Zum Leben zu wenig
Hamra ist Herz und Seele von Beirut. Dort spiegelt sich noch der alte Glanz der libanesischen Hauptstadt, während die Wirtschaftskrise das Land in Armut stürzt.
Von Meret Michel (Text) und Manu Ferneini (Bilder), 13.08.2022
Es gibt diese Momente, in denen plötzlich alles normal scheint, so, als gäbe es keine Krise im Libanon. Wie an diesem Freitagabend nach der Dämmerung im Beiruter Stadtteil Hamra: Mohammed Attal, den alle nur Mido nennen, sitzt auf einem steinernen Quader am Trottoir, auf einem Tuch vor sich hat er seine selbst gemachten Armbänder ausgebreitet. Passantinnen schlendern vorbei, die Tische vor dem Donut-Laden neben ihm sind fast alle besetzt.
Wie jeden Freitag wird Attal um 22 Uhr Schluss machen. Mit seinem Motorrad die paar Kilometer nach Mar Mikhael fahren, seine Freunde treffen und um Mitternacht wieder zurück nach Hamra brausen, zur Party im «Metro Al Madina», dem Kellertheater und Club im Gebäude, vor dem er gerade sitzt.
Doch diese Momente der Normalität sind kurz. Zuverlässig drängt sich die Wirtschaftskrise bei jeder Gelegenheit wieder in den Vordergrund. Die Fahrt nach Mar Mikhael kann sich Attal nur leisten, weil er ein Motorrad besitzt. «Ansonsten – no way!», sagt er. «Dann würde ich hierbleiben.» Wer schon nur 20 Liter in seinen Autotank füllen will, muss inzwischen rund 600’000 libanesische Pfund oder 20 Franken bezahlen – etwas weniger als der monatliche Mindestlohn. Der Schwarzmarktkurs, der wegen der Krise massgebend ist, liegt aktuell bei fast 32’000 libanesischen Pfund für einen US-Dollar, das Pfund entwertet sich laufend. Der Eintritt in den Club kostet zum Glück nur 50’000 Pfund. Drinks aber kann sich Attal keine leisten – er kommt bereits betrunken.
Die Wirtschaftskrise dominiert heute alles im Libanon. Sie lässt kein Leben unberührt. Sie ist der Hausbesitzer, der die Miete erhöht, bis die Menschen aus ihren Wohnungen und Stadtvierteln ausziehen. Sie ist die Busfahrt, die eine Patientin trotz verordneter Bettruhe auf sich nimmt, um Medikamente zu finden. Und sie ist die Party, die für kurze Zeit den täglichen Überlebenskampf in der Krise vergessen lassen soll. «Die Leute sind so angespannt», sagt Attal. «Deswegen lassen sie am Freitag umso mehr los.»
Was im Oktober 2019 im Libanon als Finanzkrise begann, ist heute ein nahezu vollständiger ökonomischer Kollaps. Eine der schlimmsten Wirtschaftskrisen, die es in den letzten 150 Jahren weltweit gegeben hat, schrieb die Weltbank vergangenes Jahr in einem Bericht.
Mittelstandsfamilien, die erst gerade noch jährlich für einen Urlaub in die Türkei fliegen konnten, sind heute auf Essenspakete angewiesen. Drei von zehn Kindern und Jugendlichen haben wegen der Krise die Schule abgebrochen, wie das Uno-Kinderhilfswerk Unicef im Januar schrieb. Wer kann, verlässt das Land, mit dramatischen Folgen etwa für die Gesundheitsversorgung: Von ursprünglich rund sechzig Ärzten arbeiten heute am öffentlichen Rafik-Hariri-Unispital in Beirut noch fünfzehn.
Früher galt der Libanon als Land mittleren Einkommens. Heute, knapp drei Jahre nach Ausbruch der Krise, leben 80 Prozent der Menschen in Armut.
Wie ein Zentrum in einer Stadt ohne Zentrum
Vor dem Ort, an dem Attal sitzt, quert die Hamra-Strasse das Quartier, die wichtigste Einkaufsmeile Beiruts. Sie ist eine von ganz wenigen gepflasterten Strassen in der Stadt, vielleicht die einzige, wo die Gehwege tatsächlich zum Spazieren gedacht sind. In Hamra findet man alles: Kleiderläden, Juweliere, Geldwechselstuben, die ältesten Bücherläden der Stadt und Geschäfte, die bis heute nichts anderes als Musikkassetten und Schallplatten verkaufen.
In einer Stadt, die eigentlich kein Zentrum mehr hat, funktioniert Hamra noch am ehesten wie ein Zentrum. Die meisten Stadtviertel in Beirut sind spätestens seit dem Bürgerkrieg konfessionell segregiert und von einzelnen politischen Parteien dominiert: wie Dörfer, die jemand eng zusammengeschoben hat.
In Hamra aber leben Musliminnen und Christen zusammen, die alte Aristokratie und die Arbeiterklasse, und jeden Tag kommen Menschen von ausserhalb hierher zum Arbeiten, um etwas zu besorgen oder weil sie verabredet sind. Das Viertel ist noch immer kosmopolitisch – eine Erinnerung an das glamouröse Beirut der Sechzigerjahre, als die Stadt das Finanzzentrum des Nahen Ostens war und Hamra ein Anziehungspunkt für Kulturschaffende und politisch Aktive aus der ganzen Region.
In Hamra, sagen noch heute viele, findet man den ganzen Libanon. Hier kann man wie durch ein Brennglas sehen, was die Krise für die Menschen bedeutet.
Der Lohn zahlt nicht einmal mehr die Miete
Zwar scheint Hamra in einiger Hinsicht besser durch die Krise zu kommen als andere Orte. Der Präsident der lokalen Händlervereinigung etwa erzählt, dass diesen Sommer nach zwei Jahren Pandemie wieder alle Hotels ausgebucht seien. Und tagsüber stauen sich hier noch immer die Autos, und die Menschen bummeln über die breiten Gehwege.
Doch zwischen den Passanten sitzen deutlich mehr bettelnde Menschen als noch vor wenigen Jahren. Jedes dritte, vierte Geschäft ist geschlossen, in der Nacht ist es an manchen Stellen dieser zentralen Strasse stockfinster. Viele erzählen, die Krise fühle sich nirgends so bedrückend an wie in Hamra, das mit jeder vergitterten Ladenfront etwas mehr dichtmacht. Eine Frau sagt, sie vermisse Hamra jeden Tag – dabei lebt sie im Quartier. Ein Mann berichtet, wie er das letzte Mal vor einem Jahr herkam, als es wegen Dieselknappheit in der ganzen Stadt kaum Strom gab. Er habe es kaum ausgehalten, den Ort, den er am meisten liebt in der Stadt, dunkel zu sehen. Die Stimmung habe sich verändert, sei aggressiv geworden, die Leute auf den Strassen hemmungslos.
Attal kommt noch immer jeden Abend nach Hamra, um seine Armbänder zu verkaufen. Er lebt davon, mal schlechter, mal besser.
Früher war der Strassenverkauf ein Teilzeitjob neben seiner Vollzeitstelle in einem Café. Doch mit der Krise und der Inflation schrumpfte sein Lohn, den er in libanesischen Pfund erhielt, auf einen Bruchteil: Weniger als 100 Dollar erhielt er zum Schluss pro Monat noch. Das reicht heute, ausser man hat sehr viel Glück, nicht einmal mehr für die Miete einer kleinen Wohnung. Vor einem Jahr kündigte er. «Bei meinem letzten Gespräch sagte ich dem Geschäftsführer, dass ich auch schon an einem einzigen Abend mehr Geld mit den Armbändern verdient habe als in zwei Monaten im Café», sagt er.
Das Gebäude hinter Attal ist ein unspektakulärer, elfstöckiger Block. Im Erdgeschoss hat sich die US-Restaurantkette Dunkin’ Donuts eingemietet, im ersten Stock sind billige Kleidergeschäfte einquartiert: ein Ort von so beiläufiger Urbanität, dass man ihn kaum bemerkt. Doch für Attal ist dieser steinerne Quader mit dem Donut-Restaurant der wichtigste Ort in Beirut.
Hier fand Attal, der 2013 aus Syrien in den Libanon geflohen war, zahlreiche Freunde: Libanesinnen, Syrer, junge Leute, die nach der Uni oder der Arbeit hier ein paar Stunden abhängen, die keine Lust haben, nach Hause zu ihren Eltern zu gehen. Attal nennt Hamra seinen safe space.
In Hamra, sagt Attal, könne er so sein, wie er sei. Ein Gefühl, das viele junge Menschen beschreiben, wenn sie erzählen, was Hamra ihnen bedeutet: ein Zufluchtsort für jene, die nicht nach den meist noch immer konservativen Regeln ihrer Gemeinschaft leben wollen oder den engen Vorstellungen ihrer Familie nicht entsprechen.
Vermutlich deswegen fühlt sich die Krise gerade in Hamra so schmerzhaft an: weil damit einer der wenigen Orte verloren geht, an denen sich viele Menschen frei und sicher fühlten.
Zu Fuss zur Arbeit: Eine Stunde und zwanzig Minuten
Am anderen, dem östlichen Ende der Stadt tritt Nariman Hamdan jeden Morgen aus ihrer Wohnung, sie geht die Strasse runter zum Dekwaneh-Platz, dann weiter ins armenische Viertel Burj Hammoud, noch weiter ins luxuriöse Aschrafiyya, um von dort aus die Autobahn entlang Richtung Westen zu laufen, bis nach Hamra.
Es ist ihr Arbeitsweg. Früher fuhr sie die Strecke mit dem Auto, doch vor einem Jahr wurde das Benzin erst so knapp, dass die Fahrzeuge in langen Schlangen an den Tankstellen warteten, dann so teuer, dass sich kaum noch jemand einen vollen Tank leisten kann. Seither läuft Hamdan zur Arbeit, gut anderthalb Stunden, fast jeden Tag.
Hamdan ist in Hamra aufgewachsen. Hier hat sie von 1975 bis 1990 den Bürgerkrieg erlebt, und bis vor zwei Jahren lebte sie in einer Mietwohnung unweit der Hamra-Strasse. Umgerechnet 500 Dollar Miete bezahlte sie dafür. Doch nach Ausbruch der Krise verlangte der Besitzer plötzlich mehr als das Doppelte. Weil Hamdan sich das nicht leisten konnte, zog sie aus, in die Wohnung eines Freundes am anderen Ende der Stadt.
Nariman Hamdan ist 60 Jahre alt, die Haare trägt sie millimeterkurz. Sie sitzt in ihrem kleinen Laden, dem Ecosouk, hinter der Kasse, im Hintergrund singt leise die libanesische Ikone Fairouz. Hamdan lächelt fast immer beim Reden, selbst dann, wenn sie nichts Schönes erzählt: «Manchmal sage ich, es ist ein Wunder, dass wir noch leben. Wir kämpfen, um zu überleben.»
Das Geschäft hat sie mit ihrem Bruder vom Vater übernommen. Früher verkaufte Hamdan hier Kleider für Frauen und Kinder, ihr Bruder nebenan Anzüge für Männer. Doch Anfang 2019 hatte sie genug: Sie packte alle Kleider zusammen und gab sie in die Börse. Kurz darauf eröffnete sie zusammen mit der Umweltaktivistin Joslin Kehdy den Ecosouk – den ersten Zero-Waste-Laden in Beirut.
«Es ist immer mein Traum gewesen, einen Bauernmarkt inmitten der Stadt zu eröffnen», sagt Hamdan. Mit dem Ecosouk versuchen sie und Kehdy genau das: Sie verkaufen biologische Seife, Taschen aus recyceltem Müll, Gläser mit eingelegtem Gemüse, alles von lokalen Produzentinnen. Ihre Vision war ein Land, das sich selbst versorgt, statt fast alles zu importieren: Denn der Libanon sei so reich an Ressourcen, dass er alles biete, was die Menschen zum Leben bräuchten.
Wenn die Generator-Rechnung kommt, fliessen Tränen
Doch kurz darauf änderte sich alles. Am 17. Oktober 2019 brachen Massenproteste im ganzen Libanon aus, die über Monate andauerten. Es war eine Zeit der Hoffnung für viele, auch für Hamdan. Doch auf die Euphorie folgte die Krise: Die Banken beschränkten den Zugriff der Anleger auf ihre Konten massiv, sodass die Menschen von einem Tag auf den anderen faktisch ihre Ersparnisse verloren. Die Inflation stieg rasant, bis heute hat das libanesische Pfund fast 90 Prozent seines Werts verloren. Das bedeutet, dass die Löhne der Menschen kaum noch etwas wert sind.
Gleichzeitig wurde, gemessen am Einkommen, fast alles unwahrscheinlich teuer: Lebensmittel, Gas zum Kochen, Benzin für den Tank oder Diesel für den Stromgenerator. Denn der Libanon importiert einen Grossteil seiner Konsumgüter – und die müssen noch immer in Dollar bezahlt werden.
Die Krise machte plötzlich für alle deutlich, wofür Hamdan und Kehdy schon vorher ein Bewusstsein zu schaffen versuchten: wie verheerend die Abhängigkeit von Importen für den Libanon war. Doch wegen der Krise verloren die beiden fast alle ihre libanesischen Kunden – denn kaum jemand hat noch das Geld, um sich die lokalen und nachhaltigen Produkte zu leisten.
«Heute liegt ein durchschnittlicher Lohn bei 1’750’000 libanesischen Pfund», sagt Hamdan und tippt auf einem Taschenrechner rum. «Vorher waren das 1166 Dollar. Heute ist es noch immer so viel, geteilt durch 30’000 – das sind 58 Dollar. Kannst du dir das vorstellen? Jemand, der den ganzen Monat arbeitet, 30 Tage, verdient nur 58 Dollar. Wir haben viele Kunden verloren, weil dieses Geld kaum noch ihre Kinder ernährt.»
Den Ecosouk kann Hamdan nur weiterbetreiben, weil die Miete vor Jahren in libanesischen Pfund festgelegt und nie erhöht wurde. Damit hat sie Glück: Viele Hausbesitzer würden inzwischen 1000, 2000 Dollar pro Monat für die Ladenmiete verlangen, erzählt Hamdan. Ihr Nachbar etwa, ein Juwelier, habe deswegen schliessen müssen. «Niemand kann sich das leisten», sagt sie. «Deswegen haben so viele Läden zugemacht.»
Doch es ist nicht nur die Miete, die teuer geworden ist, es sind vor allem die Nebenkosten. Strom zum Beispiel: Die staatliche Versorgung ist beinahe vollständig zusammengebrochen, sie liefert gerade mal zwei Stunden Strom jeden Tag. Der Rest – wohlgemerkt mit mehreren Stunden Unterbruch jeden Tag – kommt von Generatoren. Die können, je nach Ampere-Stärke, mehr als 100 Dollar pro Monat kosten. «Gestern sah ich meine Nachbarin weinen, weil ihr der Generator-Betreiber sagte, sie müsse 1’750’000 Pfund für den Generator bezahlen», sagt Hamdan. Im Monat davor sei die Rechnung noch 1’200’000 Pfund gewesen.
Jeder, der arbeite, lege Geld auf die Seite, so Hamdan: «Das ist für den Generator, das ist für Essen.» Doch weil die Kosten immer weiter steigen, müssen sich immer mehr Menschen immer weiter einschränken. Manche lassen Mahlzeiten aus, andere warten länger, bis sie zum Arzt gehen, wenn sie krank werden. Doch wie weit kann man sich einschränken, wenn kaum noch etwas übrig bleibt? «Vielleicht kann ich ohne Strom leben», sagt Hamdan. «Aber ich kann nicht ohne Essen und Trinken leben.»
Wer keinen Zweitpass hat, sitzt im Land fest
Das Büro von Youssef Ali Eitani liegt in einer Seitenstrasse, im Erdgeschoss eines Wohnblocks. Davor stehen ein paar Plastikstühle, auf denen es sich ein paar ältere Männer bequem gemacht haben. Ein Papagei sitzt in einem grossen Käfig in der Ecke. Immer wieder kommen und gehen Leute, manche treten nur kurz ins Büro, um ein Papier stempeln zu lassen, andere setzen sich für eine Weile hin.
Youssef Ali Eitani ist der mukhtar in Hamra, so etwas wie der Quartiervorsteher, das Bindeglied zwischen den Bewohnerinnen und der übergeordneten Verwaltung. Zu ihm kommen die Menschen, wenn sie neu zugezogen sind, wenn sie ihr Neugeborenes anmelden wollen oder den aktuellen Auszug des Familienbuchs brauchen, um ein Visum zu beantragen.
An diesem Freitagnachmittag steht der Bruder des mukhtar hinter dem Tresen: der gleiche angegraute Dreitagebart, der gleiche bohrende Blick. Er ist kurz angebunden, als hätte er keine grosse Lust, von der Krise zu erzählen. Doch dann redet er sich trotzdem in Rage: «Fünfzig Prozent der Läden in Hamra haben geschlossen! Während des Bürgerkriegs ist der Strom sechs Stunden am Tag ausgefallen. Heute sind es achtzehn Stunden. Was soll ich dir noch über die Wirtschaftskrise erzählen? 20 Liter im Autotank kosten heute 600’000. Was soll ich dir noch erzählen? Ich habe 100 Leute, die jeden Tag vorbeikommen und um Brot bitten.»
Als hätten sie es abgesprochen, tritt kurz darauf eine ältere Frau in das Büro. Ob er noch Brot habe, fragt sie. «Was habe ich dir gesagt?», scheint Eitanis Blick zu sagen, bevor er der Frau eine Plastiktüte mit Fladenbrot über den Tresen reicht, das von Wohlhabenden gespendet wurde.
Seit 2004 ist Youssef Eitani der mukhtar von diesem Teil von Hamra. Gewählt wurde er, weil schon sein Vater bekannt dafür gewesen war, dass er hilft, wenn jemand im Viertel Hilfe braucht. Jetzt führt Youssef Eitani zusammen mit seinen sechs Brüdern das Büro. Dass sie den Menschen helfen, scheint weithin bekannt zu sein: Eine Frau ist an diesem Freitag extra aus Tariq El Jdideh, einem armen Viertel ein paar Kilometer südlich, nach Hamra gekommen. Sie komme öfters, sagt sie – immer dann, wenn sie und der mukhtar «Business» zusammen hätten.
Erst später, als sonst niemand zuhört, erzählt sie, sie hoffe, der mukhtar könne ihr helfen, Medikamente zu besorgen. Deshalb sitzt sie jetzt auf einem der Plastikstühle und wartet darauf, dass Youssef Eitani noch ins Büro kommt. Sie verzieht das Gesicht, sie habe Schmerzen im Bein, sagt sie. Eigentlich sollte sie gar nicht hier sein: Der Arzt hatte ihr Bettruhe verordnet. «Ich solle nicht laufen und nicht sitzen. Ob er mir auch das Essen verbieten wolle, habe ich ihn gefragt.» Trotzdem verliess sie ihr Haus, nahm zwei Busse, um nach Hamra zu kommen.
Doch Youssef Eitani kommt an diesem Tag nicht mehr ins Büro. Nach einer Stunde erhebt sie sich von ihrem Stuhl und geht langsam die Strasse hoch, um an der Ecke auf den Bus zu warten.
Während die humanitäre Arbeit einen immer grösseren Teil der Arbeit der Brüder in Anspruch nimmt, können sie ihren eigentlichen Job kaum noch ausführen. Immer wieder streiken bei verschiedenen Ministerien die Mitarbeiter, weil die Fahrtkosten zur Arbeit mittlerweile höher sind als ihr monatliches Gehalt. Doch mit dem Streik legen sie nicht nur ihre Behörde, sondern das ganze Land lahm: eine Heirat registrieren, ein Visum bei einer ausländischen Botschaft beantragen – all das ist im Moment nicht möglich. Somit sitzen auch alle im Land fest, die keinen Zweitpass haben – in einer Zeit, in der die grosse Mehrheit der Libanesinnen das Land verlassen will.
«Ich bin 58 Jahre alt», sagt der Bruder. «Aber so etwas wie heute habe ich noch nie erlebt.»
Kultur ist zum Luxus geworden
Vor 58 Jahren, in den Sechzigerjahren, war Hamra auf seinem Höhepunkt. Beirut war das Finanzzentrum der Region und Hamra das pulsierende Herz der Stadt – ein Magnet für Intellektuelle, politische Aktivistinnen und Künstler vom Jemen bis Somalia. «Republik Hamra» titelte 1973 das libanesische Magazin «Al-Ahad». Die Hamra-Strasse war legendär für ihr Nachtleben, die Theater, Konzerte und vor allem die Kinos.
Abboudi Bou Jaoude war da noch ein Teenager und lebte mit seinen Eltern im Osten von Beirut. Jedes Wochenende ging er mindestens zweimal nach Hamra, um ins Kino zu gehen. Filme waren seine Leidenschaft: Vor allem die Spaghettiwestern hatten es ihm angetan, Clint Eastwood war sein Idol, auch Steve McQueen. An der Hamra-Strasse gab es damals ein gutes Dutzend Kinos.
Jetzt sitzt Bou Jaoude im vollgestellten Verkaufsraum in einer Garage in Hamra. Vor ihm auf dem Tisch stapeln sich Bücher, die Wände sind voll mit Filmplakaten. Was mit 15 Jahren als Hobby begann, ist heute zum grössten Archiv von Filmplakaten des libanesischen Kinos angewachsen, 20’000 Plakate besitzt Bou Jaoude. Dass er heute Drucke dieser alten Filmplakate an ausländische Touristinnen verkaufen kann, hat ihm sein Einkommen zumindest zum Teil gerettet: Seinen Buchverlag musste er zumachen. «Es gibt keinen Markt mehr im Libanon», sagt er. «Niemand kann heute noch ein Buch für 10 Dollar kaufen.»
Bücher, Theater, Konzerte, Restaurantbesuche: All das, was Hamra ausmacht, ist zum Luxus geworden, den sich nur noch wenige leisten können. «Früher sind wir jeden Tag ins Café gegangen», sagt Bou Jaoude. «Aber wir können das nicht mehr machen.» Vielleicht ist auch deswegen die Krise in Hamra bedrückender als anderswo – weil mit den Café- und Theaterbesuchen die kleinen Inseln wegfallen, die die Menschen für kurze Zeit aus ihrem belastenden Alltag retten.
Dass Hamra seinen Charakter mit der Krise gänzlich verliert, glaubt Bou Jaoude dennoch nicht. Schon in der Folge des Bürgerkriegs sei das glamouröse Hamra der Sechzigerjahre verloren gegangen, sagt Bou Jaoude, die Kinos und viele Cafés machten zu. «Aber es kam anders wieder zurück.» «Metro Al Madina» zum Beispiel, das Kellertheater, in dem Mido Attal jeden Freitag feiern geht, wurde 2012 eröffnet mit der Idee, die alte Cabaretkultur der Sechziger wiederzubeleben.
«Einige Sachen werden vielleicht verschwinden», sagt Bou Jaoude. «Aber Hamra hat eine Seele, die bleibt.»
Zur Autorin und zur Fotografin
Meret Michel ist freie Journalistin und lebt in Beirut und Bern. Ihre letzte Beirut-Reportage für die Republik, «Das Haus am Krater», wurde mit dem Real21-Medienpreis ausgezeichnet.
Manu Ferneini ist im Libanon aufgewachsen, sie hat einen Abschluss in Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der University of Arts in London. Ferneini lebt in Beirut.