Kettenreaktion – Teil 2

Von der Tulpen­zwiebel zur Datei

Sind die NFT-Exzesse jetzt Kunst oder blosse Abzocke? Die Frage ist berechtigt. Aber sie gehört zum Wesen der modernen Kunst. Und wahnwitzig spekuliert wurde auch schon früher. «Kettenreaktion», Teil 2.

Von Jörg Heiser (Text) und Yoshi Sodeoka (Animation), 10.06.2022

Synthetische Stimme
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Expertinnen sprechen davon, dass man mit einem NFT streng genommen gar nichts besitze; oder gleich davon, dass der Wert von Krypto­währungen auf lange Sicht «exakt null» sei (siehe dazu den ersten Teil dieses Artikels). Wundern muss man sich nur, wie viel Hype seit etwas über einem Jahr um den neuen Kunst­fetisch NFT betrieben wird. Allerdings hat es immer wieder solche Spekulations­fieberschübe gegeben. Nicht umsonst wird in Sachen NFT häufig der Vergleich zur nieder­ländischen Tulpen­manie der 1630er-Jahre gezogen. Damals wurden einzelne Tulpen­züchtungen bis hin zum Preis stattlicher Häuser gehandelt.

Kettenreaktion

NFTs sollen im Internet Kunstwerke und Eigentümer zusammenbringen. Das führt zu zahlreichen Absurditäten – sowohl kommerziell als auch künstlerisch. Ein Augenschein in zwei Teilen. Zur Übersicht.

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Von der Tul­pen­zwie­bel zur Datei

Meist erschöpft sich dieser Vergleich allerdings in einer simplen Parallele: dass eine von vielen betriebene Spekulation mit besonderen Objekten – ob nun Blumen­zwiebeln oder digitale Wertmarken – zu einer masslosen Über­bewertung führt, was schliesslich zum Kollaps des Marktes und zum Ruin vieler Teilnehmerinnen führt. Doch schaut man sich die einschlägige Literatur zur Tulpen­manie etwas genauer an (zwei Bücher aus den 2000ern stechen heraus, vom Briten Mike Dash und von der US-Amerikanerin Anne Goldgar), gibt es zahlreiche Entsprechungen, die viel tiefer gehen. Ja, es ist verblüffend, wie viele Struktur­merkmale sich ähneln. Mindestens elf bezeichnende Vergleichs­punkte lassen sich benennen:

1. Voraussetzung ist ein gesellschaftlicher Wandel: vom Adel zum Bürgertum; vom alten Reichtum zum neuen Reichtum der Tech-Unter­nehmerinnen und Krypto-Investoren. Aber auch zum Aufstiegs­streben der zahllosen jungen Menschen auf den Philippinen, in Kasachstan, Venezuela oder Kalifornien, die in Krypto und Blockchain allgemein und vor allem in NFTs ihre Chance sehen, den Traum vom grossen Geld zu verwirklichen oder ihm zumindest ein kleines Stück näher zu kommen. Für eine Blase braucht es eine signifikante Zahl an Leuten, die unterbezahlt oder arbeitslos sind und ihre letzten Ersparnisse zusammen­kratzen oder ihre Webstühle beleihen (so in den Nieder­landen der 1630er-Jahre), sofern sie nicht vollends auf Pump spekulieren. Sie sind die grosse Masse derer, die nur kleine Beträge investieren und in den meisten Fällen leer ausgehen werden.

Den eigentlichen Motor des Hypes bildet derweil eine Schicht von Leuten, die bereits vermögend sind und über genug Spielgeld verfügen, um es riskieren zu können in einem «neuen» Markt. Und die dafür überhaupt Zeit haben. So war es im niederländischen 17. Jahrhundert, als die Regenten – reiche bürgerliche Kaufleute – erstmals allein von der Reinvestition ihres Vermögens leben konnten, von den Mühen einer anderen Form des Brot­erwerbs befreit. Und so war es zumindest zum Teil für die Online-Spekulantinnen, die während der Covid-Lockdowns seit 2020 mehr Zeit zu Hause vor dem Bildschirm verbringen konnten oder mussten, als ihnen lieb war. Selbst das Dystopische der Pandemie findet eine Parallele in der Zeit der Tulpen­manie: Damals war es die Beulenpest, die zwischen 1633 und 1637 – also zeitgleich zur Spekulations­blase – in mehreren nieder­ländischen Städten wütete: Durch die vielen Toten stiegen die Arbeitslöhne für die Über­lebenden; und eine geradezu fatalistische Bereitschaft machte sich breit, mit dem verdienten Geld auch hoch riskant zu spekulieren.

2. Die Spekulationsblase bringt neue Berufs­felder, neue Spezialisten hervor. Im Goldenen Zeitalter waren es die rhizotomi (griechisch: Wurzel­schneider), eine neue Kaste von Zwischen­händlerinnen, die bei den Tulpen­züchtern auf dem Land nach neuen Kreationen suchten und sie in den Städten auf den Markt und zu den Sammlern brachten. Heute sind es natürlich besonders die Blockchain-Spezialistinnen, die sich hervortun, aber auch die Galeristen, Sammlerinnen und Künstler, die ins NFT-Business einsteigen und einen hoch spezialisierten Diskurs führen.

3. Das Handelsgut hat novelty-Charakter. Es erhebt deshalb Anspruch auf Kennerschaft und Exklusivität, sowohl über seine besondere Ästhetik und Exotik als auch über die neuartige Kultur des Handelns, die es entwickelt. So war es mit den Tulpen­zwiebeln, so ist es nun mit den NFTs.

4. Grundlage des neuen Reichtums, der sich akkumuliert und die neue Blase nährt, ist allerdings eine ziemlich gnadenlose Ausbeutung beziehungs­weise Extraktion von Ressourcen. Damals war es der nieder­ländische Kolonialismus, der sich beispiels­weise in den 1620ern durch einen mit grosser Brutalität geführten Krieg der Banda-Inseln (Indonesien) bemächtigte, dort rund 15’000 Ureinwohner ermordete, durch Sklaven ersetzte und sich das Monopol an der Muskat­nuss sicherte (die Preise für Muskat­nuss erreichten zeitweise ähnlich spekulative Höhen wie für Tulpen­zwiebeln). Für Krypto werden – Gott bewahre – zwar heute keine Völker­morde verübt, aber unter allen Möglichkeiten moderner, globalisierter Gewinn­maximierung, die die Finanz- und Techmärkte bieten, stechen NFTs vor allem durch die erwähnte gnadenlos schlechte Klima­bilanz der Krypto-Rechnerei hervor.

5. Nicht nur der Markt, auch die Markt­plätze sind neu: Heute entstehen virtuelle Online-Handels­plätze wie Open Sea oder Nifty Gateway, damals waren es die Hinter­zimmer der Tavernen in Haarlem oder Amsterdam. Dieser Markt bietet aufgrund seiner neuen Struktur und seiner quasi «magischen» Handelsware – magisch deshalb, weil ihr Nutzen nicht messbar ist, sondern letztlich auf ein Geschmacks- beziehungsweise Werturteil referiert – kaum Berechenbarkeit oder Stabilität. Es ist zudem ein weitgehend unregulierter Markt, der zahlreiche Tricks und Betrugs­fallen bereithält für die Novizen.

6. Windhandel: Irgendwann – um genau zu sein: ab 1635 – wird gar nicht mehr die Zwiebel selbst gehandelt, die noch in der Erde steckt, sondern nur mehr ein Pfand­schein (oder Zukunfts­schein), der zukünftigen Besitz anzeigt, was aber nicht ausschliesst, dass bis dahin ebendiese Zwiebel kaputtgeht oder gestohlen wird. Oder auch, dass derjenige, der den Pfand­schein verkauft, ein Betrüger ist und die betreffende Zwiebel gar nie besessen hat. Oder/und diese gar nicht existiert. In den Nieder­landen nannte man das damals treffend «Windhandel».

Bei NFTs handelt es sich wie gesagt in der Regel ebenfalls um solche Pfand­scheine (die Position im Verhältnis zu einem digitalen File) oder Zukunfts­scheine (mit dem Erwerb des NFT verbundene zukünftige zusätzliche Gimmicks oder Leistungen). Der japanische Künstler Takashi Murakami hat nach diesem Prinzip (siehe erster Teil) seine «Flower Seeds» konzipiert, ob er dabei nun an den historischen Windhandel dachte oder nicht: Am Stichtag wächst eine digitale Blume, aber was für eine, weiss die Käuferin nicht. Die Entwicklung hin zu diesen zukünftig einzulösenden Scheinen soll den Markt beschleunigen. Es animiert dazu, die Ware möglichst vor dem Stichtag mit Gewinn weiter­zuverkaufen und anderen die Überraschung zu überlassen, ob es ein freudiger Zahltag wird oder ein unschönes Erwachen.

7. Dazu gehören analog die im ersten Teil erwähnten Betrugs­techniken rug pull und sockpuppeting beziehungs­weise white washing. Selbstverständlich war es auch Teil des Wind­handels, dass das Versprochene sich als Niete heraus­stellte oder über Strohmann-Käufer die Preise in die Höhe getrieben wurden.

8. «Billige» Kopien: Es war für Laien schwierig, wenn nicht unmöglich, eine teure Edelzwiebel von einer viel billigeren, ähnlich aussehenden Zwiebel zu unterscheiden – und nicht Letztere für Erstere untergejubelt zu bekommen. Im NFT-Markt geschieht es recht oft, dass zwar nicht das NFT als solches (da es ja nun mal mit grossem Rechen­aufwand «nicht ersetzbar» gemacht wurde), sehr wohl aber die damit verbundene Bilder- und Brandingwelt kopiert beziehungsweise geklont wird, etwa wenn aus den «Crypto Punks» (verpixelte Punk-Köpfe) die «Crypto Phunks» werden. Am Preis sieht man dann, ob die Kundinnen wissend eine Billig­kopie kaufen oder sich fälschlicher­weise im Besitz eines «Originals» wähnen.

9. NFTs können wie Tulpen­zwiebeln auch gestohlen, verloren oder bewusst zerstört werden, damit eine Verknappung der Ware erreicht wird. Gestohlen werden sie beispielsweise – wie auch andere digitale Dinge – durch Phishing-Scams (also die Täuschung zur Erlangung persönlicher Daten). Laut einer Umfrage unter tausend NFT-Besitzerinnen hatten rund die Hälfte von ihnen schon einmal den Zugang zu einem ihrer NFTs verloren. Das renommierte Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe verlor durch einen simplen Copy-Paste-Fehler versehentlich Zugang zu zweien seiner «Crypto Punks» im Wert von rund 400’000 Franken.

Man kann die Dinger aber auch absichtlich verlegen, besser gesagt, sie sind nun burned, verbrannt: Sie existieren dann zwar noch als Datensatz, zu dessen Adresse aber niemand Zugang hat. Und man ahnt es schon: All dies gab es natürlich auch bei den Zwiebeln, die häufig gestohlen, verlegt oder versehentlich, manchmal auch absichtlich zerstört wurden. Was der NFT-Legenden­bildung der Copy-Paste-Fehler eines Museum-Mitarbeiters ist, war der Tulpen­manie die Geschichte von dem Matrosen, der bei einem Kaufmann eine sündhaft teure Semper-Augustus-Tulpen­zwiebel von der Theke mitgehen liess im Glauben, es sei eine schnöde Gemüse­zwiebel. Die Zwiebel schnitt er sich dann auf seinen Herings­happen und verspeiste sie – und damit, so die Legende, den Gegenwert von einer Million US-Dollar.

10. Das Versprechen von Exklusivität und Verfeinerung, das die Spekulations­ware begleitet, führt zu verschiedenen Ausformungen. Superlativ-Behauptungen und endlose ästhetische Teil­variationen prägen nicht nur die NFT-Welt; so war es auch schon mit den Tulpen: Sie trugen neben der erwähnten, berühmten Semper Augustus ähnlich hochtrabende Namen mit Präfixen wie «Admiral» (meist ergänzt durch den Namen eines Züchters, etwa Admiral van der Eijck) oder «General», zuweilen noch gesteigert zu absurden Superlativen wie «Admiral der Admirale», «General der Generale» und so weiter. Mit anderen Worten: Wer sich hier einkaufte, war Mitglied des «Bored Ape Yacht Club» seiner Zeit.

Hinzu kommt die Ausdifferenzierung zwischen einem besonders exklusiven, teuren «Spitzenmarkt», an dem Fantastillionen-Preise für ein Beeple-Werk gezahlt werden oder eben der Gegenwert von 5 Hektaren Land für eine einzelne Zwiebel der «Semper Augustus» geboten wird (so geschehen 1636), und einem breiteren Einstiegs­markt für diejenigen, die wenig zum Investieren haben – Pfundware bei den Zwiebeln, die immer noch erstaunlich teuer waren, und eben NFTs in Tausender-Auflagen, die zu immer noch stolzen Preisen von einigen hundert Dollar gehandelt werden. Eine im Oktober 2021 veröffentlichte Studie – erarbeitet von einer internationalen Gruppe von Mathematikerinnen und anderen Wissenschaftlern, unter anderem vom Londoner Alan Turing Institute – lieferte erstaunliche Ergebnisse: So gingen bis dahin beispiels­weise rund 75 Prozent aller NFTs für unter 15 Dollar weg und nur 1 Prozent der NFTs für mehr als 1595 Dollar. Der Verdacht liegt nahe, dass – wie so oft – nur ein winziger Teil der Markt­teilnehmerinnen tatsächlich absahnen kann, während die überwältigende Mehrheit zwar dadurch angelockt wird, aber wenn überhaupt nur Brotkrumen abbekommt.

11. Der traditionelle Kunst­markt kann zwar volatil sein, folgt aber gewissen Gesetzen: Die Preise bilden sich im Zusammen­spiel von Reputation, Rarität und Spekulation. Die Reputation wird meistens – nicht immer – dadurch verbürgt, dass Künstler beziehungs­weise zu erstehende Werke Teile bedeutender Museums­sammlungen waren oder sind. Rarität liegt in der Regel auf der Hand: Einzel­stücke zum Beispiel sind fast immer deutlich teurer als Teile einer Edition oder einer Serie. Beides, Reputation und Rarität, kann schliesslich potenziert werden durch die Eigen­dynamik der Spekulation (und zuweilen Manipulation).

Der NFT-Markt funktioniert ähnlich, aber keineswegs identisch. So arbeitet dieser bislang weitgehend ohne den Goldstandard musealer Weihen. Auch hier gibt es aber eine Parallele zur Tulpen­manie: Sie fiel ja ins goldene Zeitalter der nieder­ländischen Malerei. Schon damals gab es signifikante Über­schneidungen und Wechsel­wirkungen zwischen avancierter Kunst und entfesseltem Kommerz, wenn auch nicht so deutliche wie heute zwischen klassischem Kunst­markt und NFT-Markt.

Nicht ohne meine Tulpen: Jan Brueghel der Jüngere, «Satire op de Tulpomania», um 1640. Frans Hals Museum/Wikimedia

Es waren schliesslich Künstlerinnen, die die reich illustrierten Tulpen­bücher anfertigten, das heisst Auktions­kataloge, die funktionierten wie virtuelle Marktplätze – ähnlich den heutigen NFT-Plattformen, nur eben handkoloriert. Manche Künstler mischten selber kräftig mit: Der angesehene Landschafts­maler Jan van Goyen beispielsweise verspekulierte sich dramatisch mit Tulpen­zwiebeln und hinterliess astronomische Schulden. Und es waren dann auch Künstlerinnen, die nach dem Kollaps die Aufarbeitung lieferten. So malte Jan Brueghel der Jüngere – sonst vor allem für seine Blumen-Stillleben bekannt – um 1640 mehrere Varianten einer Affenallegorie: Darstellungen vermenschlichter Affen galten in der Malerei der Renaissance als sinnbildlich für Gier und Dummheit, diesmal auf die Tulpen­manie gemünzt.

Kunst und Wahrheit

So weit also die frappierenden Parallelen zwischen Tulpenmanie und NFT-Hype. Sie führen uns letztlich zu einem ganz entscheidenden Phänomen: dem des grossen Spannungs­verhältnisses zwischen spekulativer Dummheit und künstlerischer Intelligenz. Es waren nämlich ebenjene Jahre der Tulpenmanie, in denen zeitgleich nicht weniger als ein neues Paradigma der Kunst entstand. Oder, um mit dem österreichischen Kunst­theoretiker Helmut Draxler noch einen Schritt weiter zu gehen: Hier entstand überhaupt erst das moderne Verständnis von «Kunst». In seinem zuletzt erschienenen Grundsatz­werk «Die Wahrheit der Nieder­ländischen Malerei» erläutert Draxler, wie sich im 16. Jahrhundert die Paradigmen ausprägten, die zeitgenössische Kunst und ihre Kritik überhaupt erst möglich gemacht haben.

Natürlich gab es schon vorher Kunst – grosse Kunst. Jede andere Behauptung wäre absurd angesichts der antiken, mittel­alterlichen oder ausser­europäischen Kunst bis hin zur italienischen Renaissance. Doch wenn man davon ausgeht, dass mit Kunst ganz spezifische Wahrheits­ansprüche verbunden sind – dass sie in einem sinnhaften und nicht bloss zufälligen Verhältnis zu ihrer jeweiligen Gegenwart steht und ihre ganz eigenen Botschaften transportiert –, ändert sich das Bild.

Dann muss auch in Betracht gezogen werden, dass die Kunst bis in die Neuzeit hinein ihren Wahrheits­anspruch weitgehend auf die Sphären der Religion und der (meist religiös legitimierten) politischen Macht abstützte und deren «Wahrheit» repräsentierte. Sie blieb bis zum Beginn des Aufstiegs einer bürgerlichen, viel stärker säkularen Kultur «im Himmel verankert», denn, so Draxler: «(…) noch in der Sixtinischen Kapelle stellt sich die Wahrheits­frage der Kunst gar nicht; Wahrheit ist innerhalb des religiösen Symbolisierungs­systems immer schon vorgegeben (…) Es gibt hier keinen Raum für Zweifel, Abwägung oder Kritik, sondern in der Tat nur ein reines, überwältigtes Staunen angesichts einer ‹Kunst›, die vom göttlichen Geist selbst zu stammen scheint.»

Die Wahrheitsansprüche der nieder­ländischen Malerei des 17. Jahrhunderts sind demgegenüber aber nicht einfach nur die säkularisierte Form solcher religiöser oder spiritueller Transzendenz, sondern sie eröffnen einen erdgebunden-horizontalen Raum für Zweifel, Irrtum, Abwägung und Kritik: Ist das gute Kunst – oder überhaupt Kunst? Und was erfahren wir mit ihr und durch sie?

Die zentrale Eigenschaft der Kunst wird so die Ambivalenz, die Unbestimmtheit. Zugleich wird die Frage nach der Wahrheit zu einer künstlerischen Kategorie. Und zwar deshalb, weil es aufgrund der beginnenden Verabschiedung von zuallererst religiös fundierter Macht auch im politischen Raum (Herrschaft von Gottes Gnaden) plötzlich Bedarf gibt, symbolisch-ästhetische Fragen zu den Verhandlungs­räumen zwischen Politik, Wissenschaft, Ökonomie und Religion zu stellen. Das heisst, es bleibt erst einmal offen, ob die Kunst die neuen Entwicklungen – die neuen gesellschaftlichen Klassen, die neuen Märkte – feiert oder kritisiert, anstatt sie bloss zu repräsentieren.

So wird die Kunst – insbesondere wenn sie für eine Öffentlichkeit zugänglich ausgestellt wird – zum symbolischen Möglichkeits­raum für das Unentschiedene, das Potenzielle, das Ambivalente. Erst so wird die Unter­haltung über die Kunst eine, die über Aspekte handwerklicher Virtuosität und Daumen-rauf-Daumen-runter-Fragen (Meister oder Scharlatan, Staunen oder Abscheu) hinausgeht.

Stattdessen steht nun im Zentrum: Was sehe ich da überhaupt, und was bedeutet es? Während die italienische Hoch­renaissance noch die Vorstellung des gemalten Bildes als Fenster hinein in eine eingefangene Realität favorisierte, wird, so Draxler, in der nieder­ländischen Malerei das Tafelbild zu einer «Schwelle». Ob Stillleben, Gruppen­bild oder Genre-Szene: Immer wieder sind die Betrachtenden auf eine Art ins Bild hinein impliziert, als Betrachtende mitgedacht, die an einer Schwelle stehen. Statt einer klaren Differenz zwischen Schein und Wirklichkeit ist es nun eine Malerei, die, so Draxler, «unterschiedliche Wirklichkeits­aspekte» aufruft und «die Spielräume zwischen ihnen verhandeln kann».

Anatomie des Zweifels

Ein berühmtes Beispiel ist Rembrandts «Die Anatomie des Dr. Tulp» von 1632 – wir wohnen einer Sektion am Leichnam bei, der Arzt führt am geöffneten Unterarm die Funktion der Muskel­stränge vor, umringt von neugierigen Mitgliedern seiner bürgerlichen Gilde der Chirurgen und Barbiere. Und wir als Betrachter komplettieren diese Umringung. Wir schauen auf ein Sinnbild der wissenschaftlichen Wahrheits­findung, das in säkularisierter Form an den Finger des zweifelnden Thomas in der Jesus-Wunde erinnert. Der Zweifel, das noch zu Ergründende, gehört fortan zum Ethos der Kunst. Sie bringt sich in Stellung nicht als Dienende der Religion und der Wissenschaft, sondern als deren Komplement, wenn nicht gar Konkurrentin im Ringen um Wahrheit und Erkenntnis.

Was sehe ich da überhaupt, und was bedeutet es? Rembrandt van Rijn, «Die Anatomie des Dr. Tulp», 1632. Mauritshuis/Wikimedia

Dass der Mann auch noch Nicolaes Tulp, mit Nachnamen also «Tulpe», hiess, war übrigens der Tatsache geschuldet, dass er nach seinem Studium in Leiden an der Amsterdamer Keizersgracht in ein Haus zog, an dem ein Schild mit einer Tulpe hing – und er sich fortan diesen Namen gab (eigentlich hiess er Claes Pieterszoon). Die Tulpe wurde sein Familien­wappen und sein Markenzeichen.

Es mag Zufall gewesen sein, dass Rembrandts sinnbildlicher Wahrheits­sucher ausgerechnet die Tulpe zu seinem Emblem machte. Aber es passt. Zur vermeintlich kalten Wissen­schaftlichkeit der Wahrheits­suche (die bleiche Leiche) gesellen sich die Anmut, der Variations­reichtum der Tulpe. Zur Ernsthaftigkeit gesellt sich die haltlose Spekulations­blase um die schöne Zuchtblume. Doktor Tulp ist ein schillernder Mosaik­stein in der historischen Genealogie der aktuellen Kunst, inklusive des NFT-Hypes.

Jedenfalls schuf die offene Wahrheits­frage der niederländischen Kunst –wie Draxler aufzeigt – die Voraussetzungen für die moderne Kunst, für ihre Zuspitzungen auf Konzept und Abstraktion, für das radikale Oszillieren zwischen hehrer Ästhetik und Markt­spekulation, für das gleichzeitige Abgrenzen von und Aufgehen in der rohen Wirklichkeit. Die Kunst wird im positiven Sinne paradox: Ihr «Spezifisches ist ihr Nicht-Spezifisches, ihr Sinn wurzelt im Sinnlosen».

Die Widersprüche der modernen Kunst

Vielleicht ist es also das, was in der aktuellen Kunst und in den NFTs kulminiert und verschmilzt: einerseits ein völlig entfesselter neuer Markt um Versprechen und Wetten auf ein ästhetisches Objekt der Begierde; andererseits eine Entwicklung der Kunst, die ihren Wahrheits­anspruch zunehmend paradox werden lässt. Für diesen Wahrheits­anspruch liegt, wie wir mit Draxler gesehen haben, die Wurzel im niederländischen 16. Jahrhundert; zu voller Ausprägung kommt er jedoch erst im 20. Jahrhundert durch Duchamp, Dada, Konzept­kunst, Minimal Art und Pop-Art.

Erst im 20. Jahrhundert wurden die Voraussetzungen geschaffen, nach denen auch ein Grossteil der zeitgenössischen Kunst – und mit ihr die NFTs – heute funktioniert. Eine erste Grundlage ist das, was sich mit Marcel Duchamps Readymades etabliert: Ein Kunstwerk kann ein vorgefundenes, industriell gefertigtes Objekt sein, etwa ein Flaschen­trockner, eine Schnee­schaufel oder ein Urinal (heute: eine Datei).

Zweitens kann wie bei einer Dada-Collage und im Surrealismus Sinn und Unsinn durch Kollision vorgefundener Bilder entstehen (wie erwähnt fussen viele algorithmisch zusammen­gewürfelte NFT-Bildchen auf dem Cadavre-Exquis-Prinzip).

Drittens kommt die Serialität, die maschinelle Reproduktion hinzu: Wie bei den in Reihe aufgestellten Kisten der Minimal Art eines Donald Judd oder den Siebdruck-Serien Andy Warhols wird die industrielle Produkt­welt in der mechanischen Wieder­holung des künstlerischen Artefakts gespiegelt.

Dieser lange Abschied vom virtuos handgefertigten Kunstobjekt (das natürlich zeitgleich an anderer Stelle weiterlebt, auch in der zeitgenössischen Kunst) gipfelte in den 1960ern in der «Dematerialisierung des Kunstwerks» wie es damals die Kunst­kritikerin Lucy Lippard taufte. Die Konzept­kunst zeigte Ideen  – ob noch als Objekt konkretisiert oder nur mehr mitgeteilt. Einige davon nahmen sogar den Charakter eines blossen Vertrags an. Der US-Amerikaner Douglas Huebler veröffentlichte 1969 – als Readymade – ein «Wanted»-Poster des FBI, auf dem nach einem flüchtigen Bankräuber gefahndet wurde, ergänzt um eine weitere Belohnungs­klausel seitens des Künstlers: 1100 Dollar bot er ab dem 1. Januar 1970 bei sachdienlichen Hinweisen, die zur Ergreifung führen, er verringerte allerdings die Summe pro Monat um 100 Dollar, sodass sie zum 1. Januar 1971 bei null Dollar anlangte (der Bankräuber wurde erst 1981 verurteilt, Huebler konnte sein Geld also komplett behalten).

Huebler führte das System finanzieller Belohnung ad absurdum, auch in Bezug auf mögliche Käufer des Kunstwerks, die mit dessen zeitnahem Erwerb auch die Belohnung hätten berappen müssen. Das Ziel dabei war aber vor allem, die Sphäre der juristischen und ökonomischen Vertrags­bestimmungen selbst zum Material und Medium von Kunst zu machen. Und es war dann ein gewisser Seth Siegelaub, der diesen Gedanken tatsächlich auch auf den Kunst­markt selber anwandte.

Siegelaub war der massgebliche Impresario der New Yorker Konzept­kunst, er vertrat Huebler, Robert Barry oder Joseph Kosuth und machte sie erst richtig bekannt. Darüber hinaus war er 1971 der Initiator des The Artist’s Reserved Rights Transfer and Sale Agreement, eines Künstler-Verkaufs­vertrags, der erstmals Künstlern Anteile beim Wiederverkauf zusprach – wie das durch NFTs nun auch möglich und üblich geworden ist (bei Siegelaub wurden 15 Prozent Royaltys für Wieder­verkäufe vorgesehen, bei NFTs sind es in der Regel 5 bis 10 Prozent). Siegelaubs Vertrag wird bis heute in Kunst­kreisen zitiert (wie auch hier), durchgesetzt hat er sich nicht – mutmasslich vor allem, weil Galeristinnen davor zurück­schreckten, ihren möglichen Käufern die Wiederverkaufs­klausel aufzudrücken. Dass es bei NFTs weithin akzeptiert ist, kann neben dem geringeren Prozentsatz auch einen schlicht technologischen Grund haben: Wir sind bei elektronischen Verträgen nun einmal viel eher bereit, das «Kleingedruckte» mit einem Klick zu akzeptieren (meist ohne es gelesen zu haben), als bei analogen Papier­verträgen, die es händisch zu unterzeichnen gilt.

Die Technologie spielt also auch für die Akzeptanz und das Selbst­verständnis von Künstlerinnen wie Sammlern im Vertrags­vollzug eine nicht unerhebliche Rolle. Aber welche Rolle spielt sie künstlerisch? Wir haben schliesslich gesehen, dass künstlerische Auseinander­setzungen mit Readymade und identischer Kopie ebenso wenig voraussetzungs- und geschichtslos sind wie solche mit Kauf- und Vertrags­vorgängen.

Der Kunstkritiker Kolja Reichert hat es in seinem Lang-Essay zur «Krypto-Kunst» so formuliert: «NFT-Kunst wirkt wie die realisierte Utopie einer Entmaterialisierung von Kunst, von der die Dadaisten, gefolgt von Fluxus und Konzept­kunst, träumten. Nur, dass zwar das Material verschwunden ist, aber der Waren­charakter bestehen bleibt. Man könnte sagen: Die Kunst ist verschwunden und hat nur ihre kommerzielle Hülle übrig gelassen.»

Nur ihre kommerzielle Hülle übrig gelassen – diese Beobachtung muss man erst mal sacken lassen. Ob sie realisierte Utopie oder nicht eher Dystopie ist?

Die Net-Art der 1990er-Jahre setzte ähnlich wie NFT auf neue Technologie als Träger von Ideen und sass zumindest teilweise einem dadurch ähnlich begrenzten Sichtfeld auf, begrenzt auch durch die Eigenlogik und schnelle technische Obsoletheit der benutzten Tools. Einige wenige smarte internet­basierte Projekte haben den Eintrag in die Kunst­geschichte (und in Sammlungen) geschafft, aber allein schon die Tatsache, dass sie auf längst veralteten und oft nicht mehr unterstützten Protokollen beruhen, macht die Sache ausnehmend schwierig. Ob das bei Blockchain wirklich anders sein wird, muss sich noch zeigen.

Zwischen­menschliches statt Bytes

Vielleicht ist das die Hauptlektion der Entmaterialisierung der Kunst im 20. Jahrhundert: Wirklich konsequent wird es, wenn zu ihrer Produktion so wenig technischer Aufwand wie möglich betrieben werden muss. Wenn nichts als Gedanken, Gesten, Begegnungen ihre Wirkung entfalten, zum Beispiel in den Werken des deutsch-britischen Künstlers Tino Sehgal. Seine performance­artigen Werke, die mit Gesprächen und zuweilen tänzerischen Elementen arbeiten, sind in bedeutende Museums­sammlungen wie die des Moma eingegangen. Aber die Museen haben dazu keine schriftliche Aufzeichnung, keine Fotos, nicht einmal einen schriftlichen Vertrag – sie mussten die Werke bar in Anwesenheit eines Notars kaufen. Nur über mündliche Instruktion darf die Arbeit weiter­gegeben werden.

Diese Umgehung von Aufzeichnungs­technologie und Verschriftlichung ist aber nicht in Technophobie oder Schrift­feindlichkeit begründet. Angestrebt wird von Sehgal vielmehr die – tatsächlich dadurch einsetzende – Intensivierung der zwischen­menschlichen Akte des Sprechens, des Inter­pretierens, der Abmachung.

Vielleicht liegt da der Schlüssel, auch die ökonomischen Kapriolen und künstlerischen Untiefen der NFT-Blase zu überstehen. Vitalik Buterins Projektierung von soulbound NFTs geht bereits in diese Richtung: Es geht darum, vom Casino­feeling wegzukommen und davon, dass NFTs die Tatsache aufhübschen, dass Blockchain letztlich eine, so Kolja Reichert, «Buchhaltungs­technologie» ist. Stattdessen muss auf die Hoffnung gesetzt werden, dass NFTs zu einer Art Zertifizierung und Symbolisierung gesellschaftlicher Initiative werden, die zwischen Individuum und Gemeinschaft im Sinne von Transparenz und Gerechtigkeit vermittelt – und zu einem Ort für künstlerische Ideen, die genau dieser Vision ästhetisch auf den Zahn fühlen.

Die konzeptuell bislang vielleicht konsequenteste Variante von NFT-Kunst stammt von dem Schweden Jonas Lund. Bereits 2018 lancierte er den «Jonas Lund Token», der genau das ist, was er sagt: Der Künstler tokenisiert sich selbst. Nicht nur sein Name wird etwas, an dem man Anteile halten kann, sondern das künstlerische Handeln selbst wird zum Gegenstand einer durch Wertgutscheine vermittelten Verständigung. Das zielt natürlich nicht nur auf die Blockchain-Welt, sondern auch auf den immer noch sehr präsenten Mythos vom Einzel­künstler­genie, das aus unerklärlichen kreativen Quellen schöpft.

Lund, Jahrgang 1984, treibt das Prinzip der Multi-Optionalität in der Lebens- und Karriere­planung auf die Spitze, was für die Generation der Millennials typisch ist. Der Künstler tritt zugleich als Unternehmer seiner selbst auf, der virtuelle Galerie­besuch seiner Investoren wird zu einer Art Vorstands­sitzung. Alles repräsentiert gleichzeitig immer mindestens zwei Dinge in zwei bis dahin getrennten Werte­systemen.

Letzten Herbst stellte Lund im digitalen Nachbau der Berliner Galerie König auf der Meta-Plattform Decentraland aus: Sein Alter Ego stapfte durch die Architektur, es gab einen riesigen langen Tisch mit 50 Stühlen für die Anteilseigner und einen für ihn selbst als zentrales Exponat, darum herum waren grosse Puzzle­stücke mit privaten Urlaubs­schnappschüssen arrangiert, die ihm der Apple-Foto-Algorithmus als besonders teilenswert vorgeschlagen hat. Kunst als konsequentes Nullsummen­spiel.

Es gibt nichts, was ein Künstler nicht kann: Jonas Lund als virtueller Galeriebesucher. «On this Day», 2021. Courtesy of the artist and KÖNIG GALERIE Berlin, London, Seoul

Doch Lund sitzt seiner so entfalteten Logik radikaler Opportunität natürlich nicht einfach auf. Er schliesst sie kurz mit jener Wahrheits­ambivalenz von Kunst, die in den Niederlanden einst zur ersten Tulpenblüte führte. Bei der man sich also nie zu hundert Prozent sicher sein kann, ob sie etwas enthusiastisch feiert oder ironisch kritisiert, ob sie Pamphlet oder Parodie ist, Feier oder Denunziation. Und die uns damit hineinzieht in das Spiel der ästhetischen Wahrheits­suche.

Zum Autor

Jörg Heiser ist Direktor des Instituts für Kunst im Kontext der Universität der Künste in Berlin. Er war knapp zwanzig Jahre lang Redaktor der britischen Kunst­zeitschrift «Frieze».

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