Techno, Technik und Selbstvermessung

Der Kult der Bewegung beherrscht inzwischen alles – ständig überwacht von kleinen Geräten. Selbst das Partyleben wird davon geprägt.

Von Tobi Müller (Text) und Philotheus Nisch (Bild), 24.08.2022

Synthetische Stimme
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Es ist davon auszugehen, dass bei der Zürcher Street Parade neulich auch Rave­touristen das Seebecken mit einem Tracker umrundet haben. Pocht der Puls schon seit einer halben Stunde über 180? Besser kurz am Strassen­rand pausieren. Auf keinen Fall jetzt eine Pille nachlegen, sonst geht die Party im Sanitäts­zelt weiter.

(Disclaimer: Wie hoch die Herzfrequenz vernünftigerweise gehen darf, hängt von vielen Faktoren wie Alter, Gewicht, Trainings­stand ab – ich bin kein Arzt und schlage keine Verhaltens­weisen vor.)

Techno und Fitness­boom verbindet so einiges. Heute misst mehr als ein Viertel der Schweizer Bevölkerung, wie sie läuft, schläft oder trainiert. Rund 27 Prozent nutzten im letzten Jahr regelmässig Smart­watches oder Fitness­tracker. Die Wachstums­raten der Wearables, wie körpernahe Aufzeichnungs­geräte von Körper­funktionen heissen, liegen global zum Teil im zweistelligen Prozentbereich – 17 Prozent mehr Absatz allein im Vergleich von 2020 zu 2021, Prognosen für die nächsten Jahre sagen jährlich mehr als 18 Prozent Wachstum voraus. Wearables sind nicht neu, aber sie werden so oft gekauft wie noch nie.

Bikini, Hotpants, Tessiner­brötli (wie das Sixpack in der Schweiz einmal hiess): Ohne die bereits in den Neunziger­jahren Mainstream-taugliche Körper­betonung von Techno hätte der Fitness­boom wohl nicht diesen enormen Schub gehabt. Techno betraf nie nur eine abgehängte Minderheit, wie manchmal wegen des verbreiteten Drogen­konsums behauptet wurde, sondern war sehr schnell ein Massen­phänomen. Die Teilnehmer­zahlen der Paraden in Berlin und Zürich, die Riesen­raves in der Provinz von Huttwil bis Dortmund haben schon in den Neunzigern keinen Zweifel mehr daran gelassen.

Die Leistungsparty

Techno bedeutet tanzen, lange tanzen. Die Energie muss eingeteilt werden. Einfach betrunken loshampeln und wie auf einer Schulparty nach 90 Sekunden den Refrain johlend in Stimmung kommen, klappt im Club oder beim Rave nicht. Nein, beim Techno sind die Bewegungen minimal, elegant, effizient. Mittel- und Langstrecken­läuferinnen haben verwandte Bewegungs­abläufe, und auch die Figuren ähneln sich: Der Marathonist und die Techno­tänzerin sind beide dünn und hohlwangig.

Wenn nun ältere Tänzerinnen Herz und Hirn im Blick behalten, auch mit elektronischen Gadgets, ist das weder erstaunlich noch verkehrt. Irrational wirkt dagegen, wie hinter der normalisierten Vermessung der Befehl der Leistungs­steigerung lauert. Die Logik der Geräte: besser werden.

So gut wie alle Bücher und Artikel über Fitness und übers Joggen laufen auf einen Trainingsplan zu. Was es über uns erzählt, dass wir uns fürs optimierte Training massenhaft vermessen, wird von der Macht einer überwältigenden Evidenz verdrängt: Der selbst­optimierte Körper ist das Leitbild der Gegenwart. Es geht darum, wie wir diesem Bild entsprechen, vielleicht noch um die Frage, wie wir den Datenschutz verbessern, wenn sensible Körper­daten ausgespielt werden. Darauf haben die Hersteller wie Apple und besonders der US-amerikanische Anbieter Garmin, Steuersitz Schaffhausen, längst und in einigen Fällen auch ganz gut reagiert.

Worum es jedoch nicht mehr geht: Warum tun wir das alles?

Vulnerable Gruppen und Alte sind sicherlich froh um Geräte, die ihnen Veränderungen ihres Körpers frühzeitig anzeigen und auf Probleme hinweisen. (Ein nächtlicher Pulsanstieg soll manche schon auf eine mögliche Covid-Infektion hingewiesen haben, bevor Symptome auftraten.) Vielen Gebrechlichen hat die Smartwatch am Handgelenk geholfen oder sie gar nach einem Sturz gerettet, weil das Gerät erst eine Kontakt­person angerufen hat und danach den Krankenwagen.

Aber sind wir wirklich alle so vulnerabel? Oder treiben wir alle Spitzensport und können die gewonnenen Daten beruflich nutzen? Vermessen wir uns deshalb ständig, um besser zu werden oder Katastrophen zu vermeiden? Die Vermessung inszeniert den Alltag so, als sei er entweder voller Gefahren oder als seien die Daten zentral für das Weiterleben unter würdigen Bedingungen. Auf die Mehrheit der Nutzerinnen trifft vermutlich beides nicht zu.

Das Ausmass des Bewegungs­booms und die Rhetorik der Leistungs­steigerung, die damit einhergeht, sind mit Gesundheit allein nicht mehr zu erklären. Treten wir kurz einen Schritt zurück. Wie sehr durchdrungen die Gegenwart von der Vermessung der eigenen Leistungs­fähigkeit bereits ist, erscheint noch deutlicher im Kontrast mit der jüngeren Vergangenheit.

Rauchen, Saufen, Fettsein

Wer Familien­alben oder Foto­ausstellungen aus den Sechziger-, Siebziger- oder den Achtziger­jahren besichtigt, kennt den Schauer. Was ins Auge sticht: Alkohol auf jedem Tisch, egal zu welcher Tageszeit, immer ein Aschenbecher im Bild, viele nicht versteckte Bäuche (spätestens ab 30 normal), Gesichts­farbe fahl oder rot. Meine Güte, waren die fertig. Zumindest unterhalb der Oberschicht.

Der folgende Blick in meine eigene Kindheit am Jura­südfuss lässt die physischen Verheerungen, die damals auch den Schweizer Mittelstand auszeichneten, sofort sichtbar werden. Meine Album-Rückblende betrifft zwar nicht mein enges familiäres Umfeld, aber ich habe es bei Freundinnen und Verwandten so ähnlich erlebt:

Ist das nicht die kleine Alexandra auf dem Bild, die dem Papi mit heissem Leitungs­wasser ein Instant-Kafi-Schnaps macht? Der Konrad würde im Fall auch noch einen nehmen, ruft es aus der Stube, wo die Männer Kette rauchen und das Autorennen schauen. Auf dem Bild ist Konrad ungefähr 35, sieht aus wie 55, aber in schlechtem Zustand. Die Frauen hat man beim Abwaschen nicht fotografiert. Aber da, sie liegen mit Melkfett eingeschmiert im Garten, damit die Haut schön braun und ledrig wird.

Von den Zähnen wollen wir schweigen. Wer danach besoffen und mit Kindern auf dem Rücksitz nach Hause fährt (ohne Sicherheits­gurt), erzählen die Fotos nicht.

Das von Kindern zubereitete Misch­getränk: schon damals eher schräg. Aber Wein und Zigaretten holen für die Eltern hat niemanden geschockt – zwei Fendant und ein Päckli Muratti Box fürs Mami, bitte. Normal. Auch Alkohol am Steuer.

Unser Verhältnis zur Gefährdung des eigenen Körpers, zur Gesundheit und zum offenen Konsum von Genuss- und Rausch­mitteln hat seither einen radikalen Wandel durchlaufen. Trigger­warnungen vor alten Filmen müssen heute den Schock in Schach halten: Achtung, Tabak­erzeugnisse. Allerdings sehen wir diese Vergangenheit nur noch selten, weil die Film­geschichte, früher wichtiger Programm­teil des öffentlichen Fernsehens, im Strudel der Streaming­dienste absäuft.

Die neue Disziplin

Alkohol- und Nikotin­konsum nehmen ab, ziehen sich zurück ins Nachtleben, oder mindestens auf den Balkon. Doch wie lange will man noch die lauter als nötig geschlossenen Fenster der Nachbarn hören, wenn man abends eine raucht auf der Veranda? Es zieht rein, stimmt schon. Dazu kommt eine neue Verschämtheit: Vielleicht reden wir auch deshalb inzwischen so viel übers richtige Essen, weil über richtigen Sex zu reden komplizierter geworden ist.

Man kann das neue Körper­regime selbst­verständlich auch ablehnen. Doch die Handy­kameras registrieren die Folgen sofort. Dann macht man bald auch nicht mehr eine so gute Figur auf Social Media. Die Anzahl der Bilder, die selbst von unbekannten Personen im Netz kursieren, übersteigt die Vorstellungs­kraft aller Konrads und Alexandras der Siebziger­jahre. Unsere Gesundheit ist bestens dokumentiert, auch wenn wir unseren Puls nicht sharen in sozialen Netzwerken.

Der digitale Spiegel des eigenen Körpers hängt heute überall. Er ist schliesslich das Geschäfts­modell der weltweit grössten Unternehmen, wie etwa Meta (Instagram und Facebook) oder Apple. Wir sehen ständig unsere und andere Körper im Vergleich. Das treibt uns an zu Körper­disziplin – und macht manche krank.

Wir leben in einer paradoxen Welt. Viel Bewegung ist sicher eine tolle Sache, doch der Befehl der Selbst­optimierung klingt nach Drill. Vor allem in den Ohren jener, die aus körperlichen oder finanziellen Gründen nicht dazu in der Lage sind. Und nun setzten sich auch noch die Geräte flächendeckend durch, die das richtige Verhalten überwachen. Warum tun wir uns das an?

Das Clubbing und die Krise

These: Jeder Bewegungs­boom korrespondiert mit existenziellen Krisen. Das zeigt sich heute genauso wie in früheren Fitness­wellen. Im bewegten Körper zirkuliert immer die Nervosität der jeweiligen Gegenwart, wie ein Seismograf schlägt er aus bei epochalen Erschütterungen.

Konjunkturen der Bewegung brauchen zunächst vor allem eine Ressource: Zeit. Die entsteht durch die Erfindung der Freizeit nach der Reduktion des Arbeits­tages am Anfang des 20. Jahrhunderts. Oder durch Arbeits­losigkeit. Marathon-Tanzveranstaltungen und Langstrecken­läufe mit hohen Preisgeldern für Amateure boomten zum Beispiel in den krisen­geschüttelten späten Zwanziger­jahren des letzten Jahrhunderts. Das bis heute bekannte Theater­stück und der Film «They Shoot Horses, Don’t They» erzählen von solchen Tanzwettbewerben. Und Tom McNabs Roman «Flanagan’s Run», ein Bestseller von 1982, handelt von einem Ultra­marathon.

Der Disco-Historiker Peter Shapiro sieht in der Jazztanz­bewegung im Zweiten Weltkrieg die Geburt des Clubs, wie wir ihn heute verstehen – bei der unter Hitler verbotenen Swing-Jugend, den Schlurfs in Wien, den Potápki in Prag und besonders bei den Zazous im besetzten Paris. Zazou war Laut­sprache und sollte an den sogenannten Scat-Gesang, die Jazz-Vokal­improvisationen etwa von Cab Calloway, erinnern.

Und er war ein Code für Widerstand: Die Zazous organisierten sich in der Résistance, einer ihrer Underground-Clubs in der Pariser Rue de la Huchette hiess «La Discothèque»: die Geburt eines Begriffs. Diese Kids, die zu Schall­platten tanzten, verhielten sich dabei gemäss der Redewendung, die in mehreren Sprachen existiert: Sie tanzten auf dem Vulkan.

Wenn die Bedrohung wächst, braucht es Ventile für den körperlichen Exzess. Das ist eine kulturell normale Reaktion, sofern die Verhältnisse sie noch zulassen. An der Front oder im Bomben­hagel denkt dann niemand mehr ans Tanzen.

Auch die zu grossen Teilen queere, afro­amerikanische, karibische und hispanische dance culture der Sechziger- und Siebziger­jahre in New York City entstand in einem Druck­kessel aus Bedrohung und Prekariat. Je stärker das Bewusstsein für die eigene Diskriminierung war, desto mehr erblühte die Disco-Bewegung im Underground. An die Oberfläche der Mehrheits­gesellschaft kam Disco erst ab Mitte der Siebziger­jahre, als die Ölschocks die Grenzen des Wachstums aufzeigten. Da dämmerte es selbst Teilen der weissen Mittelklasse, dass die Nachkriegszeit und ihr Versprechen auf steten Fortschritt an ein Ende kommen könnten.

Nun setzte, vorerst in den USA, der Laufboom ein. Nach Jahrzehnten der wohlstands­bedingt kurzen Laufwege, langen Autofahrten und langen Fernseh­schichten auf dem Sofa wurden die Körper wieder aktiviert.

Disco und Fitness erreichten den Mainstream also zur gleichen Zeit. Der sorglose Umgang mit Alkohol und Nikotin, der in der beispiellosen wirtschaftlichen Wachstums­phase stark gestiegene Fleisch-, Zucker- und Fett­konsum hatten die Körper verändert. Nicht nur in den USA, sondern auch in unsern Fotoalben oder Talkshows. Sogar bei Skifahrerinnen oder Fussballern war nicht alles Muskel an Oberschenkel, Bauch und in den runden Gesichtern.

Schwitzen für die Eigen­verantwortung

Eine US-amerikanische Laufbibel bringt die Ideologie hinter dem durchaus vernünftigen Jogging­boom bereits 1977 auf den Punkt. James F. Fixx schrieb in seinem Bestseller «The Complete Book of Running», man dürfe beim vorherrschenden Lebens­wandel von der Medizin keine «good health» erwarten. Der Nutzen von jedem zusätzlichen Dollar für die Kranken­versicherung sei verschwindend klein. An wen wir uns stattdessen wenden müssten: an uns selbst. «To whom can we look? The answer is plain: to ourselves.»

Im gleichen Jahr kam «Saturday Night Fever» mit John Travolta in die Kinos, der Film, der Disco endgültig vom schwarzen Under- in den weissen Overground schob. Drei Jahre später wurde Ronald Reagan zum Präsidenten gewählt.

Die Discowelle und der Fitness­boom fallen in eins mit dem Beginn des Neoliberalismus, für den Reagan in den USA stand und Margaret Thatcher in England. Der Rückbau von Staat, die (Teil-)Privatisierung öffentlicher Dienste wie Post, Tele­kommunikation und Bahn sowie die Beschneidung der Gewerkschaften entsprechen dem Denken der exzessiven Eigen­verantwortung, das die tanzenden und joggenden Körper bereits eingeübt hatten.

Das heisst nicht, dass Disco, später House und Techno und der Bewegungs­boom schuld an der sozialen Schere sind, die der Neoliberalismus vergrössert, weil er etwa die Risiken verstaatlicht und die Gewinne privatisiert. Es geht nicht um eine einfache Mechanik von Ursache und Wirkung im Sinne von: Joggen hat Reagan ermöglicht, und jede Raverin müsste konsequenter­weise die FDP wählen, um den Fetisch Eigen­verantwortung, den sie tanzend feiert, auch politisch zu würdigen.

Die historische Vogel­perspektive hilft jedoch, die Kräfte zu sehen, die über Jahrzehnte wirken und in der Freizeit einen guten Trainings­platz für die Eigen­verantwortung finden. In der Nachkriegs­zeit wuchs kontinuierlich die Freiheit, Dinge zu tun, die vor dem Krieg kaum möglich gewesen wären: Nächte legal durch­tanzen, Sportarten ausüben, die früher nur Adeligen oder Reichen zugänglich waren (in den USA etwa Golf oder in Europa Tennis), die Zeit haben, den einst von harter Arbeit früh geschädigten Körper länger kräftig zu halten. Das waren sozial emanzipatorische, empowernde Entwicklungen. Doch gleichzeitig wurden diese Freiheiten auch mit sozialem Status aufgeladen und mündeten in Zwang.

Tennis für Aufsteiger, Fitness für die sexuell oder ökonomisch Erfolg­reichen. Wie mächtig insbesondere der Fitness­befehl ist, erkennt man auch daran, dass er heute für alle sozialen Schichten gilt.

Die Lust am Sichkaputt­machen

Die Vergleichbarkeit von Laufen und Tanzen scheint auf den ersten Blick allerdings an klare Grenzen zu stossen. Raven feiert nicht nur den fitten Körper, sondern auch die Freiheit, sich selber für etwas Spass zu gefährden. In der Nacht wird bis heute geraucht, gesoffen erst recht. Und man kann über Drogen reden oder nicht, sie spielen für viele eine Rolle, die lange tanzen gehen. Von der Ratgeber­literatur in den Bestseller­listen, die Tipps für Sport und Ernährung geben und warnen vor dem Alkohol­konsum, ist im Nacht­leben wenig zu spüren.

Auf den zweiten Blick treten aber doch wieder Ähnlichkeiten mit der Fitness­sphäre zutage. Wer in Gym­garderoben herumhängt oder mit Läufern über halbe und ganze Marathon­strecken spricht, kennt die Dauerthemen: Verletzungen, Abnutzungs­erscheinungen, Über­belastungen. Nach einem Marathon sind die meisten zwei Tage arbeits­unfähig. Aber Marathon klingt besser als Raven bis zum Mittag, wenn es mal wieder Dienstag wird, bis man im Büro auftaucht.

Auch im Breiten­sport steckt die Lust an der Selbst­zerstörung. Nicht mehr zu können, an seine Grenzen zu kommen und oft darüber hinaus: Ist das noch gesund? Nein. Aber geil.

Eine weitere schöne Selbst­täuschung: Warum Leute, die angeblich keine Zeit haben, täglich zwei Stunden für Fitness aufwenden können. Anfahrt, Umziehen, Sport, Duschen, Anziehen, Rückfahrt. In der Bereitschaft, so viel für den Körper und für die Leistungs­fähigkeit zu tun, versteckt sich die Unlust, zu arbeiten. Man tut so, als würde man seine Leistungs­bereitschaft verbessern, stellt aber letztlich das Gleiche wie auf dem Dance­floor dar: eine Sprechblase mit dem Inhalt fuck work.

Superheld der Wearables

Das populärste Vorbild für das Doppel­gesicht aus staats­tragendem Leistungs­streber und anarchischem Hedonist ist James Bond. Er schützt die Nation, zerstört dabei aber so viel Besitz und Kapital wie möglich. Was wegen Bond so alles in die Luft fliegt, übersteigt oft selbst die Vernichtungs­bilanz der Bösewichte. Und trotz spektakulärer Wunder­waffen bleibt die schärfste sein Kampfkörper (zumindest bei Daniel Craig), den er aber mit Alkohol und viel Sex bedroht. Der alkohol­freie Martini hat es bislang genauso wenig in die Filmreihe geschafft wie das Kondom.

Die Figur des James Bond ist aber auch Early Adopter, wenn es um Gadgets geht. Uhren, Autos, Handys: Ohne die Werbe­einnahmen grosser Technologie­hersteller ist ein Bond schon lange nicht mehr zu finanzieren. Auch da ist uns Bond ähnlich und greift unserem heutigen Verhalten Jahrzehnte vor: Er weiss, dass ihn immer jemand überwacht. Sei es ein Agent, sei es ein Gerät.

Bislang haben die technologische Überwachung und seine schicken Wearables nichts an der Struktur verändert, dass Bond für beides steht: für die Selbst­optimierung und den Dienst für ein Land und seine Unternehmen sowie für die Zerstörung all dessen einschliesslich sich selbst. Wie ist das bei uns Normal­sterblichen, wenn die Vermessung des Selbst weiter so voranschreitet? Wird unter diesen Bedingungen weiterhin Platz dafür sein, das Gegenteil zu machen von dem, was wir vorgeben? Oder verändern die Smartwatches, Brustbänder und Glasses tatsächlich den Spielraum für Mehrdeutigkeit?

Es dürfte schwieriger werden, sich selber zu inszenieren und Ambivalenzen auszuleben. Krank oder gesund, fit oder nicht fit, ein vernünftiges Mitglied der Gemeinschaft oder kein vernünftiges Mitglied der Gemeinschaft?

Auch diese Antworten sind nicht rein und sauber zu haben. Mir persönlich ist es unbegreiflich, wie man sich beim Sport verkabeln und die Bewegungs- oder Körper­daten freiwillig an Dritte weitergeben kann. Ausser man ist krank, vorbelastet, alt, ängstlich.

Es gibt sicher Gründe, die Vermessung als Fortschritt zu erfahren. Aber es sprechen auch viele dagegen. Sie kommen ins Spiel, wenn die Vermessung von einem gefordert wird – sozial wegen Gruppen­druck, ökonomisch über verbilligte Zusatz­versicherungen der Kranken­kasse. Das sind Zwänge, die wir mit der Zeit verinnerlichen und für unsere eigenen Wünsche halten.

Bis alle so weit sind, lohnt sich noch einmal ein Blick in «The Complete Book of Running» von James F. Fixx. Gestützt auf Studien, empfiehlt Laufguru Fixx, den Tom Hanks in «Forrest Gump» in einer Sequenz parodierte, am Ende eines langen Laufes eine kalte Flasche Bier. Auch der japanische Bestseller-Autor Haruki Murakami schwärmt in seinem Laufbuch über den frittierten Fisch und das Bier nach dem Run. Und Amateur­fussballer fortgeschrittenen Alters nennen die Flasche danach mitunter «die dritte Halbzeit».

Fixx ist eine Figur der Siebziger- und Achtzigerjahre, er starb mit 52 Jahren während eines Laufes, weil ein Herzfehler nicht diagnostiziert worden war. Murakami ist 73. Wirkt die Paarung von Gesundheit und Genuss bereits oldschool? Wird das neue Körper­regime im Vergleich autoritär?

Das Durchschnitts­alter bei der Street Parade wurde nicht erfasst, die eine oder andere Herz­frequenz lässt sich jetzt bestimmt in Fitness­foren überprüfen. Auch das umfassendste Tracking von Party-Aktivitäten wird an einer Tatsache jedoch nie etwas ändern: Es gibt selbst mit den besten Trainings­plänen und den neusten Geräten am Gelenk keine Sicherheit vor dem Tod.

Zum Autor

Tobi Müller ist Kultur­journalist und Autor in Berlin. Er behandelt vor allem Pop- und Theater­themen. Für die Republik hat er zuletzt über das Theater­treffen in Berlin geschrieben.