Das sozialste Sozialwerk
Die AHV soll saniert werden, die Mehrwertsteuer steigen, Frauen sollen ein Jahr länger arbeiten. Fünf Grafiken, um die AHV und die aktuelle Reform besser zu verstehen.
Von Priscilla Imboden und Felix Michel, 05.09.2022
Die Alters- und Hinterlassenenversicherung AHV wurde 1948 eingeführt und bildet das Fundament des schweizerischen Rentensystems. Ihr Ziel: Sie soll den finanziellen Grundbedarf decken (was allerdings nicht mehr der Fall ist).
Die AHV ist gelebte Solidarität zwischen Jung und Alt: Die arbeitende Bevölkerung finanziert laufend die Renten der Pensionierten. Bei diesem sogenannten Umlageverfahren zahlt jeder das halbe Leben lang Lohnbeiträge ein und bezieht nach der Pensionierung für den Rest des Lebens eine Altersrente. So weit, so gut.
Nur: Die Rechnung geht mit der Zeit nicht mehr auf. Deshalb entscheidet die Stimmbevölkerung am 25. September über eine AHV-Reform. Die wird von den Gewerkschaften, der SP und den Grünen bekämpft mit den Argumenten, sie erfolge auf dem Rücken der Frauen und sei unsozial, weil sie auch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer beinhaltet. Ein Komitee bürgerlicher Parteien setzt sich für die Reform ein, denn sie sei nötig, um das Sozialwerk zu stabilisieren.
Damit Sie sich ein Bild machen können, worum es geht: ein Erklärbeitrag zur AHV mit fünf Grafiken.
1. Warum die AHV in Schieflage gerät
Die Finanzierung der AHV gerät aus dem Lot, weil sich das Verhältnis zwischen Jung und Alt verändert. Die geburtenstarke Nachkriegsgeneration geht nun in Rente. Auf dem Arbeitsmarkt fehlen entsprechend Fachkräfte, und in der Altersvorsorge wird die Lücke immer grösser, da die Jüngeren mit ihren Löhnen mehr Pensionierte als früher finanzieren müssen. Dies ist zwar im Prinzip möglich, weil die Produktivität und mit ihr die Lohnsumme angestiegen sind. Aber diese Entwicklung reicht nicht aus, um zu verhindern, dass die AHV finanziell in Schieflage gerät. Das zeigen Prognosen des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV):
Die AHV nahm 2021 rund 48 Milliarden Franken ein und zahlte etwa 47 Milliarden wieder in Form von Renten aus. Da die Einnahmen und Ausgaben nicht unbedingt zeitgleich erfolgen, schreibt das Gesetz vor, dass der Topf, in den einbezahlt und aus dem die Renten ausbezahlt werden, mindestens die Ausgaben für ein Jahr beinhalten muss. Dieser Topf ist der sogenannte AHV-Ausgleichsfonds. Die Grafik oben zeigt, ab wann der Fonds mit und ohne Reform unterfinanziert sein dürfte. Sie zeigt auch: Die Reform löst das Problem nicht – sie verschiebt es lediglich um 4 Jahre.
2. Woher das Geld kommt
Die AHV wird zum grössten Teil durch Lohnprozente finanziert. Konkret fliessen 8,7 Prozent der Löhne in die AHV-Ausgleichskasse. Die Hälfte davon wird vom Lohn eines Angestellten abgezogen, die andere Hälfte von der Arbeitgeberin beigesteuert.
Weil das nicht ausreicht und die Löhne nicht zu stark belastet werden sollen, stammen rund 20 Prozent der Finanzierung der AHV aus der Bundeskasse. 7 Prozent der Einnahmen kommen aus der Mehrwertsteuer. Dieser Anteil soll leicht erhöht werden: Mit der Reform würde der Normsatz der Mehrwertsteuer um 0,4 Prozentpunkte angehoben und der daraus resultierende Ertrag in die AHV fliessen.
0,4 Prozentpunkte sind ein kleiner Anstieg. Die Wirkung wäre aber gemäss den Berechnungen des Bundes gross: Die Mehrwertsteuer würde dadurch jährlich zusätzlich Einnahmen von etwa 1,4 Milliarden Franken generieren. Rechnet man die Beträge von 2024 bis 2032 zusammen, würden die Einnahmen der AHV also um 12,4 Milliarden zulegen.
3. Die Reform und die Frauen
Mittelfristig soll rund die Hälfte der zusätzlichen Finanzierung dadurch erreicht werden, dass die Frauen ein Jahr länger arbeiten. Sie würden statt wie bisher mit 64 neu mit 65 in Rente gehen. Das bedeutet aber: Frauen, die bis anhin damit gerechnet haben, dass sie mit 64 bei voller Rente pensioniert werden, müssen ihre Finanz- und Lebensplanung umstellen. Deshalb ist für neun sogenannte Übergangsjahrgänge eine Kompensation vorgesehen.
Die spätere Rente der Frauen füllt die Kasse der AHV ab 2028 jährlich mit weiteren 1,4 Milliarden Franken. Von 2024 bis 2032 rechnet der Bund kumuliert mit 6,2 Milliarden Franken zusätzlichen Einnahmen – die Ausgaben für die Übergangsjahre wurden von diesem Betrag bereits abgezogen.
Die Ausgleichsmassnahmen im Überblick
Geburtsjahr | Referenzalter | Rentenzuschlag pro Monat |
---|---|---|
1961 | 64 + 3 Monate | 25 % |
1962 | 64 + 6 Monate | 50 % |
1963 | 64 + 9 Monate | 75 % |
1964 | 65 Jahre | 100 % |
1965 | 65 Jahre | 100 % |
1966 | 65 Jahre | 81 % |
1967 | 65 Jahre | 63 % |
1968 | 65 Jahre | 44 % |
1969 | 65 Jahre | 25 % |
Der individuelle Rentenzuschlag pro Monat ist in Prozent des Grundzuschlags angegeben. Der Grundzuschlag variiert je nach Einkommensstufe zwischen 50 und 160 Franken. Quelle: BSV.
Das Frauenrentenalter soll über 4 Jahre schrittweise erhöht werden. Für Frauen der Jahrgänge 1961 bis 1969 ist eine Kompensation vorgesehen in Form eines dauerhaften Rentenzuschlags. Dieser ist abgestuft. Am meisten erhalten die ersten beiden Jahrgänge, die effektiv mit 65 in Rente gehen: Sie erhalten den vollen Grundzuschlag – also je nach Einkommensstufe zwischen 50 und 160 Franken zusätzlich pro Monat.
4. Wer länger arbeiten will, soll dies tun
Die AHV-Reform beinhaltet auch eine Flexibilisierung: Sie soll es einfacher machen, später als an sich vorgesehen in Pension zu gehen. Sie spricht deshalb nicht mehr von einem fixen Pensionierungsalter, sondern von einem «Referenzalter». Dass bereits heute viele Männer und Frauen länger als bis 65 beziehungsweise 64 Jahre arbeiten, zeigt folgende Grafik:
Jede fünfte Frau im Alter von 65 bis 67 Jahren arbeitet schon heute. Danach nimmt die Erwerbsquote weiter langsam ab, also der Anteil der erwerbstätigen Personen der jeweiligen Altersgruppe. Trotzdem waren bei der letzten Auswertung von 2018 bis 2020 noch 7 Prozent der 74-Jährigen im Arbeitsprozess eingebunden. Bei den Männern arbeiten gut 30 Prozent der 66-Jährigen, danach geht ihre Erwerbsquote ebenfalls stetig zurück. Bei den 74-Jährigen arbeiteten immerhin noch 14 Prozent.
5. Grosse Umverteilungsmaschine
Wie gesagt, die AHV ist gelebte Solidarität, zwischen Jung und Alt, zwischen Mann und Frau und zwischen Arm und Reich: das sozialste Sozialwerk. Nur gerade 12 von 100 Rentenbezügern haben ihre Altersrente mittels AHV-Beiträgen, direkter Bundessteuer und Mehrwertsteuer finanziert. Alle anderen erhalten mehr Rente, als sie je in die AHV einbezahlt haben. Das zeigen Auswertungen, die der Vorsorgeexperte und frühere FDP-Nationalrat Andreas Zeller der Republik zur Verfügung gestellt hat. Grund dafür ist, dass es keine obere Lohngrenze gibt, bis zu der Lohnprozente an die AHV entrichtet werden. Die AHV-Rente ist hingegen auf maximal 2390 Franken pro Monat begrenzt. Das bedeutet: Auch wer eine Million im Jahr verdient, wer ungleich mehr in die AHV abliefert als ein Normalverdiener, erhält nur diese Rente. So verschiebt die AHV jedes Jahr 22 Milliarden Franken von den hohen zu den tieferen Einkommensklassen.
Für diese Umverteilung hat Zeller eine hypothetische Beispielrechnung gemacht. Verdient eine alleinstehende Frau mit Kind über ihre gesamte Erwerbszeit – also 43 Jahre – durchschnittlich 60’000 Franken im Jahr, zahlt sie insgesamt mit den entsprechenden Steuern und Erziehungsgutschriften rund 250’000 Franken in die AHV ein. Dieser Frau stellt Zeller einen Mann ohne Kinder gegenüber, der über seine gesamte Erwerbstätigkeit von 44 Jahren im Schnitt einen Toplohn von 300’000 Franken verdient. Der Mann zahlt bei diesem Beispiel 1,8 Millionen Franken in die AHV ein.
Im Alter drehen sich die Verhältnisse. Die Frau bezieht monatlich eine AHV-Rente von 2046 Franken, der Mann bekommt den Maximalbetrag von 2390 Franken. Auf die Lebenserwartung aufsummiert, bezieht der Mann 573’600 Franken, die Frau hingegen aufgrund der höheren Lebenserwartung 633’360 Franken.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen bestätigt diese Umverteilung auf Anfrage der Republik. Es kommt sogar auf eine noch grössere Wirkung: Im Schnitt erhielten knapp 90 Prozent der Bevölkerung mehr Rente, als sie je in Form von Beiträgen einbezahlten, sagt das Bundesamt. Es berücksichtigt dabei nur die Finanzierung via Lohnbeiträge und lässt die Beiträge via Steuern aus. Das erklärt den Unterschied zu den Zahlen von Zeller.
Die AHV sorgt ausserdem für den Rentenausgleich zwischen Mann und Frau: Mit der 10. AHV-Revision 1997 erhielten Frauen einen eigenständigen Rentenanspruch. Seither wird das Erwerbseinkommen von Ehepaaren aufgeteilt und je zur Hälfte beiden Ehepartnern gutgeschrieben. Sie erhalten also seither jeweils eine gleich hohe Rente. Die Familienarbeit wird zudem mit Erziehungs- und Betreuungsgutschriften berücksichtigt. Das führt dazu, dass die Frauen 34 Prozent und die Männer 66 Prozent der Beiträge an die AHV einbezahlen, die Frauen aber 55 Prozent der Leistungen beziehen, die Männer nur 45 Prozent.
Die AHV ist eine einmalige Institution in der Schweiz. Mit der Reform soll sie stabilisiert werden, damit sie in einem zweiten Schritt saniert werden kann. Dort wird es darum gehen, wie die AHV ihren gesetzmässigen Auftrag erfüllen soll, den Grundbedarf zu decken. Und wie das Verhältnis dieses sozialsten Sozialwerkes zur zweiten und dritten Säule des Rentensystems ist, in denen wenig bis keine Umverteilung stattfindet.
Das sind die grundsätzlichen Fragen.
In einer früheren Version haben wir von einer Anhebung von «0,4 Prozent» geschrieben, richtig ist «0,4 Prozentpunkte». Wir haben die Stelle korrigiert und danken für den Hinweis aus der Leserschaft
Zur Debatte: Was denken Sie über die AHV-Reform?
Soll das Rentenalter der Frauen von 64 auf 65 erhöht werden? Werden die Frauen angemessen dafür entschädigt? Gäbe es Alternativen zu einer Politik der Deals und Ausgleichsmechanismen? Hier gehts zur Debatte.