Das Haus am Krater
Dreimal wurde es zerbombt, dreimal wieder aufgebaut: Die Bewohnerinnen eines Hochhauses am Hafen von Beirut haben Krieg und Krisen getrotzt. Fast 50 Jahre lang. Doch nach der gewaltigen Explosion im August wissen sie nicht mehr weiter.
Eine Reportage von Meret Michel (Text) und Yasmina Hilal (Bilder), 15.10.2020
Am 4. August um 6 Uhr abends fällt der Strom aus. Jean Nassif steht auf seinem Balkon im 8. Stock und filmt mit seinem Handy den Rauch, der wenige hundert Meter entfernt über dem Hafen von Beirut aufsteigt. Seine Mutter, Dolly Hajj, ruft ihn nach drinnen. Wie jeden Tag in der kurzen Zeit, bevor der Generator anspringt, wollen die beiden die Klimaanlage abstellen und den Kühlschrank ausstecken. Dann hören sie ein Dröhnen, wie von einem Kampfflugzeug direkt über ihnen.
Dolly Hajj eilt zu ihrer Mutter, die im Bett liegt. Die 91-Jährige kann kaum mehr gehen, seit sie sich vor einem halben Jahr die Hüfte gebrochen hat. Die Tochter hebt sie hoch und trägt sie zur Tür. Falls dies ein Raketenangriff ist, müssen sie so schnell wie möglich ins Erdgeschoss.
Zur gleichen Zeit bleibt Vera El Naccour im Fahrstuhl zwischen dem 6. und dem 7. Stock stecken. Sie hat von einem Feuer gehört und will hoch zu ihrer Nachbarin Yara Slaiby, um zu sehen, was unten am Hafen los ist. In ihrer eigenen Wohnung im 2. Stock sieht sie nicht mehr als die Häuserwand gegenüber. Wer weiss, was geschehen wäre, hätte ihr Nachbar George Nehme aus dem Fünften nicht die Lifttür aufgeschlossen und ihr einen Stuhl runtergereicht, damit sie rausklettern kann. Gerade als sie in Yara Slaibys Wohnung ankommt, hört auch sie das Dröhnen. «Ins Entree!», ruft sie. Ein Befehl, den alle kennen: Bei Luftangriffen ist der Wohnungseingang der sicherste Ort.
Als 8 Minuten später am Hafen unten in einem Hangar 2750 Tonnen Ammoniumnitrat explodieren, sitzt Wisam Diab im Auto in einer Seitenstrasse. Er ist auf dem Weg zu seinen Eltern, die noch immer in der Wohnung im 3. Stock leben, in der Wisam aufgewachsen ist. Ein Glück, dass seine Klimaanlage nicht funktioniert und er deshalb mit offenen Fenstern fährt.
So fegt die Druckwelle über sein Auto hinweg. Während um ihn herum die Scheiben bersten.
Oben, im 8. Stock, werden Dolly Hajj, ihr Sohn Jean und ihre 91-jährige Mutter ins Treppenhaus geschleudert. Auf dem Dach birst der Wassertank, die Treppe verwandelt sich in einen reissenden Bach. Mutter und Sohn tragen die Grossmutter Stufe um Stufe hinab, in den 7. Stock, wo Vera El Naccour zusammen mit Yara Slaiby, deren Eltern und den zwei Kindern ihres Bruders hinter der blockierten Tür gefangen ist; weiter in den Sechsten, wo die Mutter von zwei Kindern blutüberströmt am Boden liegt; in den Fünften, wo sie George Nehme und seine Frau Jeanette antreffen, er am Kopf verletzt, sie mit gebrochenem Bein. Sie rufen nach dem Roten Kreuz, dem Zivilschutz, nach irgendjemandem, der helfen kann.
Von unten kommt ihnen Wisam Diab entgegen. Zusammen bringen sie die Grossmutter in die Wohnung seiner Eltern, räumen ein Sofa frei von Schutt und Glassplittern und betten sie darauf. Bis zu diesem Zeitpunkt wissen Jean Nassif und Dolly Hajj nicht, was passiert ist. Sie denken, das Haus sei bombardiert worden, wie sie es während fünfzehn Jahren Bürgerkrieg so oft erlebt haben. Jean will das Auto holen, um seine Mutter und die Grossmutter wegzufahren. «Vergiss es», sagt Wisam Diab, «unten sind keine Autos mehr.»
Die Explosion vom 4. August war anders als alles, was die Bewohnerinnen dieses Hauses, dieses Viertels, die Menschen in Beirut je erlebt haben. Sie kam aus dem Nichts. Ohne Warnung, ohne die Möglichkeit zu fliehen. In Sekunden raste die Druckwelle über die ganze Stadt, Fenster barsten, Wände, Mauern, ganze Häuser stürzten ein. Bis nach Zypern war die Detonation zu spüren. Über 190 Menschen starben, Tausende wurden verletzt. Und Hunderttausende obdachlos.
Wieder im Scherbenhaufen
Einen Monat später, Anfang September, sitzt Dolly Hajj in ihrem lichtdurchfluteten Wohnzimmer. Auf einer Kommode an der Wand stehen Marienbilder neben gerahmten Fotografien ihres Mannes, der vor 27 Jahren an Krebs starb. Die restlichen Familienfotos bewahrt sie im Schrank auf, nachdem das Glas der Rahmen bei der Explosion zu Bruch ging: Bilder von ihren Kindern, als sie klein waren, eine alte Fotografie ihrer Mutter Araxy, mit einer Zigarette in der Hand auf einem Stuhl posierend.
Drei Tage nach der Explosion waren sie zurückgekehrt, in ihr zerstörtes Haus. Sie räumten die Scherben zusammen und den Schutt weg. Erst ein paar Tage später werden in der Wohnung die Fenster wieder eingebaut, jetzt ist der Raum zum Balkon hin offen. Dahinter erstreckt sich im Panorama der Hafen: der zerstörte Getreidesilo, dem es die vordere Front der meterdicken Wände weggerissen hat und dessen Bilder um die Welt gingen. Die Haufen von Weizen, die noch immer darunter liegen, und Tonnen Metallschrott. «Unsere Aussicht war wunderschön», sagt Dolly Hajj, «doch jetzt ist alles zerstört.»
Sie lebt seit über 40 Jahren in diesem Haus im Viertel Karantina, das direkt neben dem Hafen liegt. Seinen Namen verdankt das Quartier der Quarantäne, die die Seefahrer hier im 19. Jahrhundert nach ihrer Ankunft in Beirut absitzen mussten, damals, als die Stadt sich als wichtigstes Handelszentrum im östlichen Mittelmeer etablierte. Danach war Karantina immer wieder Anlaufpunkt für jene, die in der Region auf der Flucht waren: Anfang des 20. Jahrhunderts liessen sich hier Armenier nieder, die der Genozid in der Türkei vertrieben hatte. Nach der Staatsgründung Israels entstand hier ein palästinensisches Flüchtlingslager, wo christliche Milizen 1976 ein Massaker verübten und gegen 1500 Menschen töteten. Nach dem Sturz Saddam Husseins kamen irakische Flüchtlinge hier an, seit 2011 Syrerinnen, die vor dem Krieg in ihrer Heimat nach Beirut flohen.
Bis heute ist Karantina eines der ärmsten Viertel der Stadt. Es liegt abgeschnitten zwischen der Autobahn und der Küste, die Häuser stehen zwischen Industrieanlagen, riesigen Warenhäusern und ein paar Clubs, die sich in den letzten Jahren ansiedelten. Hier liegen das grösste Schlachthaus des Landes, das 2014 wegen horrender Hygieneprobleme schliessen musste, sowie eine Mülldeponie.
Eine verschworene Hausgemeinschaft
Der Block, in dem Dolly Hajj und die anderen wohnen, hat, wie so viele hier, einen Namen: Das Torossianhaus wurde Ende der Sechzigerjahre gebaut, in einer Seitenstrasse, die zur kleinen Quartierkirche führt. Als Dolly Hajj 1977 einzog, war sie gerade frisch verheiratet, wie alle, die in jener Zeit in die neuen Wohnungen zogen: Vera und Elias im Zweiten, George und Jeanette im Fünften, Gitta und Joseph im Siebten. Damals war das Torossianhaus das einzige höhere Gebäude im Viertel: acht Stockwerke, siebzehn Wohnungen, ein einfacher, aber damals moderner Betonblock; sogar mit Fahrstuhl.
Hier zogen sie ihre Kinder gross, bis diese selbst heirateten und Familien gründeten. Heute sind sie in ihren Sechzigern und Siebzigern und leben noch immer in diesem Haus. Sie sind, so sagen es viele hier, mehr als nur Nachbarn: Sie sind eine Familie. So öffnen etwa Jeanette und ihre Nachbarin Fadia Fadel im Fünften jeden Tag ihre Wohnungstüren und setzen sich zusammen, jede in ihrem Eingang. Fadia raucht eine Wasserpfeife, Jeanette trinkt Kaffee. Fadia trifft man auch bei Vera unten im Zweiten, oder sie setzen sich zusammen bei Charlotte in den Ersten.
Sie sind die Kriegsgeneration: 1975, das Jahr, in dem die Ersten von ihnen einzogen, war auch das Jahr, in dem der Libanesische Bürgerkrieg begann, der die nächsten fünfzehn Jahre andauern sollte. Wenn ihr Haus bombardiert wurde, trafen sie sich unten im Erdgeschoss oder im 1. Stock, dort, wo das Gebäude am meisten Schutz bot. Manchmal, wenn sie in der Nacht mit einem Angriff rechneten, öffneten sie die Wohnungstüren und schliefen halb im Eingang, halb im Treppenhaus, die Nachbarn gegenüber. Es gab nur ein einziges Radio im ganzen Haus, um das sie sich jeweils versammelten, um die Nachrichten zu hören.
Das Torossianhaus wurde häufig beschossen. Denn das Hauptquartier der christlichen Miliz Forces Libanaises befand sich nur wenige hundert Meter dahinter, und weil es das einzige Hochhaus im Viertel war, diente es etwa der syrischen Armee als Orientierungspunkt für ihre Angriffe. Doch damals wussten die Menschen zumindest mit der Gefahr umzugehen: Sie wussten, welches die sichersten Ecken im Haus sind, und im Auto hatten sie immer Windeln, Fiebermesser und Essen für die Kinder gepackt bereit, für den Fall, dass sie plötzlich aus dem Viertel fliehen mussten.
Drei Mal wurde die Wohnung von Dolly Hajj und ihrem Mann bei Angriffen komplett zerstört, drei Mal bauten sie sie wieder auf. «Damals waren wir jung, wir haben das ausgehalten», sagt Dolly Hajj. «Wir liebten unser Land und Beirut. Jetzt aber haben wir angefangen, das Leben hier zu hassen.»
Die endgültige Krise
Die Explosion vom 4. August hat geschafft, was der Krieg nicht vermochte: Sie hat die Menschen gebrochen. Wenn Dolly Hajj erzählt, wie sie ihre Mutter die Treppe runtergetragen haben, kommen ihr die Tränen. «Wenn ich daran denke, bekomme ich Angst», sagt sie. «Was bleibt noch von unserem Leben? Alle fünf, zehn Jahre passiert eine Katastrophe. Aber dieses Mal halte ich es nicht mehr aus.»
Beirut, sagt sie, das Beirut, das sie gekannt hätten, sei zerstört. Man sieht es von ihrem Fenster aus: Den Hochhäusern fehlen die Fenster, bei manchen hat es Teile der Fassade weggerissen, wie Skelette stehen sie da. Karantina ist wegen seiner Nähe zum Hafen eines der am schwersten betroffenen Gebiete; doch auch die Stadtviertel Mar Mikhael und Gemmayzeh gleich dahinter wurden stark beschädigt. Zwischen den beiden Quartieren verläuft die Armenienstrasse, normalerweise eine der wichtigsten Ausgehmeilen der Stadt: Restaurants, Galerien, Bars, die ihre Tische und Stühle auf die Gehsteige gestellt haben. Am Wochenende stauen sich hier die Autos, und zwischen den vielen Menschen ist kaum ein Durchkommen.
Jetzt aber sind die Strassen abends ausgestorben und dunkel.
Derweil kreisen die Gespräche in den Wohnungen immer wieder um die Krise: Wie viel der Dollar gerade kostet, wer im Moment der Explosion wo war, wer von den Freunden das Land bereits verlassen hat. Die Explosion war ein Schock, eine Katastrophe. Nur, das wissen die Menschen: Der Tiefpunkt ist damit noch lange nicht erreicht.
Vera El Naccour ist müde. Ihr Mann starb 1980, er kämpfte für die Forces Libanaises. Sein Bild hängt noch immer im Wohnzimmer über dem Sofa in der düsteren Wohnung im zweiten Stock. Vera El Naccour ist es wichtig zu sagen, dass sie ihm auch nach dem Tod treu geblieben ist, dass sie nicht wieder geheiratet hat. Stattdessen hat sie ihre vier Kinder allein grossgezogen, indem sie unten am Hafen einen Stand eröffnete und Sandwiches verkaufte. So schwierig das war – es sei einfacher gewesen als heute, sagt sie. «Früher gab es Geld, und es gab Arbeit», sagt sie. Heute gibt es weder das eine noch das andere.
Als das System zu bröckeln begann
Der Libanesische Bürgerkrieg endete 1989 mit dem Abkommen von Taif. Dieses garantierte allen Amnestie, die am Krieg beteiligt waren – aus den früheren Milizenführern wurden Minister und Parlamentsabgeordnete. Sie regieren das Land bis heute.
Als die Waffen verstummten, versuchte die Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Rafik Hariri den Libanon wieder zu dem Finanz- und Handelszentrum zu machen, das er vor dem Krieg gewesen war. Dafür wurde das libanesische Pfund mit einem fixen Wechselkurs an den Dollar gekoppelt. Dies vereinfachte es zwar, all die unzähligen Dinge zu importieren, die für den Wiederaufbau gebraucht wurden. Gleichzeitig war der Libanon auf einen konstanten Dollarfluss ins Land angewiesen, um den Wert des libanesischen Pfunds zu garantieren und die Kopplung aufrechtzuerhalten. Also vergaben die Banken horrende Zinsen auf Dollarkonten – und schufen eine Blase, die früher oder später platzen musste.
Das System begann zu zerfallen, als im Nachbarland Syrien 2011 der Krieg ausbrach. Der Dollarfluss stagnierte, die ohnehin schon hohen Staatsschulden stiegen weiter an, und die einzigen lukrativen Sektoren – der Tourismus und die Baubranche – brachen ein. Anfang 2019 stufte die Ratingagentur Moody’s den Libanon herab, und das jährliche Wirtschaftswachstum, das selbst während der Finanzkrise noch bei knapp 10 Prozent lag, schrumpfte auf 0,2 Prozent.
Als im Oktober vor einem Jahr Massenproteste im ganzen Land ausbrachen, schlossen erst die Banken, um dann mit strikten Kapitalkontrollen wieder zu öffnen. Seither haben die Menschen keinen Zugang mehr zu ihrem Ersparten, und die libanesische Währung ist im freien Fall.
Die Preise für manche Grundnahrungsmittel haben sich verdreifacht.
Früher kochte Vera El Naccour mit einem halben Kilo Fleisch ein Gericht. Jetzt verteilt sie dieselbe Menge auf vier Mahlzeiten. Weil das Geld nicht mehr für eine ausgewogene Ernährung reicht, hat der Arzt ihr Tabletten für ihren Enkel gegeben. In der Nacht schläft sie kaum noch, stattdessen grübelt sie, was sie tun kann. «Wir haben gut gelebt, aber jetzt haben sie uns in den Hunger getrieben», sagt sie. «Und der Hunger ist schwieriger als der Krieg.»
Während sie erzählt, raucht Vera El Naccour eine Zigarette nach der anderen. Sie habe während des Kriegs angefangen, seit der Explosion raucht sie wieder Kette. Vera ist 74, doch sie wirkt nicht gebrechlich, im Gegenteil. Jedes Mal steht sie auf und geht zügig zur Tür, wenn jemand vorbeikommt. Und das geschieht im Moment sehr häufig. Meistens sind es freiwillige Helfer, die die Häuser in diesem Teil des Viertels wieder aufbauen.
Unten auf der Strasse vor ihrem Balkon wird gebohrt, gehämmert, geschweisst. Ein Metallgerüst und ein grünes Netz verdecken die Sicht auf die Balkone, davor hängt die Nationalflagge. Über dreihundert Wohnungen bauen die freiwilligen Helferinnen der Organisation Offre Joie in Karantina wieder auf.
Nach der Explosion gab es eine riesige Solidaritätswelle: Aus allen möglichen Ländern spendeten Privatpersonen über Crowdfundings für einzelne Geschäfte, für lokale und internationale Hilfsorganisationen, für das Rote Kreuz. Ausländische Regierungen schickten Hilfspakete und Zuschüsse für den Wiederaufbau. Denn jene, die von der Explosion betroffen sind, die ihr Haus, ihr Auto oder ihr Geschäft verloren haben, haben kaum mehr die Mittel, die Reparaturen selbst zu bezahlen.
Auf Hilfe vom Staat wartet hier niemand
Unten läuft Wisam Diab durch die Menge von Menschen, er grüsst hier, beantwortet dort eine Frage. «Abdullah, wenn er kommt, sag ihm, dass ich ihm den Projektor unten hingestellt habe», sagt er zu einem Mann, «Bonjour, wie geht es dir?», grüsst er eine Frau. Im Minutentakt klingelt sein Telefon.
Nach der Explosion hatte sich Wisam Diab zuerst vergewissert, dass es seinen Eltern gut geht, dann fing er an zu helfen. Er und ein paar seiner früheren Nachbarn brachten die Verletzten raus aus ihren Häusern, raus aus dem Viertel. Gut drei Stunden nach der Explosion war Karantina komplett leer. Die Helferinnen blockierten alle Strassen mit Autos, um zu verhindern, dass jemand in die offenen Häuser gelangt. «Wie es unsere Eltern während des Kriegs gemacht haben. Nur dass sie Container brauchten statt Autos», sagt Wisam Diab. Seither, so scheint es, ist er keine Minute mehr still gestanden. Jeden Tag ist er unten und koordiniert zwischen den paar hundert Freiwilligen und den Bewohnerinnen von Karantina.
Er ist ein Sohn des Viertels, wie sie hier sagen. Als Jugendlicher half er im Geschäft seines Vaters, er reparierte Fernseher und baute Radios in Autos ein, bis Ende der Achtzigerjahre die neuen Fernseher so billig waren, dass niemand mehr die alten reparieren liess. In den Neunzigerjahren fing Wisam Diab bei Dunkin’ Donuts als Angestellter an und arbeitete sich hoch bis zum Regionalleiter. Zuletzt arbeitete er als Manager bei einer Firma, die für den Unterhalt von Gebäuden die Buchhaltung machte. Doch dann kam die Krise, immer mehr Projekte brachen weg. Seit einem halben Jahr ist er arbeitslos.
Wisam Diab ist das Herz und der Kopf der Wiederaufbaubemühungen in Karantina. Nicht nur hier, in allen betroffenen Gebieten der Stadt sind es freiwillige Helfer, lokale und internationale Hilfsorganisationen, die neue Fenster einsetzen, Türen reparieren, Wände spachteln. Vom Staat haben die Bewohner hier keine Hilfe gesehen.
Nur die Armee kam einmal vorbei, um den Schaden zu protokollieren.
Überrascht ist davon niemand. Was soll man von einem Staat schon erwarten, der es zuliess, dass Tausende Tonnen hochexplosives Material über sechs Jahre am Hafen gelagert wurden, mitten in der Stadt? Während private Initiativen die Stadt wieder aufbauen, ist die politische Klasse gerade wieder daran gescheitert, ein neues Kabinett zu formen. Der Premierminister Hassan Diab, der selbst erst wenige Monate im Amt war, hat eine Woche nach der Explosion den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein designierter Nachfolger Mustapha Adib hat nach nur einem Monat ebenfalls hingeschmissen – weil es den Parteien nicht gelungen ist, sich auf die Verteilung der Ministerien zu einigen.
Die Nerven liegen blank
Ein Helikopter fliegt vom Hafen in Richtung Stadt. Yara Slaiby zuckt zusammen, schaut zum Fenster, wendet sich ab, dann fliegt wieder einer in die andere Richtung. «Ça suffit!», sagt sie laut. «Schreib das: Es reicht! Khalas, khalas, khalas!» Wieder ein Helikopter. Yara Slaiby steht auf, geht langsam Richtung Balkon, setzt einen Fuss in den Türrahmen und streckt den Kopf nach draussen. Dann kommt sie wieder rein. «Können wir uns kurz in den Flur zum Fernseher setzen?», sagt sie. Weiter ins Innere der Wohnung, so weit weg wie möglich vom Fenster, von den Helikoptern draussen und von der drohenden Gefahr, die sie noch immer damit verbindet.
Yara Slaiby kämpft noch immer mit ihrem Trauma nach der Katastrophe vom 4. August. Sie kann kaum arbeiten, vor einigen Tagen hat sie ihren Chef angeschrien. «Ich war früher nie so», sagt sie. Die Mittvierzigerin hat Buchhaltung studiert und arbeitet als Assistenzmanagerin bei einer Importfirma. Man merkt ihrer Stimme an, dass sie eigentlich ein Mensch voller Energie ist. «Ich habe immer gerne gearbeitet, meistens bin ich die Letzte, die das Büro verlässt.» Doch sie hat keine Kraft mehr: keine Kraft für die Arbeit, um Bücher zu lesen, um die Kinder ihres Bruders zu unterrichten. «Wir hatten ein gutes Leben. Wir waren die Mittelklasse, ich selbst habe jeden Sommer ein Ferienhaus am Meer gemietet», sagt sie. «Jetzt gehe ich kaum noch zum Friseur. Das Geld muss für das Essen und die Medikamente meiner Eltern reichen.»
Einen Monat nach der Explosion, am 10. September, brach am Hafen unten erneut ein Feuer aus. Eine riesige, schwarze Rauchsäule stieg in den Himmel und zog über Beirut, Löschhelikopter kreisten während Stunden über dem Hafen. Die Bewohnerinnen des Torossianhauses flohen aus ihren Wohnungen in den Garten neben der Kirche. Hier, so dachten sie, im Freien und genug weit weg von den Gebäuden rundherum, seien sie am sichersten. Dann verliessen die meisten von ihnen das Quartier, am späteren Nachmittag war Karantina völlig ausgestorben.
Dolly Hajj, ihr Sohn und ihre Mutter blieben zu Hause. «Wir sind schon einmal geflohen. Ich wollte nicht mehr gehen», sagt Dolly Hajj. «Falls wir sterben, dann nicht im Treppenhaus. Sondern hier in der Wohnung.»