Ein grossartiges Projekt wird zum antisemitischen Desaster
Die Documenta fifteen zieht wegen israelfeindlicher Teilnehmer schon lange Kritik auf sich – und muss nun gar ein Bild abhängen. Wie konnte die wichtigste deutsche Ausstellung für Gegenwartskunst in diese Situation geraten?
Von Antje Stahl, 23.06.2022
Vor gut einer Woche, während der Eröffnung für die Presse, dürfte es tatsächlich niemandem besonders schwergefallen sein, diese Documenta auf Anhieb in sein Herz zu schliessen.
Seit ein paar Tagen jedoch macht die prestigeträchtige, nur alle fünf Jahre stattfindende Grossausstellung in Kassel nur noch massive Negativschlagzeilen: «Antisemitisches Bild wird entfernt», informierten Nachrichtenagenturen am Montag. Am Mittwochabend teilte das Bundeskanzleramt mit, der geplante Besuch von Olaf Scholz werde nicht stattfinden.
Wie konnte die wichtigste deutsche Ausstellung für Gegenwartskunst in diese Situation geraten? Was wird in Kassel überhaupt gezeigt? Man muss, um die ganze Bandbreite der Debatte und erst recht die Demontage eines Kunstwerks zu verstehen, etwas weiter ausholen.
Vor gut einer Woche, während der Eröffnung für die Presse, lagen im Kasseler Fridericianum doch einfach nur Tannenzapfen, Holzeier, Federbälle und Blechdosen für Kinder im Säuglingsalter bereit. An Kochlöffel und Rasseln für das obligatorische Krachmachen hatten sie hier im linken Flügel dieses doch recht herrschaftlichen Museums – das nach einer etablierten Tradition immerhin als diskursives Megabrain der künstlerischen Leitung bezeichnet wird – auch gedacht.
Wer möchte, kann sein Kind sogar auf einem Wickeltisch von seiner stinkenden Windel befreien und im Anschluss in eine Sandkiste oder Hängematte setzen. Für den etwas älteren Nachwuchs gibt es Pinsel, Farben und allerlei Bastelzeug. Und in einem abgedunkelten Raum laufen dann auch noch Animationsfilme, in den Hauptrollen: Kuscheltiere.
Grenzenlose Zuneigung
Wie in jedem guten Märchen ist die Moral so manch einer dieser Kuscheltiergeschichten äusserst grausam. Eine Eisbärendame etwa, gestrickt aus schneeweisser Wolle, wird gemeinsam mit ihrem Eisbärenjungen aus der Arktis vertrieben, die Gletscher brechen in sich zusammen und schmelzen. In dem fremden Land, das sie nach langer Reise auf einer einsamen Scholle erreichen, glauben sie sich endlich wieder sicher – bis sie beim Versuch, eine rote Beere zu naschen, von den einheimischen Braunbären verfolgt und auf einem Boot zurück aufs Meer gescheucht werden.
«Abschiebung von Geflüchteten» heisst so etwas in Kassel, Deutschland, dem Austragungsort der Documenta. Hierzulande würde man von «Ausschaffung» sprechen. All das wusste der Erwachsene jedenfalls zu übersetzen: Sein politisches Bewusstsein soll in diesem Bereich namens Rurukids durch grenzenlose Zuneigung geweckt werden.
Das hätte vor der Eröffnung dieser Grossausstellung namens Documenta fifteen kaum jemand für möglich gehalten.
Schon die Vorbereitungsphase der nur alle fünf Jahre stattfindenden Megaveranstaltung war ja von einem politischen Fiasko nach dem anderen begleitet. Die Republik hat versucht, einigermassen Schritt zu halten mit den Debatten, die seit über einem Jahr über die Documenta geführt werden.
Über das NS-Erbe der Documenta
Alles begann mit einer Schau im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin, die über die belastete Geschichte aufklärte. War die Documenta im Jahre 1955 doch ins Leben gerufen worden, um die junge Bundesrepublik mit der von den Nationalsozialisten diffamierten Moderne zu versöhnen und einen kulturellen Anschluss an Länder zu finden, denen Deutschland soeben noch den Zweiten Weltkrieg erklärt hatte. Und dann stellte sich im DHM heraus, dass einer der berühmten Herren des Documenta-Gründungskomitees NSDAP- und SA-Mitglied gewesen war und in Italien Partisanen gejagt und gefoltert hatte. Die Documenta und die Kunst waren also instrumentalisiert worden, um Nazibiografien reinzuwaschen.
Nun war nicht jede von dieser Recherche besonders schockiert. In den 1950er-Jahren habe es ohnehin so gut wie keinen Amtsträger gegeben, der nichts mit den Verbrechen der Nationalsozialisten zu tun hatte – hörte man von Kunsthistorikern, die in den späten 1960er-Jahren gegen das Vergessen der Shoa gekämpft hatten. Künstlerinnen aber, die diese Ausstellungsplattform in Kassel nach wie vor als Sehnsuchtsort verstanden und doch irgendwie an den Mythos glaubten, dort werde auf quasi «neutralem Gebiet kulturell die restliche Welt verhandelt», waren erschüttert.
Hito Steyerl, von der das Zitat oben stammt, veröffentlichte Anfang Juni eine Stellungnahme, in der sie die Ausstellung im Deutschen Historischen Museum über die NS-Vergangenheit der Documenta als «Zeitenwende» bezeichnet:
Vielleicht konnten Kurator:innenteams vorher in Anspruch nehmen, sich nicht mit der Vergangenheit der documenta auseinandersetzen zu müssen: Ihre Aufgabe ist schliesslich die Definition von Gegenwartskunst, nicht die Geschichtswissenschaft. (…) Wenn (die Ausstellung) weiterhin Relevanz haben will, wäre sie gut beraten, den naiven Anspruch auf Weltgeltung durch das Prisma ihrer eigenen Geschichte neu zu bewerten. Dazu bräuchte es jedoch ein Team, das überhaupt in der Lage wäre oder Interesse daran hat, diese Herausforderung anzunehmen.
Rechtsradikalismus in Deutschland
Hito Steyerl, geboren 1966 in München – das muss man wissen –, geniesst international den Ruf, so etwas wie das moralische Rückgrat des Kunstbetriebs zu sein. Sie durchschaut Überwachungstechnologien ebenso wie Sponsoren, die den Kunstbetrieb nutzen, um in der Gesellschaft besonders gut dazustehen, obwohl sie ihr Geld etwa damit verdienen, «süchtig machende Schmerzmittel» zu verkaufen, die andere das Leben kosten. In ihrem zitierten Text spricht sie deshalb nicht nur über die braune Geschichte der Documenta. Steyerl weist auch auf Rechtsradikale hin, die im Deutschland der Gegenwart Mordanschläge verüben.
Sie erinnert an das Attentat auf die jüdische Gemeinde in Halle im Jahr 2019, dem auch ein 20-Jähriger zum Opfer fiel, der sich in einem Dönerladen aufhielt. Und fragt sich, ob der Mord an Halit Yozgat in Kassel, den der selbst ernannte Nationalsozialistische Untergrund NSU 2006 beging, nicht hätte verhindert werden können, wenn es in Deutschland – auch im Rahmen der in Kassel beheimateten Documenta – den Willen gegeben hätte, sich «mit der realen Situation deutscher Minderheiten» entschlossener auseinanderzusetzen.
Kurzum, Hito Steyerl kritisierte, wie ignorant Documenta-Kuratoren gegenüber den lokalen Verhältnissen gewesen seien, während sie nicht selten Kolonial- und Gewaltherrschaften aus anderen Ländern problematisierten – Postkolonialismus hiess der alles prägende Begriff früher, heute spricht man eher von Dekolonialisierung, um die kritische Denk- und Protestbewegung herauszuheben, die dem Status quo ausbeuterischer Machtverhältnisse entgegenwirkt.
Steyerl wandte sich mit ihrem Text zur Documenta also an frühere künstlerische Leiterinnen, und – und das ist das Aussergewöhnliche an diesem Statement – sie hinterfragte, ob das aktuelle Leitungsteam, das Kuratorenkollektiv Ruangrupa, überhaupt ein Problembewusstsein für den rechten Terror habe, der sich sowohl gegen Muslime und Schwarze als auch gegen Jüdinnen richtet.
«Lumbung» – das Konzept der Documenta
Ruangrupa kommt aus Jakarta, Indonesien, und war vor drei Jahren angetreten, die Documenta zu bespielen. Bald hatten sich die Mitglieder auf ein schönes Konzept namens «Lumbung» geeinigt, das nach dem Ideal einer «gemeinschaftlich genutzten Reisscheune» ausgerichtet wurde, «in der die überschüssige Ernte zum Wohle der Gemeinschaft gelagert wird». Ruangrupa wollte das Budget, immerhin über 40 Millionen Euro, einer möglichst grossen Zahl an Künstlerinnen zur Verfügung stellen. Bald luden sie denn auch andere Kollektive ein, damit diese dann ihrerseits darüber entschieden, was im Museum Fridericianum, in der Documenta-Halle und an vielen, vielen weiteren Orten in Kassel ausgestellt würde.
Neben bekannten Künstlern wie Richard Bell aus Australien, der einer Generation von Aborigines-Aktivisten angehört und sich für ihre land rights einsetzt, tauchten da Filmstätten und Kunstprogramme aus Uganda, Kenia, Mali, Haiti, Havanna oder Indonesien auf. Medien berichteten über den sogenannten Globalen Süden. Ein Kollektiv erregte leider besondere Aufmerksamkeit: Anfang des Jahres verbreiteten sich Vorwürfe, The Question of Funding aus Palästina und sein Mitglied Yazan Khalili unterstützten die Boykottbewegung BDS gegen Israel, könnten antisemitisch sein und stellten das Existenzrecht Israels infrage.
Was hat so eine Künstlergruppe auf einer Kunstausstellung in Deutschland verloren? Schon lange vor der Eröffnung schien es plötzlich niemanden mehr zu geben, der sich nicht darüber stritt.
Eröffnungsrede des Bundespräsidenten
Es würde an dieser Stelle leider zu weit führen, die einzelnen Eskalationsstufen dieser Debatte en détail noch einmal aufzuzählen. Eingriffe in Interviews mit Ruangrupa vonseiten der Documenta, der Zentralrat der Juden, abgesagte Diskussionsveranstaltungen und Zeitungsartikel über die Kunst- und Meinungsfreiheit aus unterschiedlichen Medienhäusern mit ihren jeweiligen politischen Stossrichtungen spielten jedenfalls ihre tragischen Rollen.
In den Ausstellungsräumen, die The Question of Funding zugewiesen waren, eine ehemalige Weinhandlung unweit des Hauptbahnhofs, die die Kasseler als Club nutzen, wurden kurz vor der Eröffnung die Wände mit den Schriftzügen «187» und «Peralta» beschmiert, die als Morddrohungen von Neonazis interpretiert wurden.
Ruangrupa warf «grossen deutschen Zeitungen» deshalb vor, eine «rassistische Verleumdungskampagne» gegen sie und die Teilnehmerinnen der Documenta zu führen. Im Kern ging es immer wieder um dasselbe: BDS sei nicht antisemitisch, argumentierten sie, ein Boykott sei eine freie Meinungsäusserung, die durch das deutsche Grundgesetz geschützt werde.
In Deutschland gibt es Bestrebungen, Juden und Muslime gegeneinander aufzuhetzen. Das wird seit Jahren auch als Abart rechter Politik identifiziert, die sich Islamophobie und Fremdenhass auf ihre Fahnen geschrieben hat. Im Rahmen eines kulturellen Grossereignisses, das von öffentlichen Steuergeldern mitfinanziert wird, ging der neuen deutschen Regierung diese Israel-Debatte deshalb entschieden zu weit. Am vergangenen Samstag eröffnete der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Documenta jedenfalls mit einer Rede, die es in sich hatte.
Er habe gezögert, sagte er am Vormittag in der Documenta-Halle (die neben dem Fridericianum traditionell ein weiterer sehr wichtiger Austragungsort ist), die Ausstellung in Kassel überhaupt aufzusuchen. Die Geschäftsführung und die Gesellschafter der Documenta seien ihrer Vermittleraufgabe nicht gewachsen gewesen und hätten ihre Verantwortung einfach outgesourct – keine Strukturen geschaffen für ein öffentliches und differenziertes Gespräch. Deshalb holte der Bundespräsident selbst aus und verwies auf die Grenzen der Kunstfreiheit.
Wir «müssen stärker hinschauen, auch hinhören, bei den Fragen, die im Globalen Süden die Menschen bewegen: Die lange Kolonialgeschichte mit Gewaltherrschaft und Ausbeutung und die zahllosen blinden Flecken ihrer Aufarbeitung. (…) Der Umgang mit geraubtem Kulturgut. Aber auch die heute schon spürbaren, dramatischen Folgen des Klimawandels», räumte Steinmeier ein.
Es falle jedoch auf, wenn «auf dieser bedeutenden Ausstellung zeitgenössischer Kunst wohl keine jüdischen Künstlerinnen oder Künstler aus Israel vertreten sind». Und es verstöre ihn, «wenn weltweit neuerdings häufiger Vertreter des Globalen Südens sich weigern, an Veranstaltungen (…) teilzunehmen, an denen jüdische Israelis teilnehmen». Gemeint war damit die BDS-Kampagne, also jener Boykott, der weltweit dazu führt, dass Israel auf wirtschaftlicher, politischer und kultureller Ebene ausgegrenzt wird, und den einige der Teilnehmer der Documenta unterstützen.
Steinmeier stellte in aller Deutlichkeit klar: Ein systematischer Boykott sei von Judenfeindschaft nicht zu trennen. Und: «Niemand, der in Deutschland als Debattenteilnehmer ernst genommen werden will, kann zu Israel sprechen, aber zu sechs Millionen ermordeten Juden schweigen.»
Und was sagt die Kunst?
Dass es überhaupt so weit kommen musste, war natürlich ein Trauerspiel, um nicht zu sagen ein Skandal. Darf man ihn der Geschäftsführung der Documenta anlasten – wie das Steinmeier vorschlug? Mit der Ausstellung des Deutschen Historischen Museums im Rücken hätte sich die Documenta – im Sinne Hito Steyerls – geschichtsbewusst in der politischen Gegenwart positionieren müssen, ob mit einer Podiumsveranstaltung oder einer angemessenen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, sei dahingestellt. Das hat sie nicht hingekriegt. Nun wird die Entlassung von Generaldirektorin Sabine Schormann gefordert.
Aber was bedeutet dies alles für die Ausstellung, die konkreten Kunstwerke, die für die Presse immerhin seit über einer Woche in der ganzen Stadt zu besichtigen waren?
Verlassen wir die Rurukids und gehen wir in die Documenta-Halle, jenen Auftrittsort des deutschen Bundespräsidenten. Frank-Walter Steinmeier wurde für seine Rede vor eine grosse Wand gestellt, über seinem Kopf waren lange giraffenartige Beine zu sehen, die in schwarzen, man möchte fast sagen: Springerstiefeln stecken. Dem Ausstellungsguide zufolge wurde diese Wandmalerei im Umfeld des Instituts für Kunstaktivismus aus Kuba initiiert, das sich Hannah Arendt nennt. Und bei Hannah Arendt handelt es sich nun ausgerechnet um eine der wichtigsten Denkerinnen jüdischer Herkunft des 20. Jahrhunderts.
Hinter den Giraffenmenschenbeinen in Stiefeln, vor denen Steinmeier am vergangenen Samstag stand, hält sich in diesen Tagen denn auch die Künstlerin Tania Bruguera auf, die das Instituto de Artivismo Hannah Arendt im Jahr 2015 gründete. Damals wurden 100 Stunden aus Arendts Hauptwerk «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft» vorgelesen, in dem die Philosophin den Nationalsozialismus und den Stalinismus analysiert. Bruguera wurde 1968 geboren und mehrfach für ihren Kampf gegen die Zensur auf Kuba inhaftiert. Mit der Arendt-Lesung war ein Protest der Zivilbevölkerung zu einem Höhepunkt gekommen, es ging um die Wiederaufnahme der Beziehungen zu den USA und das Recht auf Informationen. Meinungs- und auch Kunstfreiheit also.
Gegen Zensur
Gemeinsam mit vielen anderen Aktivistinnen dokumentiert Bruguera in den Räumen der Documenta-Halle Proteste und Ausstellungen, die in Havanna von der kubanischen Regierung schon früher, seit den 1960er Jahren, verboten worden waren. Künstler reagierten über die Jahre mit Shows in ihren eigenen Häusern. Im Rahmen einer solchen Privatgalerie wurden auch die Machtträger des Kunstbetriebs, sozialistische Funktionäre in Ämtern und Kuratoren in Institutionen angegriffen, die im Sinne des kubanischen Staates handelten: Ihre Namen wurden gesammelt sowie die der Künstlerinnen, die zensiert wurden. «Curadores, Go Home» – «Kuratorinnen, geht nach Hause» hiess die Aktion.
Nun verwandelt ein Institut aus Kuba, das sich Hannah Arendt nennt, die diesjährige Documenta nicht in eine israelfreundliche Veranstaltung. Der Schwerpunkt des Beitrags – die systematische Unterdrückung demokratischer Befreiungsbewegungen durch staatliche Obrigkeiten – hat in Deutschland jedoch ebenfalls eine lange DDR-Geschichte. Die Rede des Bundespräsidenten wirkt auch deshalb unvollständig.
Viele der Mitglieder von Ruangrupa wuchsen in der sogenannten «Neuen Ordnung» des Suharto-Regimes in Jakarta auf. Massaker und Überwachung gehörten über drei Jahrzehnte zum Alltag in Indonesien, Vorbehalte gegenüber staatlichen Akteuren und Institutionen darf man ihnen und vielen anderen Teilnehmerinnen deshalb wenigstens unterstellen.
Im Vorfeld sprach Ruangrupa auch immer wieder über unabhängige Wirtschaftskreisläufe, Tauschökonomien und Förderungsmöglichkeiten, auf die Künstler angewiesen seien, die nicht gerade in Deutschland oder der Schweiz aufwachsen. Und die sie im Rahmen der Documenta erproben und etablieren wollten. Viele Kollektive nahmen dies zum Anlass, über prekäre Arbeitsbedingungen zu sprechen – ihre eigenen wie auch die von anderen.
Über die Rolle der Schweizer Schokolade
So ist das Kollektiv, das die Antisemitismus-Debatte ausgelöst hatte, The Question of Funding, gar nicht mit eigenen künstlerischen Werken vertreten. Sondern es stellt eine Künstlergruppe aus dem Gazastreifen namens Eltiqa vor. Bilder, die Ausschnitte aus alten Meistern mit Aufnahmen von Grenzposten oder Explosionen zusammenbringen, sind da zu sehen. Zeichnungen, in denen Menschen miteinander verschmelzen. Und Fotografien, die den Alltag von Palästinensern in ihrem Wohnzimmer oder einem Friseursalon dokumentieren.
Eine dieser alten Meistermontagen zeigt Vincent van Goghs «De Aardappeleters», auf Deutsch auch als «Die Kartoffelesser» bekannt. Statt des Tischs, um den die armen Bäuerinnen sitzen, blickt man auf eine Bombenexplosion. «Guarnica Gaza» betitelt der Künstler Mohammed al-Hawajri die Szene, eine Anspielung auf Pablo Picassos berühmtes Werk, das er nach dem zerstörerischen Angriff der Legion Condor auf die spanische Stadt Guernica 1937 anfertigte.
Die Bezüge, die damit zwischen der deutschen Luftwaffe und dem israelischen Militär im Raum stehen, lösten nach allem, was im Vorfeld geschehen war, trotzdem nicht bei jedem grosse Empörung aus. Journalistinnen suchten doch nur nach Anzeichen von Antisemitismus, verkündete das Magazin «Monopol». Die Vorwürfe seien im Vorfeld so «konsequent aufgeblasen worden, dass sie für viele zu einer Schablone wurden. (…) Nirgendwo auf dieser Documenta wird das Existenzrecht Israels in Frage gestellt. Es werden auch keine Juden diffamiert und herabgewürdigt.» Der Glaube an die transformative Kraft der Kunst war einfach zu gross.
Man beschäftigt sich also weiter mit der Ausstellung in der Ausstellung: Auf kleinen Texttafeln werden die Lebenswege der in Eltiqa vertretenen Künstlerinnen beschrieben, vom Studium über erste gemeinsame Ausstellungsprojekte bis hin zu Auslandsreisen. Detailliert wird aufgelistet, welche Organisationen und Personen die Künstler gefördert haben – darunter die Schweizerin Eliane Beytrison, die Mohammed al-Hawajri und Raed Issa unter anderen geholfen hat, Ausstellungen in Frankreich zu realisieren oder ein Stipendium von der Ecole Cantonale d’Art du Valais zu bekommen. In einer Genfer Bibliothek wird Freundschaft mit einem saudischen Scheich geschlossen, der Eltiqa 50’000 US-Dollar zur Verfügung stellt, damit sie überhaupt weiterhin Kunst machen können.
Besonders prominent werden Farben und Leinwände erwähnt, die kaum importiert werden können – wegen der israelischen Warenkontrolle. Selbst Schweizer Schokolade bekommt hier eine politische Bedeutung: Sie musste in der Wüste von Ägypten schmelzen, weil der Fatah-Hamas-Konflikt die Israelis veranlasste, die Grenzen zu Gaza zu schliessen, und Abdel Raouf, einer der Eltiqa-Künstler, nicht mehr nach Hause zurückkehren konnte.
Alte Meister, Farben und Schokolade – das sind selbstredend Platzhalter in einem Nahostkonflikt, und der wird hier auf der Documenta tatsächlich ausschliesslich vonseiten palästinensischer Künstlerinnen zur Sprache gebracht. Diese Sprache der Kunst unterscheidet sich in weiten Teilen der Schau aber so drastisch von der Sprache der Politik und ganz besonders ihrer Waffen, dass sich so ziemlich das Gegenteil von Aggressionen einstellt.
Festivalstimmung wie im Open-Air-Konzert
In der Documenta-Halle gibt es eine grosse Skateboard-Rampe, alle haben Spass. Vor der Documenta-Halle und einem ehemaligen Schwimmbad im Osten von Kassel werden bemalte Papp- und Holzfiguren von dem indonesischen Kollektiv Taring Padi hin- und herbewegt, als handle es sich um ein Puppenspiel unter freiem Himmel, die Künstler chillen im Schatten auf den Wiesen. In einer alten Industriehalle fordert eine Band der Jatiwangi Art Factory, Indonesien, Besucherinnen auf, sich Dachziegel aus Ton zu schnappen und mit Stöcken in eine Partitur einzusteigen, die aus selbst gemalten Kreisen und Kästchen besteht.
Im Hintergrund läuft ein Video, das Hunderte von Muslimen dokumentiert, die auf einem Platz sitzen und ein Open-Air-Konzert geben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, lernt man da, entstand in der Region auf Java durch den Abbau von Ton die grösste Ziegelindustrie Südostasiens. Heute nutzen die Menschen den Ton für kulturelle Aktivitäten. Sympathischer geht es eigentlich nicht.
Das Ufer der Fulda, die durch Kassel fliesst, wurde in einen umwerfenden Hang-out verwandelt, die sogenannte Off-Biennale Budapest baute gemeinsam mit Kindern eine Holzbrücke über das alte Bootshaus Ahoi, über eine Rutsche und eine Kletterwand gelangt man am Ende in einen Garten, in dem Liegestühle stehen (und wo es sehr guten Kuchen gibt) – und die Künstlerin Chang En-Man an die invasive Riesenschnecke Achatina fulica erinnert.
Die Schnecke wurde in den 1930er-Jahren aus Ostafrika nach Taiwan importiert und richtete massive Schäden in der Landwirtschaft an. Für das Volk der Paiwan, von dem Chang En-Man abstammt, gehören die Schnecken zum Brauch eines Festessens.
In zwei Beeten, die am Ufer auf dem Wasser schwimmen, spriessen zarte Sommerblumen in den Himmel. Die Liebe zur Natur wird doch schnell wieder geweckt. Eine ältere Dame, eine Künstlerin aus Kassel, steht davor und schwärmt, dass sie endlich auch einmal mitmachen darf bei der ach so wichtigen Documenta.
«Super Spirit»
Tatsächlich scheint es in der Geschichte dieser Ausstellung so gut wie noch nie vorgekommen zu sein, dass sie die lokale Kunstgemeinschaft, die Malvereine und Kunsthandwerkerinnen, angemessen abholte. Kunstschauen werden in der Regel ein wenig wie Castingshows organisiert. Eine mächtige Kuratorin sitzt vor einem Bildschirm und prüft, von wem welche Arbeit wohl in ihr Konzept passen könnte.
In etwa so stellte man sich das jedenfalls bei der aktuellen Venedig-Biennale vor, die von Cecilia Alemani während der nicht enden wollenden Pandemie zusammengestellt wurde. Für die Documenta in Kassel hingegen überliess Ruangrupa die Auswahl von Inhalten tatsächlich anderen. Und dabei blieb es nicht. Diese anderen luden nämlich, und das muss man sich wirklich einmal vergegenwärtigen, ihrerseits wieder andere ein, und die wieder andere, und so ging und geht das wohl auch immer weiter. Zur Eröffnung zählte die Documenta über 1500 Teilnehmende! Und es werden immer mehr.
Das Team, das diese Vernetzung im Hintergrund betreute und zu Papier bringen musste – sei es in Teilnehmerlisten oder im Katalog –, muss das in den Wahnsinn getrieben haben. Vor Ort begegnet sich diese stetig wachsende Gemeinschaft auf Augenhöhe.
Selbst dort, wo es um Gewalt geht, um den Irakkrieg zum Beispiel oder den Rückzug der amerikanischen Truppen aus Nordsyrien, erklingen sanfte Töne. Frauen und Männer singen in einem Video alte Volkslieder, es ist der Versuch, das kulturelle Erbe von Rojava zu sichern, jener kurdischen Region im Nordosten Syriens, die infolge des Bürgerkriegs ihre staatliche Autonomie erklärte, gegen den Islamischen Staat kämpfte und sich gegenwärtig gegen Angriffskriege gegen ihre Gebiete vonseiten der Türkei wehrt.
Bassim al-Shaker, der seine Heimat Bagdad vor vielen Jahren verlassen musste und heute in den USA lebt, zeigt vor laufender Kamera eine schöne Zeichnung der Venus von Milo, für die er von Milizen gefoltert wurde. Selbst in den USA fühle er sich nicht sicher, seine Kunst, auch dieser Film für die Documenta, gefährde seine Familie im Irak.
Kunst und Realpolitik stehen sich gegenüber. Wie in dem Kuscheltierfilm von der Eisbärenmama und ihrem Jungen ist es fast unmöglich, nicht der Kunst zu erliegen. Könnte so die Zukunft des Kunstbetriebs aussehen?
Auf der Documenta wird Kunst nicht einfach ausgestellt, zum Objekt hochstilisiert und -gewirtschaftet, das in den Kreislauf eines exklusiven und leider nicht selten kriminellen Marktes gelangt. Die Kunst der Documenta eignet sich nicht zur Distinktion, sie ist ein Mittel unter vielen, um sich Gehör zu verschaffen, zu protestieren, man könnte schon fast denken, zu überleben. Die alten Machtstrukturen, dieses Top-down zwischen Institution und Kunst, Kurator und Künstler, scheinen jedenfalls aufgehoben, ja mehr noch, der Besucher wird gebeten, es sich doch bitte auf einem Teppich gemütlich zu machen und erst einmal einen Tee zu trinken, bevor er sich informiert. Der distanzierte, mittlerweile auch als westlich und weiss kodierte Blick, er könnte nicht mehr fehl am Platz sein als hier.
In diesem herzlichen Gemeinschaftsgefühl ging dann nur leider auch der Sinn für Unterschiede verloren, auf dem der Bundespräsident in seiner Rede, kurz nach seiner Rückkehr von einem Besuch in Indonesien, am vergangenen Samstag bestand.
Protestbanner mit antisemitischer Karikatur
Ausgerechnet das Kollektiv Taring Padi, das die Wiese vor der Documenta-Halle und das ehemalige Schwimmbad im Osten von Kassel so überaus prominent und freundlich mit seinen bemalten Papp- und Holzfiguren belebt. Ausgerechnet dieses indonesische Kollektiv installiert nach der Abreise vieler Medienvertreterinnen auf einem grossen Gerüst am Rande des Friedrichsplatzes, an dem sich auch das Fridericianum befindet, ein Gemälde mit üblen antisemitischen Karikaturen.
Zwischen allen möglichen Gestalten, gewalttätigen Generälen und Soldaten, die als Hunde und Ratten dargestellt sind, gibt es eine Figur mit Schweinerüssel und rotem Halstuch, auf dem ein Davidstern prangt, auf der Stirn die Aufschrift «Mossad». Eine weitere Figur trägt angedeutete Zapfenlocken und die Kopfbedeckung religiöser Juden. Auf ihrem Hut prangen jedoch zwei SS-Runen. Hier kann schwerlich behauptet werden, die Karikatur «kritisiere» lediglich den Staat Israel und seinen Geheimdienst. Hier werden Insignien der jüdischen Religion mit dem Nazitum gleichgesetzt.
«Die Banner-Installation ‹People’s Justice› (2002) ist Teil einer Kampagne gegen Militarismus und die Gewalt, die wir während der 32-jährigen Militärdiktatur Suhartos in Indonesien erlebt haben, und deren Erbe, das sich bis heute auswirkt. Die Darstellung von Militärfiguren auf dem Banner ist Ausdruck dieser Erfahrungen», versucht das Kollektiv zu erklären, nachdem die Documenta das Bild bereits verhüllt hat.
Sie kämpften doch für den Respekt und die Vielfalt, beteuert Taring Padi: «Unsere Arbeiten enthalten keine Inhalte, die darauf abzielen, irgendwelche Bevölkerungsgruppen auf negative Weise darzustellen. Die Figuren, Zeichen, Karikaturen und andere visuellen Vokabeln in den Werken sind kulturspezifisch auf unsere eigenen Erfahrungen bezogen.»
Das bedeutet nun leider nicht nur, dass Antisemitismus Teil ihrer Alltagsikonografie ist. Es bedeutet, dass sie die oben beschriebene Karikatur nicht als diskriminierend beurteilen. Sie verleugnen ihre Judenfeindlichkeit. Die Kritiker der Documenta fifteen, egal aus welchem politischen Lager sie auch kamen, sollten recht behalten. Es ist nicht auszuhalten.
Wie konnte es nur passieren, dass dieser Bias vor der Installation des 20 Jahre alten Protestplakats zwar von vielen problematisiert, aber von den Kuratoren und der Documenta nicht ausgeschlossen wurde? Nach allem, was im Vorfeld gelaufen war?
Liegt in der kollektiven Abgabe von Verantwortung, die eben noch den «super Spirit» der Documenta ausmachte, eine Gefahr? Do they even care? Der Kampf gegen Kolonialismus und der Kampf gegen Antisemitismus schliessen sich nicht aus. Diesen Irrtum zu verbreiten, ist das Ziel antidemokratischer Hetze.
Hito Steyerl, jene Künstlerin, die sich kurz vor der Eröffnung mit einem öffentlichen Statement an die Documenta richtete, hatte das erkannt. Interessanterweise ist sie – die Kritikerin der blinden Flecken des post- beziehungsweise dekolonialen Diskurses – dank des Verlustes der Kontrolle über die kuratorische Hoheit ebenfalls mit einer Arbeit auf der Documenta vertreten.
Not just a Reality-Show
Sie wurde von der Agentur Inland eingeladen, die sich europaweit für Kunstprojekte im Sinne der Nachhaltigkeit im ländlichen Raum engagiert. Hito Steyerl, das hätte man nicht anders erwartet, präsentiert eine Videoinstallation in Game-Ästhetik, in der es um eine Realityshow in Spanien geht, für die Hirten gesucht wurden.
Unser aller ökologisches Grundverständnis wird als Glaube an eine Disney-World entlarvt, in der Füchse mit Teekannen labern. Hito Steyerl lässt lieber einen Cyber-Wolf aufleben und aus stinkendem Käse eine alternative Währung namens Cheesecoin entstehen, die die wahre Unabhängigkeit von den kapitalistischen Gladiatorenkämpfen für alle Lebewesen sichert. Nach allem, dem man auf der Documenta sonst so begegnet, hat das etwas von ironischem Kommentar. In der Zusammenschau mit ihrem Text sogar von inhärenter Kritik. Aufatmen.
Vor einer Woche sass Hito Steyerl im Vorgarten des Naturkundemuseums im Ottoneum, in dem ihr Film «Animal Spirits» läuft. Eine direkte Konfrontation zwischen ihr und Ruangrupa stand da noch aus. Im Gespräch mit der Republik sagte Steyerl, das Statement, das sie im Vorfeld publizierte, sei ihre persönliche Voraussetzung für die Teilnahme gewesen. Die NS-Vergangenheit der Documenta, der Rechtsradikalismus, die Diskriminierung von Minderheiten erübrigten sich nicht. Leider sollte sie recht behalten.