«Wenn man von Gleichstellung spricht, muss man von gleichen Renten sprechen, nicht von gleich hohem Rentenalter»
Die AHV-Reform steht auf der Kippe. Streitpunkt: Frauen sollen länger arbeiten. Expertinnen sagen: Das bedeutet faktisch eine Kürzung der Rente.
Ein Interview von Daria Wild (Text) und Dan Cermak (Bilder), 08.09.2022
Der Streit um die AHV ist ein verlässlich wiederkehrendes Grossereignis. Seit ihrer Einführung hat die Stimmbevölkerung schon 23-mal indirekt oder direkt über die Versicherung abgestimmt. Gerade mal 5 Vorlagen wurden angenommen.
Revisionen haben es besonders schwer an der Urne. Die letzte kam 1995 durch, sie hob das Frauenrentenalter auf 64 Jahre, führte Ehegattensplitting und Gutschriften für Erziehungspersonen ein und ermöglichte die Frühpensionierung. Für die Frauen war diese 10. AHV-Reform trotz Erhöhung des Rentenalters ein Meilenstein: Seit sie in Kraft ist, schafft die AHV nicht mehr nur gesamtgesellschaftlich einen Ausgleich zwischen Weniger- und Mehrverdienern, sondern auch innerhalb der Haushalte, also hauptsächlich: zwischen den Geschlechtern.
Nun will die aktuelle Reform, die am 25. September an die Urne kommt, Frauen zur Kasse bitten. Die Vorlage klingt simpel: Die AHV braucht mehr Geld, um die Finanzierung der nächsten zehn Jahre zu sichern. Ein Hebel ist die Erhöhung des Frauenrentenalters.
Doch diese Massnahme ist auch die umstrittenste: Die Gegnerinnen bezeichnen die Reform als Abbauvorlage, die auf dem Rücken der Frauen ausgetragen wird, obwohl diese – über alle drei Säulen – bereits eine viel tiefere Altersrente beziehen. Die Befürworter behaupten, mit der Reform würde niemandem etwas weggenommen, im Gegenteil: Alle würden profitieren, weil die Finanzierung gesichert werde.
Zu den Kritikerinnen der Reform gehört Economiefeministe. Die Plattform für feministische Ökonomie hat sich vor zwei Jahren um die Wirtschaftswissenschaftlerin Mascha Madörin gebildet, die dafür bekannt geworden ist, die Kosten der unbezahlten Arbeit von Männern und – mehrheitlich – Frauen zu beziffern. Aus Sicht von Economiefeministe muss diese unbezahlte Arbeit in jeder sozial- und wirtschaftspolitischen Diskussion eine Rolle spielen. Doch davon seien wir weit entfernt, sagen die Co-Geschäftsführerinnen Mirjam Aggeler und Anja Peter im Interview.
Ökonomisches Wissen aus feministischer Perspektive
Economiefeministe leistet Aufklärungs- und Vermittlungsarbeit zu ökonomischem Wissen aus feministischer Perspektive. Anja Peter und Mirjam Aggeler, zwei von drei Co-Geschäftsleiterinnen der Plattform, beschäftigen sich seit mehreren Jahren mit Care-Ökonomie. Mirjam Aggeler ist gelernte Bauspenglerin, leitete die Geschäftsstelle von Femwiss, einem Verein, der sich für Gleichstellungs- und Wissenschaftspolitik engagiert, und war Mitredaktorin des feministisch-wissenschaftlichen Magazins «Feminfo». Anja Peter ist Historikerin, hat die Geschichte der 10. AHV-Revision erforscht und war in der Gleichstellungsarbeit bei Gewerkschaften und in der Verwaltung tätig.
Der umstrittenste Punkt der Reform ist die Erhöhung des Frauenrentenalters von 64 auf 65. Was bedeutet diese konkret?
Anja Peter: Für fast alle Frauen bedeutet die Erhöhung eine Rentenkürzung, weil die Beträge erst ein Jahr später ausbezahlt werden oder gekürzt werden, wenn sich die Frauen weiterhin mit 64 pensionieren lassen. Auch die Kompensationsmassnahmen ändern daran nichts, sie sind im Vergleich zur Kürzung mickrig. Für rund ein Viertel der Rentnerinnen ist die AHV die Haupteinnahmequelle – für Frauen, die mit einer sehr kleinen Rente rechnen müssen, verschärft sich die Situation also deutlich. Das gilt auch für Frauen, die früher in Pension gehen oder ihre Pensen reduzieren, weil sie Enkel betreuen und Angehörige pflegen. Diese Realität wird sich nicht einfach verschieben.
Mirjam Aggeler: Dazu kommt: Die Leistungen, die Frauen im Verlauf ihres Lebens und besonders im Alter erbringen, werden mit einer Rentenaltererhöhung missachtet. Bereits während ihres Erwerbsarbeitslebens leisten Frauen mehr unbezahlte Arbeit. Deswegen sind sie auch schlechter gestellt in der Rente. Statt zu kürzen, sollten wir uns fragen, wie wir allen faire Renten ermöglichen.
Spielt ein Jahr mehr oder weniger Arbeit denn so eine grosse Rolle?
Aggeler: In keinem anderen europäischen Land ausser in Schweden wird so viel Erwerbsarbeit geleistet wie in der Schweiz. Frauen arbeiten mindestens gleich viel wie Männer, wenn man unbezahlte Arbeit und bezahlte Arbeit zusammenzählt. Trotzdem haben sie nach Berechnungen von Mascha Madörin 100 Milliarden Franken jährlich weniger Einkommen.
Peter: Mit dieser Frage nimmt man auch einfach die Situation derer nicht ernst, die das wirklich betrifft: Was bedeutet es, bis 65 in der Pflege zu arbeiten? In der Reinigung? Als Lehrerin? Das sind körperlich und emotional hoch anspruchsvolle Jobs. Ein Jahr mehr oder weniger ist nicht einfach nichts. Wenn schon, müssten wir darüber reden, dass Menschen, die diese Arbeit leisten, früher in Pension gehen können, ohne finanzielle Einbussen fürchten zu müssen. Für verschiedene Berufe auf dem Bau gibt es solche Lösungen. Stattdessen liegt im Bundeshaus bereits eine Erhöhung des Rentenalters bis 67 auf dem Tisch.
Ist die Erhöhung des Frauenrentenalters im Sinne der Gleichstellung nicht ein fairer Schritt?
Peter: Wenn man von Gleichstellung spricht, muss man von gleichen Renten sprechen, nicht von gleich hohem Rentenalter. Wenn man sich die AHV anschaut, ist es tatsächlich so, dass Frauen gleich viel beziehen wie Männer. Doch übers Ganze gesehen sind die Renten der Frauen um durchschnittlich 37 Prozent tiefer als die der Männer. Die Renten sind aber nicht tiefer, weil Frauen weniger arbeiten, sondern weil sie weniger verdienen. Und zwar wegen der Pensionskassenbeiträge, die abhängig davon sind, wie viel man verdient und in welchem Pensum man gearbeitet hat, ob man Unterbrüche im Lebenslauf hat, beispielsweise weil man unbezahlt Kinder betreut hat, und so weiter. Das betrifft mehrheitlich Frauen. Am Ende des Monats zählt, wie viel Geld auf dem Konto ist. Wir können die AHV deshalb nicht einfach isoliert betrachten.
Das sehen die Befürworter anders. Sie sagen: Es geht jetzt nun mal nur um die AHV.
Peter: Es soll auch unbedingt um die AHV gehen. Sie ist das einzig gerechte Vorsorgesystem. Dann müssen wir aber über ihren Ausbau reden, nicht über ihren Abbau. Ein Leistungsabbau schwächt die AHV. Es ist deshalb auch problematisch, zu sagen: Wir reden erst über die AHV und erst danach über die Rentensituation der Frauen.
Aggeler: Die AHV basiert auf dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit. Unbezahlte Arbeit wird mehrheitlich von Frauen geleistet, und nur die AHV versichert diese Arbeit. Das ist es, worüber wir eigentlich reden sollten. Das tiefere Frauenrentenalter ist kein Privileg, sondern ein minimales Zugeständnis, das sich die Frauen bis jetzt bewahren konnten. Die AHV isoliert zu betrachten, ist eine Scheindiskussion, die an der Lebensrealität der Rentnerinnen vorbeizielt.
Die Erhöhung des Frauenrentenalters würde 1,4 Milliarden Franken in die AHV-Kasse spülen. Woher soll dieses Geld stattdessen kommen?
Aggeler: Die AHV braucht keine dringende Sanierung. Trotzdem ist es eine wichtige Frage, wie wir die AHV sichern. Aber: Sparen ist die falsche Antwort.
Peter: Zurzeit fliessen durchschnittlich 14 Lohnprozente in die zweite Säule, diese könnte man zugunsten der ersten Säule umverteilen. Gerade bei Menschen mit tiefem Lohn ist das Verhältnis zwischen dem, was in die Pensionskasse einbezahlt wird, und wie viel daraus zurückkommt, völlig schief.
Aggeler: Bei den Pensionskassen ist gar nicht so entscheidend, wie viel, sondern was du gearbeitet hast, also: Wie hoch dein Lohn war. Aber es gibt auch andere Finanzierungsmöglichkeiten. Zum Beispiel über die Nationalbank.
Reformen haben es schwer, die letzten Vorlagen sind gescheitert. Die letzte, die gelang, war die 10. AHV-Revision. Warum eigentlich?
Peter: Die 10. Revision hat eine lange Geschichte, die in den 70er-Jahren beginnt und mit der Abstimmung 1995 endet. Das war die Zeit, in der Frauen ins Parlament eintraten und sich noch stark aufeinander bezogen, über die Parteigrenzen hinweg. Diesen ersten Parlamentarierinnen war völlig klar, dass sie sich der AHV annehmen mussten, die Ausgangslage für die Frauen war ja auch miserabel. Geschiedene Frauen hatten keinen eigenen Rentenanspruch, sie standen faktisch finanziell vor dem Aus. Hinter der Revision stand ein breites Frauenbündnis, auch für die Parlamentarierinnen aus FDP und CVP war klar, dass sie sich mit Händen und Füssen gegen die Männer ihrer Parteien stemmen würden. Der Preis, den einzelne Exponentinnen bezahlen mussten, war hoch. Aber das Ergebnis grossartig. Ehegattensplitting und Erziehungs- und Betreuungsgutschriften bedeuteten eine massive Verbesserung für die Frauen. Dafür nahmen die Frauen die Erhöhung des Rentenalters in Kauf – zähneknirschend.
Bei der Einführung galt Rentenalter 65 für alle, wenige Jahre später wurde das Rentenalter der Frauen auf 63 und dann auf 62 Jahre gesenkt und in der 10. Revision auf 64 Jahre angehoben. Warum hat das – damals noch rein männliche – Parlament die Rente gesenkt und dann wieder eine Erhöhung gefordert?
Peter: Das Rentenalter 65 galt nur für ledige Frauen, für verheiratete galt 60 – damit Ehepaare gleichzeitig in Rente gehen können. Nach ein paar Jahren wurde das Rentenalter alleinstehender Frauen auf 63 Jahre gesenkt – man war der Ansicht, Frauen seien körperlich nicht in der Lage, so lange zu arbeiten. Erst Ende der 70er-Jahre beseitigte das Parlament auf Druck der Frauenverbände diese Ungleichheit: Ab der 9. Revision galt 62 für alle Frauen. Als in den 80er- und 90er-Jahren die Parlamentarierinnen Ehegattensplitting und Erziehungsgutschriften forderten, hiess es: Diese Revision müsst ihr euch selbst finanzieren – mit einem späteren Rentenalter. Diese Frage hat das breite Frauenbündnis entzweit: Viele kritisierten, man könne nicht die Frauen dafür verantwortlich machen, dass sie ihre Situation in einem ungerechten System verbessern möchten. Andere fanden, das müsse man akzeptieren. Die Vorteile der Reform überwogen letztlich.
Heute sind gerade die Mitte-Frauen vehemente Befürworterinnen der Reform. Warum ist das Frauenbündnis in den letzten Jahren weiter erodiert?
Aggeler: Damals mussten die Frauen nicht nachrechnen, wie es um ihre Rente steht: Sie hatten keine eigene. Das verband. Die Idee, Frauen könnten ökonomische Unabhängigkeit über ihre eigene Erwerbsarbeit erreichen, vereinte zusätzlich. Heute liegt die Erwerbsquote der Frauen bei 78 Prozent. Viele haben das Gefühl, damit sei das Ziel erreicht und finanzielle Unabhängigkeit möglich, wenn man nur will. Aber so ist es nicht.
Warum nicht?
Aggeler: Das grösste Wachstum der Erwerbstätigkeit von Frauen ist im Gesundheits- und Sozialwesen zu verzeichnen, wo die Löhne für finanzielle Unabhängigkeit nicht reichen. Frauen leisten die Mehrheit der schlecht bezahlten Sorge-Arbeit, beispielsweise in Kinderbetreuung oder Pflege. Wir müssen nicht dafür sorgen, dass Frauen mehr oder länger arbeiten, sondern dass sie anständige Löhne bekommen. Das ist der Punkt.
Das kommt in der Diskussion um die AHV kaum vor.
Peter: Der Diskurs um die AHV hat sich in den letzten Jahrzehnten zugunsten der Pensionskassen verschoben. Die Forderung, die AHV müsse existenzsichernd sein, ist schwächer geworden, obwohl das in der Verfassung steht und nicht erfüllt wird. Stattdessen haben sich die Pensionskassen als Versicherungslösung durchgesetzt, weil die Renten ohne Beiträge aus der zweiten und dritten Säule nicht existenzsichernd sind. Das ist der eigentliche Skandal. Deshalb nochmals: Wer über die AHV spricht, muss auch über die Pensionskassen sprechen, wer über Pensionskassen spricht, muss über die Löhne sprechen. Und über unbezahlte Arbeit. Die AHV zeigt, dass es möglich ist, unbezahlte Arbeit zu versichern. Das müsste man ausbauen.
Mal angenommen, Frauen würden mehr verdienen. Könnte die AHV indirekt auch damit saniert werden?
Peter: Wenn man die Löhne der Pflege, Kinderbetreuung, von Coiffeurinnen, Detailhändlerinnen und so weiter auf das Niveau von nicht-personenbezogenen Dienstleistungen wie zum Beispiel der Immobilienbranche anheben würde, ja.
Aggeler: Dann bleibt noch die unbezahlte Arbeit.
Können Sie das ausführen?
Aggeler: Frauen verdienen ja aus drei Gründen weniger. Erstens aufgrund unterschiedlicher Löhne für die gleiche Arbeit: Mutterschaft, häufigere Unterbrüche, mehr Teilzeitarbeit sowie der sogenannt nicht erklärbare Teil, den wir unter dem Begriff Lohndiskriminierung kennen. Zweitens aufgrund unterschiedlicher Löhne zwischen männlich und weiblich dominierten Branchen. Alles zusammen ergibt den Gender Pay Gap. Drittens, und das schenkt richtig ein: wegen der unbezahlten Arbeit.
In den 100 Milliarden, die Frauen nach Madörins Berechnung jährlich weniger verdienen als Männer, ist bezahlte und unbezahlte Arbeit zusammengefasst. Warum?
Peter: Dafür gibt es ökonomische Gründe. Wir haben im Industriesektor sogenannt produktive Arbeit. Hier können Gewinne abgeschöpft werden. Im Sorge- und Versorgungssektor ist das nicht möglich, ausser man senkt die Löhne oder umgeht die Finanzierungsfrage, indem man die Arbeit in den Privatbereich verschiebt.
Aggeler: Im Haushalt ist Produktionssteigerung kaum möglich. Aber diese Arbeit verschwindet nicht einfach. Das ist der zweite Grund, warum wir bezahlte und unbezahlte Arbeit zusammenfassen: Die Arbeit, die im Sorge- und Versorgungssektor gemacht wird, ist Arbeit, die gemacht werden muss. Stichwort «systemrelevant». Wenn Pflegerinnen nicht pflegen, machen es die Angehörigen. Diese Arbeit kann vom schlecht bezahlten in den unbezahlten Bereich verschoben werden und umgekehrt. Das ist ein mächtiger Mechanismus, um Kosten zu sparen.
Ich will es genauer wissen: Was ist der Sorge- und Versorgungssektor?
Klassische volkswirtschaftliche Modelle gehen von drei Wirtschaftssektoren aus: Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistung. Die Ökonomin Mascha Madörin fügt einen vierten Sektor hinzu: die Sorge- und Versorgungswirtschaft. Dieser Sektor umfasst personenbezogene Dienstleistungen und unbezahlte Arbeit, die für Menschen oder im Umfeld des Haushalts geleistet werden. Dazu gehört im bezahlten Bereich das gesamte Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen, der Detailhandel, die Gastronomie. Im unbezahlten Bereich kommt die Hausarbeit dazu, die Betreuung von Kindern und Angehörigen und die Freiwilligenarbeit. Fast 70 Prozent aller Arbeit wird in diesem Sektor geleistet, ein Grossteil davon wird nicht bezahlt, ein Grossteil wird von Frauen geleistet.
Wie wird unbezahlte Arbeit erhoben?
Peter: Das Bundesamt für Statistik macht regelmässig telefonische Befragungen der Haushalte: Was hast du gestern gemacht, wie viele Stunden hast du geputzt, wie viele gekocht und so weiter. Diese Erhebung lässt allerdings Fragen offen: Hast du die Kinder betreut oder für sie gekocht? Meistens passiert ja beides gleichzeitig. Hast du eine pflegebedürftige Person im Haus, pflegst du nicht rund um die Uhr. Trotzdem kannst du nicht einfach rausgehen und einen Kaffee holen.
Aggeler: Es gibt eine Studie aus Australien, die das zu erheben versucht hat. Sie ist zum Schluss gekommen, dass sich die unbezahlte Arbeit so gerechnet im Minimum verdoppeln würde. Hinzu kommt: Die ganze Arbeit der Familienorganisation; das, was wir unter dem Begriff mental load kennen, ist hier noch nicht mit eingerechnet. Frauen arbeiten also wahrscheinlich noch viel mehr, nur ist das schwer mit Zahlen zu belegen.
Wie steht die Schweiz im internationalen Vergleich da, was diese Fragen betrifft?
Aggeler: Auch in anderen Ländern wird mehr unbezahlte als bezahlte Arbeit geleistet, das ist in allen kapitalistischen Wirtschaften so.
Peter: Aber auch in kapitalistischen Wirtschaften kann man sich dafür entscheiden, die Sorge- und Versorgungswirtschaft besser zu finanzieren. Das ist nur eine Frage des politischen Willens. Die Schweiz ist, was das betrifft, ein Entwicklungsland.
Totschlagfrage: Können wir es uns denn leisten, diese Sorge- und Versorgungsarbeit zu finanzieren?
Aggeler: Können wir es uns leisten, es nicht zu tun? Die Schweiz ist ein extrem reiches Land. Es ist einfach peinlich, zu sagen, wir könnten uns eine gute Altenpflege nicht leisten, eine bessere Altersvorsorge, eine anständige Kinderbetreuung.
Peter: Wir können uns im Minimum dafür entscheiden, öffentliche Infrastruktur gemeinschaftlich zu finanzieren und auszubauen, das machen ganz viele westeuropäische Staaten. Das hat nichts damit zu tun, was möglich wäre und was nicht. Das ist pure Ideologie. Dass unser Land zusammenbrechen würde, wenn wir den Sorge- und Versorgungssektor finanzieren würden. Dass Wirtschaft etwas Neutrales sei, das man nicht gestalten kann. Dabei kann man das sehr wohl.
Wie erklären Sie sich das?
Peter: Es gibt eine frauenfeindliche Tradition in diesem Land, auch die späte Einführung des Frauenstimmrechts ist Teil davon. Diese verflicht sich mit einer Wirtschaftsideologie, die sich nur an Profit orientiert. Und mit dem neoliberalen Dogma, dass alle ihres eigenen Glückes Schmied sind.
Aggeler: Dazu kommt ein bestimmtes Staatsverständnis, das in der Schweiz weitverbreitet ist: Der Staat soll sich nicht einmischen. Alle wollen möglichst viel Selbstbestimmung. Aber Selbstbestimmung bedeutet doch, keine Existenzängste zu haben. Und das würde eine höhere AHV-Rente bieten.
Peter: Apropos staatliche Einmischung: Schauen wir uns die Schweizer Landwirtschaft an. Sie ist volumenmässig klein, würde ohne Subventionen nicht überleben und hat einen enormen Stellenwert. Das ist nicht falsch. Falsch ist, dass die Sorge- und Versorgungswirtschaft keinen Stellenwert hat.
Aggeler: Letztlich geht es um die Frage: Für wen und was geben wir Geld aus und für wen nicht? Wer ist, um an die Bankenrettung zurückzudenken, too big to fail?
Kommen wir noch einmal zurück zur AHV. Was heisst das alles für die aktuelle Debatte?
Aggeler: Wir wollen den Diskurs umkehren: Wir können es uns nicht leisten, die AHV zu schwächen.
Peter: Stattdessen müssen wir uns fragen: Wie sorgen wir dafür, dass Menschen, die ein Leben lang gearbeitet haben, keine Existenzängste haben im Alter? Das war die erste und bleibt die wichtigste Frage der AHV. Deshalb kommen Abbauvorlagen nie durch. Den Menschen ist bewusst, was sie an der AHV haben.
Zur Debatte: Was denken Sie über die AHV-Reform?
Soll das Rentenalter der Frauen von 64 auf 65 erhöht werden? Werden die Frauen angemessen dafür entschädigt? Oder zahlen sie in unverhältnismässiger Weise die Zeche für frühere Versäumnisse der Politik? Hier gehts zur Debatte.