Ist unser Rechtsstaat wehrlos gegen Terrorismus? Ein Blick auf die Urteile
Die Analyse aller bundesstrafgerichtlichen Urteile zeigt: Schon jetzt kann das blosse Versenden von Whatsapp-Nachrichten als Unterstützung von Terrorismus gewertet werden.
Von Daniel Ryser, 17.05.2021
Es ist ein Hauptargument der Befürworter der neuen Anti-Terror-Gesetze, über die wir am 13. Juni abstimmen: Das Strafrecht sei der Herausforderung des modernen Terrorismus nicht gewachsen. Man könne erst reagieren, wenn etwas passiert sei, wenn es zu spät sei. Deshalb müsse es der Polizei möglich sein, Zwangsmassnahmen gegen Personen anzuwenden, die noch gar nichts verbrochen haben, bei denen man aber davon ausgehe, sie könnten irgendwann eine Straftat begehen.
Kritikerinnen wiederum argumentieren, die Schweiz habe ihre Anti-Terror-Massnahmen in den letzten Jahren massiv ausgebaut. Das Strafrecht decke den präventiven Bereich bereits ab. Sie sehen in den Plänen des Bundesrats eine Verlagerung hin zu pre-crime, wo im Namen der Freiheitsrechte der Rechtsstaat ausgehöhlt werde. «Wer Mitglied einer Terrorgruppe ist oder diese unterstützt, wer einen Anschlag vorbereitet, wer mit Gewalt droht oder Videos von Terrorgruppen postet, kann heute schon verhaftet und verurteilt werden», sagt etwa Patrick Walder. «Mehrere Personen sitzen wegen solcher Straftaten heute in der Schweiz im Gefängnis.» Walder ist Kampagnenleiter von Amnesty International und engagiert sich gegen das von Bundesrätin Karin Keller-Sutter lancierte neue Gesetz.
Der Bundesrat argumentiert wiederum: Dem sei nicht so. Heute könne der Staat im Umgang mit islamistischem Terrorismus erst agieren, wenn jemand zu Schaden gekommen sei.
Wer hat recht?
Zwei Forscher der Universität Lausanne, der Kriminologe Ahmed Ajil sowie der Jurist Kastriot Lubishtani, haben alle Verurteilungen untersucht, die das Bundesstrafgericht im Zusammenhang mit islamistischem Terrorismus, dessen Unterstützung oder Verherrlichung ausgesprochen hat.
Seit 2004 führten 29 Anklagen zu 21 Verurteilungen
«Ich habe in den vergangenen Jahren mehrere Prozesse gegen mutmassliche Terroristinnen oder Unterstützer besucht», sagt Kriminologe Ajil. «Dabei fiel mir auf: Dafür, in der Schweiz im Zusammenhang mit islamistischem Terrorismus verurteilt zu werden, sind die Hürden tief.»
Also haben Ajil und sein Kollege Lubishtani detailliert untersucht, wer vom Bundesstrafgericht wofür verurteilt wurde – seit dem Jahr 2004, also seit das Gericht in Bellinzona existiert. Grundsätzlich gelangen alle schweren Fälle von Terrorismus vor das Bundesstrafgericht:
jene, die auf eine Anklage der Bundesanwaltschaft zurückgehen;
und jene, bei welchen ein Strafbefehl der Bundesanwaltschaft angefochten wird und die deshalb das Bundesstrafgericht zu lösen hat.
Die Fälle gehen teilweise auf unterschiedliche Rechtsprechungen zurück: Bereits vor dem 11. September 2001 war jegliche Beteiligung an einer kriminellen Organisation oder deren Unterstützung verboten – dies schliesst Terrororganisationen wie al-Qaida oder den Islamischen Staat mit ein. Bereits seit November 2001 war al-Qaida in der Schweiz verboten – und somit auch jegliche Unterstützung dieser Gruppe. Am 1. Januar 2015 trat zudem das «Bundesgesetz über das Verbot der Gruppierungen ‹Al-Qaïda› und ‹Islamischer Staat› sowie verwandter Organisationen» in Kraft.
Die beiden Forscher haben nachgezählt: Wie viele Leute wurden in der Schweiz im Zusammenhang mit islamistischem Terrorismus insgesamt verurteilt? Und wofür?
Aus ihren Daten geht hervor: Seit der Gründung des Bundesstrafgerichts 2004 wurden 29 Personen im Zusammenhang mit jihadistischem Terrorismus angeklagt. «Von den 29 Fällen wurden 8 Personen in allen Anklagepunkten, die in Verbindung mit Terrorismus stehen, freigesprochen. 21 Personen wurden verurteilt», schreiben sie in ihrer Dokumentation, die noch nicht publiziert ist, aber der Republik vorliegt. 15 Verurteilungen für Terrorismusstraftatbestände sind rechtskräftig.
Die Strafen reichen von bedingten Geldstrafen bis zu mehrjährigen unbedingten Freiheitsstrafen von bis zu 6 Jahren plus Landesverweis.
Der Grossteil der Straftaten, so zeigt sich, beschränkte sich auf den elektronischen Bereich. In 9 Prozessen ging es ausschliesslich um Aktivitäten in sozialen Netzwerken: gepostete Fotos, Videos oder Kommentare, die als Propaganda oder Unterstützung für den IS gewertet wurden.
Eine Person zum Beispiel wurde wegen Unterstützung einer terroristischen Organisation zu 3½ Jahren unbedingter Freiheitsstrafe verurteilt, weil sie ein Facebook-Konto eröffnet und von diesem islamistischen Sympathisanten Freundschaftsanfragen verschickt hatte.
Um konkretere Handlungen ging es in wenigen Fällen:
Eine Person reiste nach Syrien.
2 Personen versuchten nach Syrien zu reisen und wurden davon abgehalten.
Eine Person beherbergte 2 Personen, die dann zum IS reisten.
Diese Personen sassen oder sitzen zum Teil mehrere Jahre im Gefängnis, oder es drohen ihnen zurzeit hohe Haftstrafen.
Die Untersuchung habe zwei Dinge gezeigt, sagt Ajil: Erstens müssten Straftaten im terroristischen Bereich noch lange keine Gewalttaten sein. Tatsächlich seien die meisten Verurteilungen wegen Aktivitäten auf Social Media erfolgt. «Da wurde vor dem Bundesstrafgericht zum Teil diskutiert, was sich eine Person gedacht hat, als sie bei einem Facebook-Eintrag auf ‹Teilen› drückte – und davon hing dann die Verurteilung wegen Terrorismusunterstützung ab. Das kontrastiert stark mit der Behauptung des Bundesrats, dem Staat seien heute im Umgang mit jihadistischem Terror die Hände gebunden. Im Gegenteil: Die Gesetzgebung erlaubt es, Leute wegen Facebook-Aktivitäten jahrelang wegzusperren. Wenn die Strafe bedingt ausgesprochen wird, gilt die Person trotzdem als verurteilter Terrorist, was schwerwiegende Konsequenzen nach sich zieht, zum Beispiel Ausschaffungen.»
Und zweitens sei das Argument, diese Leute seien unter uns und man könne nichts gegen sie unternehmen, offensichtlich falsch. Das Schweizer Strafrecht erlaube es, genau das zu tun: einzugreifen, bevor etwas Schlimmes passiert. «Es genügt schon, wenn man Whatsapp-Nachrichten verschickt, um in Bellinzona verurteilt zu werden», so Ajil.
Hinzu kommen Fälle der Bundesanwaltschaft
Zudem könne die Bundesanwaltschaft selbst Straffälle führen, die nicht beim Bundesstrafgericht in Bellinzona landen würden. Die Möglichkeit für die Behörden, einzugreifen, ist hier noch einfacher, wenn die Strafen eher klein sind – bis zu 180 Tage Geld- oder Freiheitsstrafe.
«Diese Fälle sind nicht publik», sagt Ajil. «Aber wir haben rund 20 zusammengetragen. Die Einstellungsverfügungen zeigen: Der Staat kann durchaus strafrechtlich aktiv werden, auch wenn noch nichts passiert ist. Die Bundesanwaltschaft hat wiederholt aufgrund weniger Indizien, zum Beispiel eines Facebook-Posts, Strafverfahren eröffnet. In einem Fall zum Beispiel hat eine Person von einer anderen Person eine SMS erhalten. Letztere wurde mit dem IS in Zusammenhang gebracht. Freigesprochen wurden schliesslich beide. Aber allein der Umstand bei der ersten Person, dass sie eine SMS erhalten hatte, reichte für Untersuchungshaft. In einer anderen Einstellungsverfügung kann man nachlesen, dass die Bundesanwaltschaft ein Verfahren eröffnet habe, weil eine Person angeblich verdächtige Transaktionen in bestimmte Länder getätigt und in drohendem Ton am Telefon gesprochen habe.»
Dass das Strafrecht den Herausforderungen des modernen Terrorismus nicht gewachsen sei, man erst handlungsfähig sei, wenn etwas Schlimmes passiert sei, wie Befürworter des Anti-Terror-Gesetzes behaupten, lasse sich mit Blick auf die geführten Fälle und eröffneten Strafverfahren also eindeutig widerlegen, sagt der Kriminologe.
Zum Schluss ein Blick auf die 15 Fälle, bei denen jemand seit 2004 rechtskräftig für einen Terrorismusstraftatbestand verurteilt wurde.
Die 15 rechtskräftigen Urteile des Bundesstrafgerichts
1. Fall. Urteil vom Januar 2007 gegen 7 Angeklagte wegen der Beteiligung an einem Netzwerk, das illegale Visa für jemenitische Staatsbürger organisiert hatte, damit diese unter falschen Identitäten in der Schweiz Asylanträge stellen konnten. Der vorgeworfene Bezug zu al-Qaida konnte schliesslich nicht nachgewiesen und das Netzwerk auch nicht als kriminelle Organisation eingestuft werden. Eine angeklagte Person wurde freigesprochen. Die 6 weiteren wurden zu Freiheitsstrafen zwischen 30 Tagen und 11 Monaten verurteilt.
2. Fall. Urteil vom Juni 2007 gegen einen Mann und eine Frau wegen Unterstützung von al-Qaida: Der Mann fungierte als «Content-Provider» und hatte 6 Internetseiten betrieben, auf denen Bekennervideos der Terrororganisation oder Anleitungen zum Bombenbau verbreitet wurden. Zudem legitimierte er im Netz die Tötung entführter französischer Journalisten. Er wurde zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Die Frau wurde zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt, weil sie Moderatorin von zwei Foren auf Websites des Hauptangeklagten war, wo unter anderem ein Video des Al-Qaida-Vize Ayman Al-Zawahri verbreitet wurde.
3. Fall. Urteil vom Mai 2014: unbedingte Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten gegen einen Mann wegen Mitgliedschaft in einer Gruppe namens «ZDNAA», die Verbindungen zu al-Qaida hatte. Er stellte zudem Propagandamaterial auf seiner Website bereit. Der zweite Angeklagte erhielt eine bedingte Freiheitsstrafe von 2 Jahren wegen der Unterstützung von al-Qaida, weil er das Forum der betreffenden Website moderiert hatte.
4. Fall. Urteil vom Juli 2016 gegen einen Mann, der am Flughafen Zürich kurz vor dem Boarding eines Flugs nach Istanbul verhaftet wurde, weil er von dort nach Syrien oder in den Irak reisen wollte, um dort unter der Herrschaft des Islamischen Staats zu leben. Der Mann hatte zudem auf Whatsapp Attentate verherrlicht und hatte Kontakt mit anderen Personen in der Schweiz, die ins Kriegsgebiet reisten. Er wurde zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilt wegen «Fördern des IS auf andere Weise».
5. Fall. Urteil vom August 2017: Ein Mann muss 6 Monate unbedingt ins Gefängnis, weil er Personen für den Islamischen Staat angeworben hat und 2 Personen logistisch unterstützte, die ins syrisch-irakische Kriegsgebiet reisten. Ihm wurde auch die Staatsbürgerschaft entzogen.
6. Fall. Urteil vom Oktober 2017: 2 Männer werden zu unbedingten Freiheitsstrafen von 3 Jahren und 8 Monaten beziehungsweise 3 Jahren und 6 Monaten verurteilt wegen Beteiligung an einer terroristischen Organisation: Der eine Mann hatte in Syrien direkten Kontakt mit Mitgliedern einer Gruppe, die mit dem Islamischen Staat in Verbindung gebracht wurde, und beherbergte in der Schweiz einen weiteren Beschuldigten. Der zweite Mann hatte in Syrien ebensolche Kontakte und habe geplant, die Aktivitäten des IS auch in der Schweiz zu unterstützen. Der dritte Angeklagte musste 3½ Jahre ins Gefängnis, weil er ein Facebook-Konto erstellt und von dort Freundschaftsanfragen an islamistische Sympathisanten verschickt hatte.
7. Fall. Urteil vom Dezember 2017: Freiheitsstrafe von 18 Monaten, davon 6 unbedingt – zudem die Verpflichtung zu Bewährungshilfe und psychologischer Behandlung. Die Absicht einer Frau, ins Gebiet des Islamischen Staats zu reisen und dort zu leben, wurde vom Bundesstrafgericht als «Versuch der personellen Unterstützung des IS» gewertet.
8. Fall. Urteil vom Juli 2019: Eine Person wird zu 7 Monaten Freiheitsstrafe und einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen verurteilt, weil sie Propaganda für den IS betrieben hatte sowie «Gewaltdarstellungen» auf ihren Geräten hatte. Es ging um 8 Facebook-Posts sowie den Besitz von 11 Fotos, die den bewaffneten Kampf verherrlichten.
9. Fall. Urteil vom Dezember 2019: bedingte Freiheitsstrafe von 5 Monaten ebenfalls wegen Unterstützung des IS in Form von insgesamt 8 geposteten Bildern, Videos und Kommentaren auf Facebook sowie wegen des Besitzes von 13 Bildern, die als Gewaltdarstellungen bewertet wurden.
10. Fall. Urteil vom Juni 2020: bedingte Geldstrafe, weil der Angeklagte ein Foto auf Facebook gepostet hatte, das ein Spital unter der Herrschaft des IS in Libyen zeigte. Somit habe er den IS beziehungsweise dessen Infrastruktur in einem positiven Licht dargestellt. Zudem hatte der Angeklagte einen Facebook-Post zur Hinrichtung eines Piloten unkritisch kommentiert und 2 Fotos mit Gewaltdarstellungen per Whatsapp erhalten und nicht aus seinem Verlauf gelöscht.
11. Fall. Urteil vom Februar 2020: 3 Angeklagte, alle Vorstandsmitglieder des Islamischen Zentralrats Schweiz, werden wegen der Produktion und der Verbreitung eines Videos – es handelt sich um ein Interview mit einem bekannten syrischen Jihadisten – zu bedingten Freiheitsstrafen verurteilt.
12. Fall. Urteil vom September 2020: 180 Tagessätze bedingte Geldstrafe wegen Terrorpropaganda und des Verbreitens von Gewaltdarstellungen. Der Angeklagte hatte auf Facebook ein Video gepostet, in dem das Logo des Islamischen Staats zu sehen war. Zudem hatte er 5 Videos auf Facebook geteilt, die Massaker an Zivilisten zeigten.
13. Fall. Urteil vom September 2020: Ein Angeklagter wird zu 50 Monaten unbedingter Freiheitsstrafe verurteilt wegen der Mitgliedschaft in einer Gruppierung, die mit dem IS verbunden war. Er teilte 7 Videos, Bilder und Kommentare auf Social Media und speicherte 5 Bilder auf seinem Smartphone. Der zweite Angeklagte wurde zu 100 Tagessätzen Geldstrafe verurteilt, weil er 3 Fotos mit IS-Propaganda an eine Drittperson via Whatsapp weitergeleitet hatte. Das Urteil des Bundesstrafgerichts zeigt, dass nach Schweizer Rechtsprechung bereits das Weiterleiten einer Nachricht an eine einzelne Person (nicht an einen Gruppenchat) als Terrorpropaganda gilt.
14. Fall. Urteil vom Oktober 2020 (und die bisher härteste Strafe in diesem Kontext): eine unbedingte Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 10 Monaten sowie anschliessend 15 Jahre Landesverweis wegen Beteiligung an einer terroristischen Organisation sowie des Besitzes von Gewaltdarstellungen. Der Verurteilte war Teil eines internationalen Netzwerks, das mit dem IS verbunden war, und pflegte auf Social Media Kontakte mit IS-Mitgliedern. Zudem verschickte er insgesamt 7500 US-Dollar an Personen, die Teil des IS gewesen sein sollen, und moderierte eine Telegram-Gruppe, in der IS-Propaganda zirkulierte.
15. Fall. Urteil vom Oktober 2020: bedingte Freiheitsstrafe von 5 Monaten wegen Unterstützung durch Propagandaaktionen sowie wegen des Besitzes von Gewaltdarstellungen. Der Verurteilte hatte eine Festplatte besessen, auf der 3 Predigten eines Führers der Terrororganisation al-Shabaab gespeichert waren, wo dieser zum bewaffneten Jihad aufruft. Zudem hatte der Mann die Festplatte an einen anderen Computer angeschlossen und die Predigten dorthin übertragen.
Die Daten für die Grafiken sowie für die Liste aller 15 Fälle stammen aus dem unpublizierten Manuskript der Forscher Ahmed Ajil und Kastriot Lubishtani: «Le terrorisme djihadiste devant le Tribunal pénal fédéral – analyse des procédures pénales de 2004 à 2020». Universität Lausanne. Das Manuskript erscheint am 31. Mai 2021 in der juristischen Zeitschrift «Jusletter».