«Die Geschichte der Moderne lässt sich nicht rekonstruieren, wenn man nicht über Mord sprechen will»
Die Documenta in Kassel ist eine der weltweit wichtigsten Ausstellungen für Gegenwartskunst. Was lange niemand wusste: Ein NSDAP- und SA-Mitglied hat sie mitgegründet. Was bedeutet das jetzt? Gespräch mit der Kunstwissenschaftlerin Julia Voss, die eine Ausstellung über die braunen Seiten der Documenta im Deutschen Historischen Museum mitkuratierte.
Von Antje Stahl, 17.06.2021
Vor zwei Jahren liess die deutsche Kanzlerin Angela Merkel «Blumengarten» und «Brecher», zwei Gemälde des Malers Emil Nolde aus den Jahren 1915 und 1936, aus ihrem Amtszimmer im Bundeskanzleramt entfernen. Denn eine Ausstellung im nahe gelegenen «Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart» sollte Noldes Werk kurze Zeit später in ein neues, unschönes, ja, man muss sagen, rechtes Licht setzen: Der expressionistische Maler, der vom Schriftsteller Siegfried Lenz in seinem berühmten Roman «Deutschstunde» noch als ein von den Nazis diffamierter und mit einem Malverbot belegter Künstler zum Helden der widerständigen deutschen Kunstgeschichte erklärt wurde, war in Wirklichkeit ein Antisemit und Rassist.
Seitdem scheint im Kulturbetrieb der Bundesrepublik, in der doch schon sehr lange die Gewaltverbrechen des Zweiten Weltkriegs und ihre Folgen aufzuklären als staatliche Chefsache gilt, nichts mehr wie vorher. Weitere Nachforschungen ergaben, dass ein zweiter Held der deutschen Kunstgeschichte – Werner Haftmann – NSDAP-, ja sogar SA-Mitglied war und in Italien Partisanen jagte und folterte.
Werner Haftmann war Emil Noldes Biograf, der ihn zum «existenziellen Antifaschisten» stilisierte und ihm sogar einen ganzen Bilderzyklus unterjubelte, den der expressionistische Maler während der Kriegsjahre angeblich in der inneren Emigration und mit freiheitlicher Gesinnung schuf. Haftmann war aber auch Mitbegründer der Documenta, die seit ihrer ersten Ausgabe 1955 zu einer der weltweit wichtigsten Grossausstellungen für die Kunst der Gegenwart und zum Barometer für den Zeitgeist aufgestiegen ist.
Alle fünf Jahre findet die Schau in Kassel statt. Sie ist ein Publikumsmagnet, konnte die Anzahl der Besucherinnen im Laufe von zehn Ausgaben von ehemals 130’000 auf 630’000 im Jahr 1997 steigern. Auch die Wachstumskurve der Einnahmen, zusammengesetzt aus staatlichen Förderungsmittel, Katalogverkäufen, Eintrittsgeldern und Spenden lässt sich sehen: von 379’000 auf auf damals über 20 Millionen D-Mark.
Ihrem Gründungsmythos nach sollte die erste Documenta eigentlich die sogenannte Stunde null einläuten; einen Neubeginn für die junge Bundesrepublik und ihr dem Verbrechen anheimgefallenes Kulturleben darstellen. Aber wie passt dieses Narrativ mit der braunen Biografie ihres Konzeptkopfes Werner Haftmann zusammen? Lassen sich sogar Spuren aus der NS-Zeit in der ersten Ausstellung der Documenta nachweisen?
Diesen Fragen geht jetzt unter anderen eine grosse Ausstellung über «documenta. Politik und Kunst» im Deutschen Historischen Museum in Berlin nach, welche die Geschichte der Documenta zwischen 1955 und 1997 aufarbeitet und diese Woche eröffnet hat.
Die Republik traf Julia Voss, Mitglied des dreiköpfigen Kuratorinnenteams, zum Gespräch in den Ausstellungsräumen. Die Bundespräsidenten und Bundeskanzler, die sich auf der Documenta-Bühne in der hessischen Kleinstadt in unmittelbarer Nähe zum sogenannten Eisernen Vorhang stets für eine internationale Weltöffentlichkeit in Szene setzten, kamen dabei zwar nicht zur Sprache. Dafür aber ein Kunstverständnis, das sich selbst noch in gegenwärtigen Debatten rund um künstlerische Freiheit, Identitätspolitik und angebliche «Cancel-Culture» einzuschreiben scheint.
Julia Voss, seit einigen Jahren nimmt die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von deutschen Künstlern und Kunsthistorikerinnen, die einst zu Helden der jungen demokratischen Bundesrepublik erklärt wurden, Fahrt auf. Fast achtzig Jahre sind seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vergangen. Ist das nicht reichlich spät?
Der Zugang zu Emil Noldes Archiv war sehr lange versperrt, sodass die Kolleginnen Bernhard Fulda und Aya Soika erst nach der Öffnung damit arbeiten und 2014 ihre wichtigen Ausstellungen zunächst in Frankfurt und dann in Berlin präsentieren konnten. Gleichzeitig war die Erzählung vom widerständigen Deutschen, als den sich Nolde selbst darstellte – so wie es dann auch Werner Haftmann tun sollte –, dermassen erfolgreich, dass sich viele, sogar Staatsoberhäupter, damit identifizieren sollten. Im Jahr 1986 verfasste Helmut Kohl ein Geleitwort für Werner Haftmanns Katalog über «Verfemte Kunst», in dem er die NS-Kunstpolitik einen «Bildersturm» nennt. Kohl spricht von Künstlern, «die im Verborgenen weitergearbeitet» hätten, und nennt es seine eigene «Verpflichtung», «das Verdienst dieser Künstler und dieser Kunst zu würdigen». Auch Werner Haftmann spricht 1955 von einem «Bildersturm» in der NS-Vergangenheit. Auf diese Weise distanzierte er sich selber von der NS-Zeit und ersparte es zugleich seinem Publikum, über die ermordeten Juden und Jüdinnen Europas sprechen zu müssen.
Der Gründungsmythos der Documenta wurde in einer «kolossalen Ruine» geboren, steht im Ausstellungskatalog. Wie dürfen wir uns die Eröffnung der ersten Documenta im Jahr 1955 vorstellen?
Die Entstehungsgeschichte der Documenta ist eine teils auch zufällige Verknüpfung von Umständen: Das kleine Städtchen Kassel, gelegen in der hessischen Provinz, an der innerdeutschen Grenze zwischen Bundesrepublik und DDR, bewirbt sich zunächst als Hauptstadt und bekommt 1953 stattdessen den Zuschlag, Schauplatz für eine Bundesgartenschau zu werden. Arnold Bode, seinerzeit Professor an der Werkakademie in Kassel, plädiert von Anfang an dafür, auch Kunst zu zeigen und das ruinöse Fridericianum dafür zu nutzen. Er gewinnt die Stadt und das Land Hessen, trifft auf der Biennale in Venedig 1954 Werner Haftmann, den Autor des damals bereits sehr einflussreichen Buchs «Malerei im 20. Jahrhundert», und erarbeitet mit ihm gemeinsam das Konzept, für das sich dann 1955 auch der Bund begeistern konnte: eine Documenta, die sich abgrenzt gegen den Kommunismus und Sozialismus, eine Documenta, die die Freiheit der Kunst für sich reklamiert, indem sie die Moderne rehabilitiert, die von den Nationalsozialisten verfemt worden war.
Der Name Documenta ist so fest im internationalen Ausstellungskalender verankert, dass man gar nicht mehr genau weiss, was er ursprünglich eigentlich bedeuten sollte.
Werner Haftmann betont, dass die Documenta die Entwicklungen der Kunst des 20. Jahrhunderts dokumentieren werde. Ihm ging es um Künstler und Kunstbewegungen, die er beispielsweise als Experte für Expressionismus schon auf seinen Reisen nach Frankreich oder Italien in den 1940er-Jahren erkundete. Sein Überblick auf der Documenta reicht von Henri Matisse über Emil Nolde und die Futuristen bis hin zu Alexander Calder. Man könnte dies für einen repräsentativen Gang durch die Kunst der Moderne halten – wenn man allerdings genauer hinschaut, erkennt man systematische Leerstellen.
In der Künstlerliste von Kassel 1955 fehlen sowohl die verfolgten politischen als auch die ermordeten jüdischen Künstler und Künstlerinnen.
Den Nationalsozialismus begreift Haftmann, wie gesagt, als «Bildersturm», er grenzt sich damit ausdrücklich von der NS-Kunstpolitik ab, allerdings verkauft er sie als ein rein ästhetisches Phänomen: als wären die Nazis gegen Bilder und nicht gegen Menschen vorgegangen. Den Künstlern und Künstlerinnen, die im Untergrund weiterarbeiteten – in «Waschküchen und Fabrikhallen», wie es bei ihm heisst –, habe das Regime nichts anhaben können, schreibt Haftmann. Ihre innere Substanz sei nicht berührt worden. Auf einige wenige traf das sicher auch zu: Willi Baumeister, Emy Roeder und Hans Purrmann arbeiteten weiter, obwohl ihre Werke als «entartet» galten. Andere aber wurden verhaftet, verschleppt, deportiert, gefoltert und umgebracht. Über die Gewaltverbrechen möchte Haftmann jedoch auf keinen Fall sprechen. Deshalb kann man kaum von einer Dokumentation der Kunst des 20. Jahrhunderts sprechen. Die Geschichte der Moderne lässt sich nicht rekonstruieren, wenn man nicht über Mord sprechen will.
Julia Voss ist Honorarprofessorin am Institut für Philosophie und Kunstwissenschaft der Leuphana Universität Lüneburg. Sie studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie. Von 2007 bis 2017 leitete sie das Kunstressort der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». Zuletzt erschien von ihr das Buch «Die Menschheit in Erstaunen versetzen: Hilma af Klint. Leben und Werk», das auch in der Republik bereits Thema war.
Ihre Ausstellung dokumentiert, dass im Jahr 1955 10 von 21 Personen und 1964 sogar 15 von 60 Personen, die in die Organisation der Documenta involviert waren, NSDAP-, SS- und/oder SA-Mitglieder waren. Jüngste Forschungen ergaben, dass Haftmann in Italien sogar Partisanen verfolgt und gefoltert hat. In Ihrem Beitrag zur Schau im Deutschen Historischen Museum stellen Sie einen Artikel aus einer Zeitung aus Bologna aus, der ihn öffentlich als Kriegsverbrecher ausweist. Wollten Haftmann und Co. auch ihre eigenen Biografien vertuschen?
Ja, das war das Ziel. Abgesehen von der italienischen Presse berichtete auch der Kunstkritiker Will Grohmann in einem Brief, dass sich Haftmann im betrunkenen Zustand damit brüstete, Partisanen erschossen zu haben. Dank der Recherchen des Historikers Carlo Gentile haben wir nun ein genaueres Bild von Haftmanns Militärzeit. Für seine geheimdienstliche Arbeit und die Leitung von sogenannten «Bandenjagdkommandos» 1944 gegen den italienischen Widerstand wurde er von der Wehrmacht sogar ausgezeichnet. Das lässt darauf schliessen, dass er sehr engagiert nationalsozialistischen Interessen und Überzeugungen nachging. Er war an Folterungen beteiligt und an der Erschiessung von Zivilisten.
War Haftmann ein Antisemit?
Ich denke nicht, dass er ein glühender Antisemit war. Die jüdischen Künstlerinnen und Künstler hat er nicht aus der Kunstgeschichte herausgeschrieben, weil er davon überzeugt war, dass sie dort nichts zu suchen hatten. Er tat es, weil er seine eigene Biografie reinwaschen wollte. Die Gewaltverbrechen sollten nicht zum Thema werden. Die Bereitschaft, den Mord an jüdischen Künstlerinnen und Künstlern unerwähnt zu lassen, kann man jedoch auch als eine Spielart des Antisemitismus auffassen, auch wenn das Motiv Eigennutz ist. Nur mit diesen Leerstellen konnte er seine eigene Karriere verlängern.
Und es gab niemanden in den Reihen der damaligen Documenta-Macher, der diese Methode durchschaute? Ihr sogar widersprach? Was ist mit Arnold Bode?
Das Bedürfnis, nicht über die eigene Biografie sprechen zu müssen und sich gleichzeitig von Nationalsozialisten abzugrenzen, war ja weitverbreitet. Deshalb war auch Emil Nolde als Identifikationsfigur so ein Hit und wurde von Siegfried Lenz in seinem berühmten Roman «Deutschstunde» aufgegriffen. Noldes angebliches Malverbot kennt fast jeder in Deutschland, obwohl es gar kein Malverbot gab. Haftmann erzählte in einem Brief aus dem Jahr 1963, den wir in der Ausstellung zeigen, dass ihm vorgeworfen wurde, den «wüsten Nazi» Nolde zu verschweigen. Er konnte jedoch kritische Nachfragen unterbinden. Als Noldes Bilderzyklus der angeblich «ungemalten Bilder» erstmals in New York ausgestellt wurde, berichtet Haftmann, dass er in Zusammenarbeit mit dem damaligen Direktor des Guggenheim Museum die «glimmenden Funken» dieser Debatte ausgetreten habe. Zu tun sei nichts weiter, «als den Mund zu halten».
Einer der Künstler, gegen den sich Haftmann und der Arbeitsausschuss der ersten Documenta entschieden haben, ist der jüdische Künstler Rudolf Levy. Er flüchtete ins italienische Exil und wurde 1943 von zwei SS-Soldaten im Treppenhaus des Palazzo Guadagni in Florenz verhaftet. Aus der Gefangenschaft schickte er noch einen Hilferuf, die Deportation im Januar 1944 nach Auschwitz überlebte er nicht, er kam nie im Konzentrationslager an. Im Deutschen Historischen Museum zeigen Sie einige seiner Gemälde, darunter sein letztes Selbstporträt. Verstehen Sie Ihre Ausstellung auch als eine späte Korrektur der haftmannschen Kunstgeschichte?
Ja. Zwischen Rudolf Levy und Werner Haftmann gibt es zahlreiche direkte Verbindungen, die wir Schritt für Schritt nachzuvollziehen versuchen. Werner Haftmann wohnt bis 1940 in Florenz, Levy trifft dort 1940 ein. Haftmann geht zum Militär, aber er besucht weiter das Kunsthistorische Institut in Florenz, über dem Levy in einer Pension malt. Institut und Pension befinden sich im Palazzo Guadagni. Levy und Haftmann könnten sich also im Treppenaufgang begegnet sein. Zudem fragt Haftmann in einem Brief aus dem Jahr 1946 den Künstler Hans Purrmann, ob Levy nach wie vor in Florenz lebe. Purrmann wird im gleichen Jahr von der Künstlerin Emy Roeder über die Ermordung von Levy unterrichtet, er wird also auch Haftmann davon erzählt haben. Auf einer frühen Künstlerliste der Documenta taucht der Name Levy dann auch noch auf, fällt aber am Ende heraus. Und mehr noch, in seiner «Malerei des 20. Jahrhunderts» behauptet Haftmann, dass «nicht ein einziger der deutschen modernen Maler Jude war». Man muss die Frage stellen, wie die Erinnerungspolitik und Erinnerungskultur verlaufen wäre, wenn nicht Emil Nolde, sondern Rudolf Levy im Zentrum gestanden hätte. Anders als bei Nolde hätte man nicht an einer Erzählung festhalten können, die um einen angeblichen inneren Widerstand, das eigene freiheitliche Denken und die Verachtung der Nazis als Kunstbanausen kreist. Bei Levy hätte über den Holocaust gesprochen werden müssen. Helmut Schmidt hat Nolde als erster Bundeskanzler in sein Büro gehängt. Willy Brandt dagegen reiste 1973 als erster Bundeskanzler nach Israel und überreichte Golda Meir als Geschenk ein Gemälde von Levy.
Emil Nolde wurde aus dem Kanzleramt verbannt. Angela Merkels Pressesprecher hatten seinerzeit zwar darauf verwiesen, dass die Stiftung Preussischer Kulturbesitz um die Rückgabe der Gemälde gebeten hatte. Allerdings ist kaum vorstellbar, dass ein Nolde-Kunstwerk noch einmal einen so repräsentativen und politischen Auftritt haben wird. Braucht die Documenta nach Ihrer Ausstellung und den Enthüllungen ebenfalls eine Art Korrektur?
Die Documenta hat sich ja mehrmals gehäutet, und sie hat zudem zwei Gesichter, zwei Seiten. Arnold Bode, nach dessen Rolle Sie vorhin fragten, sehe ich beispielsweise in einem ganz anderen Licht: Er war Mitglied der SPD, verlor 1933 seinen Job und schlug sich mit einer Familie durch, bis er vom Militär als Soldat eingezogen wurde. Er suchte, soweit wir bisher wissen, zu keinem Zeitpunkt den Anschluss an die Nationalsozialisten. Durch die jüngsten Forschungsergebnisse zu den NS-Kontinuitäten rücken Protagonisten wie er gerade in den Hintergrund. Aber auch Bode formt natürlich die Documenta: Bodes Art auszustellen prägte den offenen demokratischen Umgang mit Kunst, den Festivalcharakter der Documenta, den direkten Kontakt zwischen Künstlerinnen und Künstlern mit dem Publikum. Gerade junge Besucherinnen und Besucher waren begeistert, das Antimuseale zog sie mit. Wegen dieser Offenheit wurde die Documenta früh und viel mit Kindern besucht. Und wir dürfen natürlich auch nicht vergessen, dass es rechts von Haftmann Bestrebungen gab, den Kunstbetrieb nach 1945 weiterzuführen wie davor.
Ende August zeigt das Deutsche Historische Museum auch dazu eine Ausstellung – über die Liste der sogenannten «gottbegnadeten Künstler».
Diese Liste wurde von Hitler und Goebbels 1944 zusammengestellt. Die Künstler darauf galten als «unabkömmlich» und mussten nicht an die Front. Diese Künstler setzten ihre Karrieren auch in der Bundesrepublik weiter fort und erhielten viele öffentliche Aufträge. Die Documenta dagegen ist widersprüchlich: Sie hat in ihrer Geschichte immer wieder Versprechen gemacht, die nicht gehalten wurden; und wir sehen heute, wie viel umgeschrieben wurde und mit welcher Härte die eigene Biografie geschützt, die Opfer dagegen herausgeschrieben wurden. Anders als Emil Nolde, dessen Gemälde im Kanzleramt abgehängt wurden, kann sich die Documenta immer wieder neu erfinden. Es ist dann die Aufgabe von Kuratorinnen und Kuratoren, sich mit dem Erbe der Documenta auseinanderzusetzen.
Zurzeit erscheint es als extrem wichtig, dass der Kunstbetrieb sich historische Positionen noch einmal unter anderen Kriterien anschaut als unter denjenigen, welche die Kunstgeschichte bisher als formalästhetische oder stilgeschichtliche Gesichtspunkte gelten liess. Nach #MeToo und erst recht seit den Black-Lives-Matter-Protesten werden Sammlungen revidiert und sogar ganze Ausstellungen abgesagt.
Die Documenta hat den grossen Vorteil, nicht mit einer Sammlung arbeiten zu müssen. Von Anfang an wurde sie auch als das «Museum der hundert Tage» bezeichnet, also als Museum auf Zeit. Es gibt keinen Auftrag, sich mit den immer gleichen Objekten auseinanderzusetzen und ihre Geschichte weiterzuerzählen. Die Documenta kann sich wandeln, ihre Macherinnen schauen in die Geschichte, tragen bestimmte Traditionen weiter und ändern andere. Manche Änderungen dauern dabei sehr lange. Wir haben über das Erbe des Nationalsozialismus gesprochen. Verblüffend ist aber, dass im Jahr 1987 die Guerrilla Girls bereits eine kleine Visitenkarte in Kassel verteilten, auf der stand: «Why in 1987 is documenta 95% white and 83% male?» Mehr als dreissig Jahre später fragt man sich, wie diese Kritik so lange verdrängt werden konnte. Heute wird häufig so getan, als sei die Debatte um Quote, Herkunft oder Hautfarbe neu. Neu ist aber nur, dass die Stimmen derer, die die Dominanz der immer gleichen Gruppen kritisieren, gehört werden müssen.
Im deutschsprachigen Feuilleton gewinnt man aber doch immer wieder den Eindruck, dass alle Kunstkritikerinnen, die sich nicht nur mit Farbe und Grund auseinandersetzen, sondern auf Machtpositionen und künstlerische Biografien schauen, zur Fraktion der fanatischen Identitätspolitikerinnen gezählt werden, gegen die die Freiheit der Kunst verteidigt werden muss.
Das ist ein Erbe aus der Haftmann-Zeit. Seine Generation ist mit der Behauptung durchgekommen, nicht Biografien seien wichtig, sondern ausschliesslich die Werke und ihr ästhetischer Wert. Allein die formalen Kriterien würden zählen. Dabei hat kaum ein anderer Kunsthistoriker so stark an Biografien herumgeschraubt wie Werner Haftmann. Er hat nicht nur die Biografie von Emil Nolde umgeschrieben, sondern auch seine eigene. Und wer die falsche Biografie hatte, wie etwa Levy oder der ebenfalls ermordete jüdische Maler und Bildhauer Otto Freundlich, der kam nicht auf die Documenta 1955. Dass Picasso und Chagall sich für den Kommunismus interessierten – Picasso war sogar in der Kommunistischen Partei –, passte ebenfalls nicht zu Haftmanns Kunstgeschichtsschreibung. Er liess es aussen vor. Das Publikum der ersten Documenta wurde 1955 empfangen von einer Fotowand mit Porträtaufnahmen von Malern und Bildhauern der Moderne: alles Männer, nicht eine einzige Frau. Wohin man schaut, geht es also um Personen und Biografien. Es ist ein Irrglaube, dass es eine identitätspolitische Fraktion gibt, die mit Biografien argumentiert, und eine andere, die den Wert der Werke selbst erarbeitet. Biografien waren schon immer das Kraftzentrum der Documenta, das kann unsere Ausstellung, denke ich, sehr gut vor Augen führen.
Die ersten Ausgaben der Documenta setzten bekanntlich auf abstrakte Kunst – die Kunstrichtung, die im Anschluss an die europäische Moderne und die US-amerikanische Nachkriegsmoderne mit Freiheit und Demokratie verbunden wurde, das zeigen Sie auch im Deutschen Historischen Museum. Wenn sich nun herausstellt, dass ein Nationalsozialist und überzeugter Partisanenjäger über diesen Kanon der Kunst mitbestimmte, bekommen Aktivisten, die sich heute für eine Revision dieses Kanons engagieren, doch eigentlich von der historischen Aufklärung recht?
Werner Haftmann war, wie meine Kollegin Alexia Pooth im Ausstellungskatalog herausstellt, nicht nur Partisanenjäger, sondern auch ein enorm scharfer Kalter Krieger, der den Nationalsozialismus, aber eben auch den Sozialismus und den Kommunismus zu kunstfreien Zonen erklärte. Die einzigen Künstler, die aus ehemals kommunistisch regierten Ländern, welche auf der Documenta zugelassen wurden, waren diejenigen, die abstrakt arbeiteten, beispielsweise der slowenische Maler Gabrijel Stupica, geboren 1913. Gegenständliche, links engagierte Kunst war das Letzte, was Haftmann in Kassel sehen wollte, sie passte nicht zu seiner Erinnerungspolitik. Unsere Ausstellung «documenta. Politik und Kunst» hat mir da tatsächlich die Augen geöffnet: Wir müssen uns von diesem formalistischen Kunstverständnis lösen, das die Kunst so stark für die Reinwaschung der eigenen Biografie instrumentalisierte – und noch einmal gründlich neu recherchieren, welche Positionen wir interessant finden und worüber wir eigentlich sprechen wollen, wenn wir uns mit der Kunst auseinandersetzen.
«documenta. Politik und Kunst». Deutsches Historisches Museum, Berlin. Die Ausstellung dauert vom 18. Juni 2021 bis zum 9. Januar 2022. Hier finden Sie ein Booklet zur Ausstellung.