Theater in Zeiten des Krieges
Das Theater hat sich in den letzten zehn Jahren stark politisiert. Die Pandemie und der Russland-Ukraine-Krieg zeigen allerdings: Zu viel Weltgewicht kann das Schauspiel auch schwächen. Ein paar Eindrücke vom Theatertreffen in Berlin.
Von Tobi Müller, 13.05.2022
Erinnern Sie sich noch daran, wie wir uns den Neustart in der Kultur vorgestellt haben? Den freedom day? Die Projektionen auf die Zeit nach der Pandemie waren rauschhaft. Man werde den Theatern die Bude einrennen, grosse Kunstfeste feiern. Überhaupt werde alles anders.
Doch jetzt gleiten wir eher still in die neue Zeit, als dass wir sie ekstatisch eröffnen würden. Fast alle Theater verzeichnen einen pandemiebedingten Publikumsschwund, der bis heute anhält. Weil die meisten Leute noch nicht so oft ausgehen wie davor, die mehrfach verschobenen Produktionen sich aber stauen in den Theatern. Weil in den letzten zwei Jahren Routinen des Rückzugs ins gut vernetzte Wohnzimmer eingesetzt haben. Und weil die Bildschirmzeit zunimmt, was dazu führt, dass wir auch auf Theaterabende in sozialen Netzwerken aufmerksam werden. Dort bestimmen Empfehlungsalgorithmen mit, was auftaucht auf unserem Schirm. Und die zeigen auf die Spitzen, auf die Hits, während andere Abende umso mehr Publikum verlieren.
Das Theater kommt also nicht erleichtert in die massnahmenfreie Zeit hinein. Im Gegenteil, die Last, die die Bühnenkunst tragen soll im Wettbewerb um die Gunst der Öffentlichkeit, wird immer grösser. Als es in der Pandemie darum ging, die Staatshilfen zu verteilen, wollte auch das Theater «systemrelevant» sein. Und merkte dabei nicht immer, dass es Unterschiede gibt zu Klopapier, Kinderbetreuung und Krankenpflege. Spätestens seit dem Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine geht es ums Ganze: Theater wird mitunter zu einer Bastion zur Verteidigung der Demokratie stilisiert, nebenbei nachhaltig und nie diskriminierend.
Treffen mit Hashtags
Kurz: Das Theater hat jetzt riesige Aufgaben zu schultern, die rhetorische Aufrüstung ist enorm. So verkündete es auch die Eröffnung des wichtigsten Festivals im deutschsprachigen Raum, des Theatertreffens in Berlin. Claudia Roth (Die Grünen), die neue deutsche Staatsministerin für Kultur und Medien, brachte sowohl die Systemrelevanz wie die Verteidigung der Demokratie unter in ihrer Rede. Die nach elf Jahren abtretende Festivalleiterin Yvonne Büdenhölzer hatte die Hashtags in ihrer Begrüssung schon gut vorbereitet, kein aktueller Diskurs wurde ausgelassen.
Das ist mehr als konzertierte Kommunikation zwischen einer Staatsministerin und einer ihrer Führungskräfte. Diese Sprache sendet nicht in einen luftleeren Raum, die Szene fühlt sich durchaus angesprochen. Denn das Theater entwickelt ein stark politisiertes Selbstverständnis. Und so klingt die Rhetorik der Politik ähnlich wie jene der Kunst – eine neue Situation für das Theater, dessen Spitzen sich lange lieber als Stachel im Fleisch der Macht verstanden.
Man hört diese gemeinsame Sprache beim Theatertreffen auch auf der Bühne selbst. Zum Auftakt gab es eine Inszenierung des in Zürich angestellten Regisseurs Christopher Rüping, die im Oktober auch im Schauspielhaus zu sehen sein wird. «Das neue Leben. Where do we go from here» ist eine Reflexion zur Frage, ob man lieber sofort kuscheln soll oder die Entsagung der körperlichen Liebe eine gute Idee sei. Im Vordergrund stehen zwar Motive von Dante Alighieris Gedichten an seine idealisierte Beatrice, eine Liebe, die nie Leben erfuhr. Wichtiger sind aber die Popsongs in zärtlichen, zerbrechlichen Karaoke-Versionen mit automatischem Klavier. Es geht um die Feier der Nähe in einer Zeit der Distanzierung (bei Dante war es die Pest).
Rüpings Arbeit ist ein Abend mitten aus der Pandemie, als in den Lockdowns die Sehnsucht nach Kuscheln wuchs. Schon heute wirkt dieses Säuseln wie von gestern. Doch der Abend dockt mit seinem Willen zur Rührung an alte Grundlagentexte an: Es geht hier auch um Mitleid, wie es der Dichter Gotthold Ephraim Lessing vor 250 Jahren für den Beginn des bürgerlichen Theaters vorsah. Weil wir uns fürchten, schon wieder in die pandemische Einsamkeit zu rasseln, entwickeln wir Gefühle mit den entsagungsbereiten Figuren auf der Bühne, entwickeln Empathie für ihre Not. Bitte, gestehe ihr endlich deine Liebe, fasst euch an, lasst es krachen!
Das weltanschauliche Programm liegt in den Gesten, Körpern und Tonfällen, im sehr heutigen, achtsamen Miteinander über Geschlechter und Generationen hinweg. Es ist das Gegengift zur toxischen Männlichkeit dieser Tage. Auch dies geht konform mit Lessings Denken. Denn im Theater üben wir laut Lessing bürgerliche Tugenden ein. In «Das neue Leben. Where do we go from here» ist diese Tugend der sanfte Tonfall, der den Gemeinsinn stärken soll. Es ist eine Politik der Gefühle. Und das geht auch mal mit flauschigem Feinwäsche-Techno des französischen Duos The Blaze.
Direkter anschlussfähig an die Reden von Politik und Kunst wäre eine andere Arbeit mit Zürcher Hintergrund gewesen, ebenso in der Regie von Christopher Rüping: Necati Öziris «Korrektur» von Richard Wagners «Nibelungen», die Ende Januar im Pfauen zur Uraufführung gelangte. Der Berliner Autor Öziri schrieb sieben Monologe, die keine Zeile Wagner reproduzieren wollten. Dennoch stehen die «Nibelungen» im Stückauftrag, und so emanzipieren sich alle Figuren in diesem Stück von jedweder Unterdrückung, allen voran von Wotan. Empowerment für alle ist das Ziel.
Das sind keine Einzelfälle, Christopher Rüping (36) ist einer der derzeit erfolgreichsten Theaterregisseure und kein besonders radikaler, eher ein kluger Vermittler. Nicht nur am Theatertreffen, das die Benchmark setzt, sprechen alle Theaterkünstlerinnen, die reüssieren, vor allem über Emanzipation, Politik, Demokratie und Nachhaltigkeit. Das Theater ist so politisiert wie noch nie, Wandel ist heute mehr als die schöne Phrase, die er vor fünfzig Jahren letztlich geblieben ist, als aus der Politisierung der 68er im Theater wenig folgte ausser einzelnen Grossregisseuren wie Peter Stein und Claus Peymann.
Allerdings legt die Behauptung, die Theaterkunst habe sich im letzten Jahrzehnt heftig politisiert, das pauschale Urteil nahe, dass die davor angesagten Regisseurinnen und Regisseure die Probleme ihrer Zeit ausser Acht gelassen hätten. So gesagt, wäre das falsch. Ein Blick in den Rückspiegel hilft, die vergangenen Formen von den aktuellen zu unterscheiden.
Kritische Klassiker
Bis vor rund zehn Jahren habe ich viele Theaterabende gesehen, die sich mit Fremdenhass und Rechtspopulismus, mit dem neoliberalen Angriff auf die Mittelklasse und der aussichtslosen Lage der Armen beschäftigt haben. Es waren Themen, die in europäischen Gesellschaften nicht mehr so leicht ignoriert werden konnten – in den Nullerjahren dämmerte es den Letzten, dass die Zeit des Wachstums für alle, im Grunde: die Nachkriegszeit, vorbei war.
Meistens wurden diese Themen im Schauspiel mit etablierten Stücken erzählt. Mal hart historisch wie in «Anatomie Titus Fall of Rome» von Heiner Müller, wenn die erniedrigten Goten, «die Fremden», am Ende die Stadt einnehmen und die Römer von einer hydraulisch senkrecht aufgerichteten Spielfläche purzeln (so inszenierte es Johan Simons 2003/2004 in München). Mal psychologisch wie im «Tod eines Handlungsreisenden» von Arthur Miller, den Stefan Pucher 2010 im Schauspielhaus Zürich als Konsumtrip eines Deklassierten zeigte – der lackierte Wohlstand der Cinemascope-Bühne von Stéphane Laimé im Schiffbau war die Kontrastfolie für den Zerfall. Beide Inszenierungen waren auch beim Theatertreffen in Berlin zu sehen.
Eine Regel dieses Stadttheaters lautete: durch die Brille von Stücken des Repertoires, alten und modernen Klassikern, auf die Gegenwart schauen. Eine andere, dass fast nur Männer Regie führen.
Im Mai 2012 gastierte Milo Rau zum ersten Mal mit einem seiner Abende am Theatertreffen, mit einem Rechercheprojekt über den Genozid in Ruanda. «Hate Radio» lancierte Raus internationale Karriere. Und erhitzte die Gemüter. In der Berliner Publikumsdiskussion wurde am Schluss geschrien, das sei doch alles zu direkt, zu wenig Kunst, zu viel Emotion. Rau hat dem Theater bestimmt nicht eigenhändig eine Kurskorrektur verordnet. Aber er stand im Scheinwerferlicht, als sich das Blatt zu wenden begann. Fortan gab es mehr Recherche, mehr Realien, mehr Projekte und weniger Stücke selbst im Stadttheater. Es gab: mehr Politik.
Das Gewicht des Realen
Heute reden die meisten nicht mehr von Fremdenhass, sondern von Rassismus. Wir raunen nicht von aus dem Ruder gelaufenen Proben, wenn mal wieder jemand geheult oder gekotzt hat in der Woche vor der Premiere, wir nennen es Machtmissbrauch. Und wir zucken nicht mehr zusammen, wenn Schauspielerinnen und Schauspieler ihre eigenen Erfahrungen, Lektüren oder Recherchen selbst auf den grössten Bühnen als Teil ihrer Arbeit betrachten und dies auch zeigen. Aber diese schönen, zu ihrer Zeit wichtigen Entwicklungen haben ihre Schattenseiten.
Eines der Probleme: Wenn Schauspieler stärker am künstlerischen Prozess beteiligt werden, weigern sich manche, Texte zu sprechen, die sie persönlich nicht unterschreiben können. Der Endpunkt dieser Logik wäre, dass Figuren, die sich nicht anständig (oder tugendhaft) äussern, von der Bühne verschwänden. Gute Arbeitsbeziehungen und Vertrauensverhältnisse zwischen Regie und Schauspiel, so ist zu hoffen, werden das jedoch zu verhindern wissen. Theater muss mehr zeigen dürfen als den Wunsch, wie die Welt zu sein hat.
Schwieriger ist das zweite Problem des Politisierungsschubs: Die gewonnene Stärke schrumpft angesichts extremer Ereignisse zu einer Schwäche. Wer politische Relevanz in der Kunst so stark gewichtet, wirkt schwach, wenn die Weltpolitik zuschlägt. So führte der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zu gebetsartigen Floskeln, man habe sich überlegt, ob man in diesen Zeiten noch singen oder spielen solle. Warum denn nicht? Weil man sich schämt, nichts zur Lösung beitragen zu können? Auf diese Idee kann nur kommen, wer die Kunst mit der Bedeutung eines Krieges vergleicht. Auch dieser Minderwertigkeitskomplex – wie wenig können wir ausrichten! – hat mit der Selbstüberschätzung zu tun, die quasi zur Überzeugung führte, dass Theater den Kern der Demokratie bezeichnet.
In der Aufmerksamkeitsökonomie gewinnt der Krieg immer. Wenn der Wert des Theaters allein im messbaren öffentlichen Impact seinen Ausdruck findet, hat es verloren. Vielleicht sind wir bald wieder an einem Punkt, an dem das Theater seine Stärke findet, wenn es das Primat des Politischen auch einmal missachtet.
Zum Glück glaubt das Theater aber selbst nicht alles, was es in Eröffnungsreden sagt und in Programmhefte schreibt. Auch das zeigen einige der zehn Inszenierungen, die nach Berlin zum diesjährigen Theatertreffen eingeladen wurden.
Helgard Haug von der Gruppe Rimini Protokoll montiert in «All Right. Good Night» das Verschwinden des malaysischen Flugzeugs von 2014 mit der gleichzeitig beginnenden Demenz ihres Vaters. Ohne Schauspieler, mit fünf Musikern, mit Stimmen vom Band und einem der klarsten und dabei poetischsten Texte des Jahres, der auf einen Vorhang projiziert wird. Es ist ein Abend darüber, wie wir beim Geschichtenerzählen in ozeanische Tiefen geraten, die nicht zu kartografieren sind. Auf dem Radar dieses Fluges, im Gehirn eines Dementen und im Theater: Die Dinge sind auch in unserem datenzentrierten Zeitalter nicht immer mess- und abspeicherbar.
Die furchtlose israelische Autorin und Regisseurin Yael Ronen bringt es fertig, die aktuelle Politisierung ausgerechnet im Berliner Gorki-Theater, dem wohl am meisten politisierten Haus, während neunzig Minuten herzlich zu verlachen. Und ist damit zum Theatertreffen eingeladen worden. Ihre Produktion «Slippery Slope. Almost a Musical» ist ein mit dem Komponisten Shlomi Shaban geschriebenes Musical zur Cancel-Culture, zu kultureller Aneignung, Sexismus und Rassismus im Kulturbetrieb. Doch jede Figur ist mal Täterin und mal Opfer. Das Publikum wird weder zu Mitleid noch zu Furcht überredet. Sondern zu einer gar nicht so einfachen Haltung, wer hier den ersten Stein werfen soll. Das bürgerliche Drama und seine moralischen Dilemmata, im Kleid des politisierten Theaters, finden somit ihren Weg zur Komödie.
Tobi Müller ist Kulturjournalist und Autor in Berlin. Er behandelt vor allem Pop- und Theaterthemen. Für die Republik hat er zuletzt über Joel Coens «Macbeth»-Film geschrieben.