir beobachteten Richter, die den Rechts­extremisten aus sehr gutem und sehr bekanntem Zürcher Haus sehr zuvor­kommend behandelten.

Warum war die rechts­extreme Ideologie dieses Mannes öffentlich bisher nur eine Nebensache? Wie kann es sein, dass die Zürcher Stadt­polizei ein rechts­terroristisches Attentat befürchtete, der Mann sogar öffentlich Andeutungen auf ein solches Attentat machte, aber die Bundes­anwaltschaft, die für Terrorismus zuständig wäre, sich nie für den Fall interessierte?

Das ist die Geschichte eines Mannes mit rechts­terroristischer Ideologie. Es ist aber auch die Geschichte eines jungen Mannes mit sehr prominenten Eltern und einer Justiz, die mit diesem Mann trotz oder gerade wegen seiner Herkunft ausser­gewöhnlich behutsam umging.

Im Geist des Attentäters von Christchurch

Simon Bucher, so nennen wir den Mann, wuchs behütet in einem wohlhabenden Quartier in der Stadt Zürich auf. Er studierte an der Universität Zürich und wollte offenbar Autor werden. Seine prominenten Eltern gehören zum links­bürgerlichen Establishment der Stadt.

Für Simon Bucher standen alle Türen weit offen.

Wann er diese Türen zuschlug und sich einer rechts­terroristischen Ideologie zuwandte, ist aus den Untersuchungs­akten nicht ersichtlich. Klar ist, dass er sich im März 2019 bereits vollkommen radikalisiert hatte. So weit lassen sich seine öffentlichen Tweets zurück­verfolgen, die er von verschiedenen Accounts unter Pseudonym abschickte.

Die Tweets offenbaren, dass Simon Bucher tief in einem rechts­extremen Weltbild verankert ist. Demnach glaubt er etwa, dass weisse, heterosexuelle Männer die Vorherrschaft über die Welt haben sollen, dass Nicht-Weisse genetisch und kulturell minderwertig seien und Frauen nicht wählen, sondern die Bedürfnisse der Männer befriedigen sowie schön und fürsorglich sein sollen. Bucher will, dass alle Antifaschisten hingerichtet werden, und hält rechts­extreme Massen­mörder wie Anders Breivik oder Brenton Tarrant für Helden.

Bucher hofft auf einen Rassenkrieg, ganz im Sinne des rechtsextremen Akzelerationismus, der den Niedergang des aktuellen Systems vorantreiben will. Auf Twitter schrieb Bucher etwa: «Der Kulturkampf ist drauf und dran, zum Rassenkampf auszuarten, grossartig. Es geht nicht um Klasse oder den Klassen­kampf, werte Marxisten, sondern Rasse und den Rassenkampf.»

Bucher offenbarte auf Twitter eine extreme Frauen­verachtung, wie sie etwa in der Subkultur der Incels verbreitet ist, unter «unfreiwillig Zölibatären»: «Wir müssen beginnen, Vergewaltiger als Unter­ernährte anzusehen», twitterte Bucher am 27. September 2019. «Bei Unter­ernährten kümmern wir uns darum, dass sie zu Essen bekommen. Essen ist wie Sex, wir müssen die Unter­versorgten mit Sex versorgen, damit sie nicht vergewaltigen müssen.»

In seinen Tweets übernahm Bucher auch die Inhalte mehrerer rechts­terroristischer Manifeste. Am zentralsten für seine Welt­anschauung war das Manifest von Brenton Tarrant, der 2019 im neuseeländischen Christchurch einen Anschlag auf zwei Moscheen verübte, dabei 51 Menschen ermordete und die Tat per Helm­kamera auf Facebook live streamte. Die zentrale Botschaft von Tarrants 87-seitigem Manifest mit dem Titel «Der grosse Austausch»: Das «europäische Volk» werde von nicht weissen «Invasoren» ersetzt und sterbe wegen der sinkenden Geburtenrate aus.

Bucher brauchte nach dem Terror­anschlag nur wenige Stunden, um das Manifest des Täters im Netz aufzuspüren und herunterzuladen. Er las das Manifest vollständig und fotografierte mehrere Passagen daraus – das geht aus Chat­nachrichten und Handy­bildern hervor, die die Polizei sicherstellte.

Später twitterte er ganz im Geiste Tarrants: «Aufklärung, Bildung, Menschen­rechte, Ästhetik, Kunst, die schönste Literatur, die schönste Musik, die schönste Bildhauer­kunst, die grössten Gemälde und Artefakte, das alles ist bedeutungslos gegen Geburten­raten.»

Simon Bucher beliess es nicht bei Online­tiraden. Er trug seinen Hass in die echte Welt. Ein erstes Mal im Sommer 2019.

«Werde ich den Highscore knacken können?»

Am 14. Juni 2019 zog sich Simon Bucher gemäss Untersuchungs­akten eine rote Mütze an mit dem Trump-Slogan «Make America Great Again» und ein T-Shirt, auf dem gross das Gesicht von Donald Trump zu sehen war mit dem Schriftzug «The Great White Hope» – die grosse, weisse Hoffnung. Ausgerüstet mit zwei Plakaten, «welche gegen den Feminismus propagierten», machte er sich in Zürich auf, um die grösste politische Kundgebung der letzten dreissig Jahre zu stören: den Frauenstreik, an dem in der ganzen Schweiz über eine halbe Million Menschen für Gleich­stellung auf die Strasse gingen.

Ein paar Tage zuvor hatte Bucher getwittert: «Ich freue mich schon auf den #FrauenStreik, ich werde einer der wenigen Gegen­demonstranten sein, einer der wenigen, die nicht mit dem Strom mitfliessen.»

Bucher wurde an der Kundgebung prompt von einer Gruppe Frauen angegangen. Sie beschimpften ihn zuerst und schubsten ihn danach. Unbekannte entrissen ihm seine rote MAGA-Mütze. So steht es in den Akten.

Bucher schäumte vor Wut: «Ich habe heute den Faschismus wieder gesehen, er trug ein Frauen­gesicht und sprach von Rechten und hat mir ins Gesicht geschlagen», schrieb er auf Twitter unter dem Hashtag #Frauenstreik. Und weiter: «So eine beschissene flachbrüstige weisse Lesbe hat mich gestern angegriffen wegen eines Huts, gegen die 30, etwa 1,65 m gross, schlank, braune Haare. Ich finde dich. #Frauenstreik2019»

Die radikale Wortwahl liess schon damals erahnen, dass Bucher wohl nicht nur online provozieren und wüten wollte, sondern auch bereit war, seine Drohungen in die Tat umzusetzen. Klar ist: Bucher war damals schon polizei­bekannt. Im Herbst 2018 war eine sogenannte Gewaltschutz­verfügung gegen ihn verhängt worden. Warum, das geht nicht aus den Akten hervor. In der Regel werden solche Verfügungen aber erlassen, um Personen vor häuslicher Gewalt oder Stalking zu schützen.

«Ich komme nächstes Mal wieder zum Helvetiaplatz», twitterte er im Juni 2019, «und wenn ihr mich wieder verprügeln wollt und berauben wollt, dann denkt nicht, dass ich nicht vorbereitet wäre, denkt nicht, dass ich mich nicht wehren würde. #Frauenstreik».

Einen Monat später schrieb er: «Die Ehemänner, die ihre Frauen erschiessen, oder meinetwillen fremde Frauen vor den Zug werfen sind ein schwacher Trost, eine kleine Rache an dem Feminismus, doch immer trifft es die Falschen.»

Am 26. September 2019 deutete Bucher schliesslich auf Twitter einen eigenen Anschlag an: «Werde ich den Highscore knacken können? Ich glaube an mich.» «Highscore» meint unter Befürwortern rechts­terroristischer Anschläge die grösstmögliche Anzahl Todesopfer.

«Möge der Rassen­kampf beginnen»

Während Simon Bucher auf Social Media wütende Botschaften ins Netz feuerte, arbeitete er im echten Leben an einem kulturellen Projekt mit seiner angesehenen Familie. Zum Projekt darf wegen der erwähnten gerichtlichen Anordnung nicht mehr geschrieben werden, aber es ist von öffentlichem Interesse, festzuhalten, dass Simon Bucher von sich aus den Gang an die Öffentlichkeit suchte und dabei zum medialen Aushänge­schild dieses Projekts wurde, das von Stadt und Kanton Zürich wie auch dem Bund gefördert worden war.

Der Tamedia-Verlag veröffentlichte ein Porträt von Bucher, die Ringier-Presse eine Homestory. Er trat in einer Fernseh-Talkshow auf und erzählte dort einer breiten Öffentlichkeit freimütig von seinem Privat­leben. Gegen aussen hin war Simon Bucher ein freundlich lächelnder Mann, auf Twitter ein Anhänger des Rechts­terrorismus.

Dann wurde Ende Mai 2020 der Afroamerikaner George Floyd von einem weissen Polizisten getötet, und die darauffolgende Protest­welle triggerte Bucher maximal. Mit Blick auf die Black-Lives-Matter-Proteste in den USA twitterte Bucher: «Wir weissen Supremacisten sind es nicht, die diese Plünderungen und diesen inländischen Terrorismus begehen, wir könnten ihn aber beenden.» Und: «Nie hasste ich People of Color und Linke mehr als jetzt.»

Am 31. Mai 2020, dem Tag, an dem sein letzter Account von Twitter gesperrt wurde, setzte der junge Mann schliesslich eine ganze Reihe von Tweets ab voller rassistischer Hetze und Gewalt­fantasien. Einer davon, ebenfalls mit Blick auf die Black-Lives-Matter-Proteste in den USA, lautete: «Das einzig Gute an diesen terroristischen Aktivitäten, die von Schwarzen und weissen Antifa verübt werden, ist, das sie Hass säen. Wir brauchen den Hass, die Division, um uns voneinander abzuspalten. Möge der Rassen­kampf beginnen.»

Dann sehnte sich Simon Bucher nach einem rechts­terroristischen Massenmord: «Ich bin an dem Punkt angelangt, wo ich mir Männer wie Breivik, Tarrant, Roof oder Cruz herbeiwünsche», schrieb er. «Ach was wäre es befriedigend, einen Amokläufer all diese Menschen erschiessen zu sehen, es wäre eine Wohltat, ein Held wäre er.»

Zwei Wochen später besuchte er mit seinem Bruder die grosse Black-Lives-Matter-Demonstration in Zürich, wie Fotos zeigen, die der Republik von jenem Tag vorliegen. Simon Bucher trug an diesem Tag, wie fast alle Demonstrantinnen, ein schwarzes T-Shirt. Mit einem feinen Unterschied – zu fein, vermutlich. Denn die Provokation, die Bucher mit dem Shirt wohl beabsichtigte, blieb ohne Folgen.

Auf dem Shirt prangte ein roter «Wrath»-Schriftzug, was auf Deutsch so viel wie Zorn bedeutet. Vor allem aber war es das T-Shirt, das der Massen­mörder Dylan Klebold getragen hatte, als er am 20. April 1999 gemeinsam mit einem Mitschüler an der Columbine-Highschool in Littleton, Colorado, zwölf Mitschüler und einen Lehrer erschoss.

In den Untersuchungs­akten gibt es ein weiteres Foto, auf dem Buchers Vorliebe für rechts­extreme Ikonografie sichtbar wird. Darauf posiert er mit Hitler­schnauz und trägt ein weisses T-Shirt mit dem schwarzen Aufdruck «Natural Selection». Es ist das Shirt, das der zweite Columbine-Attentäter am Tag des Massen­mords trug.

Mit der Machete gegen eine alte Linde

Als Simon Bucher und sein Bruder am 13. Juni 2020 die Black-Lives-Matter-Demonstration in Zürich besuchten, erschien in «20 Minuten» ein Bericht über eine «unbekannte Täterschaft», die in einem Zürcher Park mit einer Machete auf einen alten Baum eingehackt hatte: «150-jährige Linde angesägt: ‹Wie zerstört muss das Innere eines solchen Täters sein?›», lautete der Titel des Artikels.

Was zu diesem Zeitpunkt niemand wusste: Bei der «unbekannten Täterschaft» handelte es sich um Simon Bucher und seinen Bruder.

Die beiden Männer aber hatten die Hülle der Machete am Tatort vergessen, und schon bald tauchte die Stadt­polizei an Simon Buchers Haustür auf und durchsuchte seine Wohnung. Dort fand sie die Machete und zwei Smartphones.

Am 27. Juni 2020, zehn Tage nach der Haus­durchsuchung, zog sich Simon Bucher wieder ein T-Shirt über, um damit zu provozieren. Auf dem Shirt stand «White Lives Matter», eine Antwort US-amerikanischer Rechts­extremisten auf die Black-Lives-Matter-Bewegung. Mit diesem Shirt machte er sich von der Wohnung seiner Eltern auf den Weg ins Einkaufs­zentrum Sihlcity im Süden der Stadt Zürich.

Der Staatsanwalt sagte später vor Gericht, Simon Bucher habe an jenem Tag darauf gehofft, beim Einkaufs­zentrum auf antirassistisch eingestellte Fussball­fans des FC Zürich zu treffen. Und das geschah dann tatsächlich.

Bucher sah eine Gruppe junger Männer, ging in einen Laden, wo er sich ein Rüstmesser mit einer acht Zentimeter langen Klinge kaufte, und ging wieder raus. Einer der Männer sprach ihn an: Er solle das Shirt ausziehen oder verschwinden.

Es kam zu einer Rangelei zwischen den zwei Männern, die in einer Art Patt endete. Dann, so steht es in der Anklage­schrift, ging Bucher mit erhobenen Fäusten auf sein Gegenüber zu. Dieses packte ihn und schubste ihn gegen einen Gartenzaun. Das T-Shirt von Bucher zerriss.

Der andere Mann drehte sich um und ging mit zwei Kollegen weg. Jetzt zog Bucher das Rüstmesser, rannte von hinten auf den Mann zu und stach ihm zweimal in den Rücken und dreimal in den zur Abwehr erhobenen linken Unter- und Oberarm. Die Stiche in den Rücken reichten bis in die Lungen, jene in den Arm durchtrennten lebenswichtige Blut­gefässe, Nerven­bahnen, Muskeln und Sehnen. Das Opfer wäre fast gestorben, musste notoperiert werden, verbrachte acht Tage im Spital und erlitt eine posttraumatische Belastungs­störung sowie bleibende Kraft­einbussen und Bewegungs­einschränkungen am betroffenen Arm.

Simon Bucher wurde noch am selben Tag verhaftet.

Ein Anwalt übt Zensur

Ausgerechnet in den Tagen, als Simon Bucher zustach, erschien das kulturelle Projekt der Familie Bucher auch auf dem deutschen Markt. In dem Projekt heisst es vom Rechts­extremisten an einer Stelle: «Die Muslime werden uns sowieso noch früh genug überrennen.» Ein Satz, der direkt der Verschwörungs­erzählung vom «Grossen Austausch» entspringt, auf die sich auch der Rechts­terrorist Tarrant in seinem Manifest bezog.

Während der Promotions­phase des kulturellen Projekts hatte ein Journalist von Bucher und seinem Vater wissen wollen, ob diese dargestellte Fremden­feindlichkeit autobiografisch sei.

«Nein», sagte der Vater. Niemand in der Familie sei rassistisch oder frauen­verachtend. Man habe einfach kein «politisch korrektes» Projekt machen wollen. Simon Bucher sass daneben und lächelte.

Machte der Vater damals gute Miene zum bösen Spiel?

In der Familie Bucher war es damals nämlich bereits zum Bruch gekommen, wie eine E-Mail aus den Akten belegt. «Stört es dich, dass Frauen gleichen Lohn fordern? Wenn dich das dermassen emotionalisiert, liegt die Antwort vielleicht eher bei dir selber als bei den Frauen und deren Anliegen, die ich vollumfänglich teile», schrieb der Vater nach Buchers Provokation am Frauenstreik im Juni 2019 seinem Sohn.

Er zog dabei die schriftliche Kommunikation der mündlichen vor, schrieb er, «unter anderem, weil ich nicht beschimpft werden möchte».

Als sich dann nach dem beinahe tödlichen Messer­angriff der Extremismus von Simon Bucher nicht mehr leugnen liess und auch der Ruf der prominenten Familie und des öffentlich subventionierten Projekts auf dem Spiel stand, holte der Rechts­extreme Bucher einen prominenten Anwalt zu Hilfe.

Der Anwalt heisst Duri Bonin, und dieser stellte vor Bezirks­gericht den Antrag, erstens die Öffentlichkeit ganz vom Prozess auszuschliessen und zweitens den akkreditierten Medien­schaffenden die Anklage­schrift nur anonymisiert auszuhändigen, sodass selbst regelmässige und langjährige Gerichts­reporterinnen gar nicht erfahren würden, wer denn da vor Gericht stand. Zudem sollte den Medien untersagt werden, identifizierend über den Rechts­extremen zu berichten und einen Bezug zum Familien­projekt herzustellen.

Ganz so weit ging das Bezirks­gericht zwar nicht: Die Öffentlichkeit wurde am Prozess zugelassen, und akkreditierte Journalistinnen erhielten eine unzensurierte Anklageschrift.

Aber es folgte Bonin in dem Punkt, dass die Anonymität des Beschuldigten und seiner Familie absolut gewahrt werden muss. Sollten die Medien in irgendeiner Form einen Bezug zu dem mit öffentlichen Geldern geförderten Projekt herstellen oder identifizierend über den Rechts­extremen berichten, drohe eine Busse oder gar der Entzug der für Gerichts­reporter essenziellen Akkreditierungen beim Gericht.

Für diesen Maulkorb für die Medien gibt es im Kanton Zürich mutmasslich keine rechtliche Grundlage. Im Gegenteil: Das Bundes­gericht entschied 2015 in einem ähnlichen Fall, dass derartige Auflagen einen schweren Eingriff in die Medien­freiheit bedeuteten und damit unzulässig seien.

Funfact: Während Duri Bonin im Namen des Rechts­extremisten Simon Bucher versuchte, die Justiz­öffentlichkeit und die Medien­freiheit einzuschränken, sagte er fast zur gleichen Zeit in einem Interview mit der Republik im Februar 2022, dass ebendiese Öffentlichkeit gestärkt werden müsse. Damals stand der gefallene Raiffeisen-Banker Pierin Vincenz vor Gericht, und Bonin forderte in der Republik nicht nur einfacheren Zugang für Medien­schaffende, er wollte auch Zugang zu den geheimen Untersuchungs­akten: «Ohne Akten­kenntnisse bleibt den Journalisten nichts anderes übrig, als nachzuerzählen, was der eine und was der andere sagt. Sie können die Arbeit des Gerichts nicht überprüfen, ihre Wächter­funktion nicht wahrnehmen. (...) Die eigentliche Aufgabe der Medien wird durch den begrenzten Zugang zu den Fakten verunmöglicht.»

Gnade vor Gericht

Simon Bucher behauptete nach seinem beinahe tödlichen Angriff, in Notwehr gehandelt zu haben. Er zeigte sich weder reuig noch einsichtig.

Das Bezirks­gericht verwarf die Notwehr-Argumentation. Ein Zeuge habe glaubhaft eine «Gefechts­pause» geltend gemacht. Das Gericht wertete die Messer­stiche deshalb als «Racheakt».

Und trotzdem, trotz fehlender Reue und zahlreicher Neben­delikte – mehrfache öffentliche Aufforderung zu Verbrechen oder zur Gewalt, mehrfache Diskriminierung und Aufruf zu Hass, mehrfache Sach­beschädigung, mehrfaches Vergehen gegen das Betäubungs­mittel­gesetz, mehrfaches Fahren ohne Berechtigung, mehrfache Entwendung eines Motor­fahrzeugs zum Gebrauch –, reduzierte das Zürcher Bezirks­gericht die vom Staats­anwalt geforderte Freiheits­strafe von achteinhalb Jahren auf fünfeinhalb Jahre.

Das objektive Verschulden sei zwar erheblich, sagte der vorsitzende Richter Sebastian Aeppli in der mündlichen Urteils­begründung im Juli 2022. Bucher habe aber aus einer «gewissen Angst heraus gehandelt», was sich strafmildernd auswirke. Der Richter sprach von einer «dynamischen Gesamt­situation». Den rechts­extremen Aufdruck auf dem T-Shirt und Buchers anhaltende Faszination für Massen­mörder und Rechts­terroristen erwähnte der grüne Richter nicht.

Das Strafmass sei einerseits angesichts des vom Gericht selber erkannten «Racheakts», aber auch im Vergleich mit anderen Urteilen «erheblich zu tief», sagte Staatsanwalt Adrian Kaegi, Ex-SVP-Mitglied, im Anschluss an die Urteils­verkündung zur Republik. Und dann führte Adrian Kaegi dafür Beispiele auf.

Der Iraker beispielsweise, den er 2018 angeklagt habe, der in einer S-Bahn nach einer tätlichen Auseinander­setzung auf seine zwei Kontrahenten eingestochen und einen davon lebens­gefährlich verletzt hatte, war vom Obergericht trotz Reue und Einsicht und ohne Vorstrafen zu zwölf Jahren Freiheits­strafe verurteilt worden.

Ein anderer junger Mann hatte die von Kaegi geforderten zehn Jahre Freiheits­strafe erhalten. Der Schweizer mit Migrations­hintergrund hatte an der Street Parade auf zwei Menschen eingestochen und eine Person lebens­gefährlich verletzt. Und das ebenfalls ohne Vorstrafen und mit Einsicht und Reue, sagte Kaegi, und das Letztere sei ja hier nicht der Fall. Kaegi meldete inzwischen vor dem Obergericht Berufung an, wo er dann, wie er sagte, unter anderem mehr auf den Aspekt der rechts­terroristischen Ideologie fokussieren werde. Auch Verteidiger Duri Bonin legte Berufung im Namen seines Mandanten ein. Das Urteil ist nicht rechtskräftig.

Wie ist es möglich, dass Simon Bucher so glimpflich davonkam? Vor Gericht, aber auch in den Medien? Und warum landen vergleichbare Fälle, wo Menschen, die sich auf ähnliche Art und Weise radikalisierten und zustachen, aber mit einer islamistischen Ideologie statt mit einer rechts­terroristischen, etwa bei den Messer­angriffen in Morges oder in Lugano, wegen Terrorismus vor dem Bundes­strafgericht in Bellinzona und Simon Bucher vor dem Zürcher Bezirks­gericht? Was bedeutet es, wenn islamistische Fälle medial national breit­getreten werden und andere Fälle lokal verschwinden?

«Eines ist mit Blick in das Schweizer Gesetz völlig klar», sagt der Lausanner Kriminologe Ahmed Ajil, ein Spezialist für Terrorismus und Terror­bekämpfung in der Schweiz. «Hätte Simon Bucher im Namen des IS, der al-Qaida oder einer ähnlichen Gruppierung und nicht im Namen des Rechts­terrorismus gehandelt, dann hätte er sich auf jeden Fall vor dem Bundes­strafgericht in Bellinzona wegen Terrorismus verantworten müssen.»

«Es gibt im Schweizer Strafrecht mehr Instrumente für die Verfolgung von islamistischem Terrorismus als von anderen terroristischen Phänomenen, die als organisierte Kriminalität abgehandelt werden», sagt Ajil. «Deshalb wurden seit dem 11. September 2001 ausschliesslich Gruppierungen im islamistischen Kontext wegen Terrorismus angeklagt und verurteilt.» Seit 2015 gebe es das Gesetz über das Verbot von al-Qaida, dem Islamischen Staat und verwandten Organisationen, das jede Form von Unterstützung dieser Organisationen als Terrorismus verbietet. «Dazu gehört bereits das Teilen von Facebook-Beiträgen oder das Versenden von Bildern an eine Person via Whatsapp.»

Wenn also jemand wie in Morges im September 2020 einen Mord begehe und gleichzeitig Sympathien für den Islamischen Staat habe, werde er durch die Bundes­anwaltschaft als Terrorist angeklagt. Und weil nun der Mord von Morges oder der Messer­angriff von Lugano vom November 2020 als Terrorismus gälten und die Messer­attacke vom Sihlcity nicht, weil sich im einen Fall Bundes­kriminalpolizei und Bundes­anwaltschaft einschalteten und im anderen nicht, wirke sich diese unterschiedliche Handhabung auch auf die Recht­sprechung, auf die Statistiken und schliesslich auf die Verteilung von Ressourcen aus.

«Wir befinden uns in einem Teufels­kreis. Beim Bund versteht man unter Terrorismus einzig Islamismus. Und weil die Straftat­bestände Terrorismus nur im Zusammenhang mit islamistischen Gruppen angewandt werden, konzentriert sich auch die Straf­verfolgung nur darauf und lässt Terror von rechts ausser Acht», sagt der Kriminologe.

«Im kollektiven Bewusstsein hat Rechts­terrorismus einen viel geringeren Stellen­wert als islamistischer Terror», sagt Kriminologe Ajil. «Dabei geht es letztlich auch um andere Fragen über das Strafrecht hinaus: Wer wird wie beurteilt? Welche Opfer sind mehr wert? Wer wird als wirklicher Täter angeschaut? Wer gehört hierher? Wer nicht?»

Seit der Gründung des Bundes­strafgerichts 2004 wurden – Stand Sommer 2021 – 29 Personen im Zusammenhang mit jihadistischem Terrorismus angeklagt. Da seien Leute teilweise jahrelang weggesperrt worden für eindeutig weniger explizites Netz­verhalten als jenes von Simon Bucher, sagt der Lausanner Terrorismus­experte.

So wurde eine Person etwa wegen Unter­stützung einer terroristischen Organisation zu dreieinhalb Jahren unbedingter Freiheits­strafe verurteilt, weil sie ein Facebook-Konto eröffnet und von diesem islamistischen Sympathisanten Freundschafts­anfragen verschickt hatte. Ein anderer Angeklagter wurde zu fünfzig Monaten unbedingter Freiheits­strafe verurteilt wegen der Mitgliedschaft bei einer Gruppierung, die mit dem IS verbunden war. Zudem hatte er sieben Videos, Bilder und Kommentare auf Social Media gespeichert, fünf Bilder auf seinem Smartphone.

«Ob es richtig ist, Leute für ihr Verhalten in den sozialen Medien wegen Terrorismus einzusperren – egal, ob wegen einer rechts­terroristischen oder islamistischen Ideologie –, das ist Teil einer grösseren Diskussion. Störend ist aber die Ungleich­behandlung», sagt Ajil. «Was Simon Bucher twitterte, diese konkreten Verweise auf Anders Breivik oder Brenton Tarrant, diese Anspielung auf ein Attentat, das alles hätte im islamistischen Kontext für eine Verhaftung und eine lange Freiheits­strafe gereicht, im Zusammenhang mit einer Gewalttat, wie Bucher sie begangen hat, sowieso.»

«Leute wie Sie»

Der Grüne Christoph Lehner, der als Einzel­richter für die Neben­delikte der anderen Beschuldigten zuständig war (darunter auch der beste Freund des Rechts­extremisten, der ebenfalls aus sehr gutem und sehr bekanntem linkem Haus stammt), interessierte sich ganz offensichtlich nicht für die rechts­terroristische Ideologie des Mannes, der Mitte Juli 2022 vor Gericht stand. Stattdessen sagte er, nachdem Richter Sebastian Aeppli das Urteil verkündet und den Raum verlassen hatte, als Einzel­richter dürfe er zwar zum Angeklagten eigentlich gar nichts sagen, aber er sage nun doch etwas.

Und dann sagte er, und Zürich wirkte während dieser Rede plötzlich unfassbar klein an diesem heissen Sommertag: «Ich wünsche Ihnen alles Gute und dass es in Zukunft besser klappt.»

Und dann sagte er, weil der beschuldigte Rechts­extremist Bucher ja Autor werden wollte: «Ich habe Ihre Aufsätze gelesen. Sie sind ja durchaus begabt. Überlegen Sie sich doch ein Fern­studium in dieser verzwickten Situation. Damit Sie etwas in der Hand haben, wenn Sie in eineinhalb Jahren wieder draussen sind. Da müssen Sie aber auf die Gefängnis­leitung zugehen, die sind sich nicht gewohnt an Leute wie Sie.»

Dann war der Prozess zu Ende, und während alle den grossen Saal des Bezirks­gerichts Zürich verliessen, sahen wir zu Simon Bucher, und der rechts­extreme Messer­stecher in Hand­schellen zwinkerte uns zu und lächelte.