Duttis Vermächtnis

Soll die Migros künftig Alkohol verkaufen? Im Vorfeld der Abstimmung führen die Gegner den Gründer Gottlieb Duttweiler als Kronzeugen an. Ausgerechnet.

Von Philipp Albrecht (Text) und Andrea Ventura (Illustration), 23.05.2022

Vorgelesen von Patrick Venetz
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Mann mit Zigarre: Gottlieb Duttweiler.

8 Rappen pro Liter: Kurz nach der Gründung der Migros Mitte der 1920er-Jahre hätte Gottlieb Dutt­weiler zu diesem Preis Wein ein­kaufen können. Hätte er zuge­griffen und seine üblich kleine Marge drauf­geschlagen, wäre die Migros deutlich günstiger gewesen als die Kon­kurrenz. Das wäre perfekt mit Dutt­weilers Maxime «mehr Umsatz, weniger Gewinn» vereinbar gewesen.

Doch Dutti lehnte ab. Alkohol passte nicht in sein Sorti­ment. Denn bei ihm war alles bis zu 30 Prozent günstiger als anderswo. Und wenn er auch Alkohol so billig verkauft hätte, wären noch mehr Familien­väter zu Trinkern geworden. Die Migros war schliess­lich für die Kunden da. Und der Verkauf von preis­wertem Alkohol wäre kein Dienst am Kunden gewesen.

So steht die Anek­dote in der grossen Duttweiler-Biografie von Curt Riess, erstmals veröffentlicht 1958. Diese Geschichte wird jetzt, fast 100 Jahre nach dem Entscheid gegen den 8-Rappen-Wein, wieder aufgewärmt. Von jenen, die sich für den Status quo aussprechen: kein Alkohol in den Regalen der Migros.

Ob das so bleibt, entscheiden die über 2 Millionen Migros-Genossenschafter in diesen Tagen. Noch bis am 4. Juni dürfen sie in den Filialen oder per Post abstimmen.

Laut einer repräsentativen Umfrage würde in der Schweiz eine Bevölkerungs­mehrheit von 58 Prozent dazu tendieren, dass bei der Migros alles beim Alten bleibt. Gleichzeitig sinkt der Alkoholkonsum in der Schweiz. Trotzdem tobt der Abstimmungskampf.

In den letzten Monaten sind Hunderte Medienartikel zum Thema erschienen – flankiert von Tausenden Leser­beiträgen, in denen die Schweizer über ihre Migros debattieren und viele von ihnen angeblich wissen wollen, dass sich Dutti ob der Alkohol­frage im Grab umdrehen würde.

Doch die ganze Aufregung ist eigentlich ein Neben­schauplatz – und erst noch ein von Mythen verklärter. Gottlieb Dutt­weiler war das Thema Alkohol relativ egal. Er war ein Prag­matiker. Einiges spricht dafür, dass er sich heute für den Alkohol­verkauf einsetzen würde.

Dutt­weiler ist aber auch verant­wortlich für das Haupt­problem der Migros: ihre dezentrale, komplizierte und teure Struktur. Sie sorgt unter anderem dafür, dass bei dem Gross­unternehmen vieles politisch statt geschäfts­orientiert entschieden wird. Was wiederum dazu führen könnte, dass es bald in Zürcher Filialen Alkohol zu kaufen gibt, an den Standorten in Winterthur (die zur Genossenschaft Migros Ostschweiz gehören) hingegen nicht – oder umgekehrt.

Um das zu ändern, bräuchte es mehr als nostalgische Appelle, wie ein Blick auf die aktuelle Ausgangs­lage zeigt.

Die Kampagne

Auf keinen Fall Alkoholverkauf in den Migros-Filialen! Das widerspricht den Leitgedanken von Gottlieb Duttweiler.

Leserinnenkommentar von Lilo Schmid, 4.11.2021, luzernerzeitung.ch

Im Januar 2022 hatte Herbert Bolliger, Chef der Migros von 2005 bis 2017, einen Alb­traum. Als er aufwachte, war ihm klar, dass das nicht eintreffen dürfe. «Da habe ich mir gesagt: Ich muss etwas machen», erklärte er auf TeleZüri. Zu diesem Zeit­punkt liegt sein letztes Inter­view als operativer Chef vier Jahre zurück. Damals meinte er: «Ich werde mich in Zukunft nicht mehr zur Migros äussern.»

Warum brach Bolliger sein Versprechen und redete im Fernsehen plötzlich doch wieder über die Migros?

Dazu müssen wir ein wenig zurück­blenden. Im Jahr 2006 übernahm die Migros die Aktienmehrheit am Internet-Portal LeShop.ch. LeShop war der Online-Pionier im Schweizer Lebensmittel­handel. Jahrelang betrieb die Migros das Portal unter der Marke LeShop. 2020 dann traf die Migros-Konzern­leitung einen folgenschweren Entscheid: Die Marke LeShop wurde eingestellt und aus Marketinggründen in migros.ch umbenannt.

Es ist nicht verbürgt, ob sich die Verantwort­lichen der Trag­weite dieses Entscheides bewusst waren. Und dass sie so einen Prozess ins Rollen brachten, den Generationen von Migros-Managern stets zu verhindern wussten: eine Abstimmung zur Alkohol­frage.

Denn mit der Umbenennung von LeShop wurde automatisch und erstmalig Alkohol klar erkennbar unter dem Migros-Banner angeboten. LeShop führte schon seit jeher Alkohol im Sortiment, genauso wie Migrolino und Denner, die ebenfalls zur Migros-Gruppe gehören (weshalb das Unternehmen nach Coop der zweit­grösste Alkohol­händler im Land ist). Doch die Konzern­leitung hatte die Grenze bislang beim Namen Migros gezogen, oder wie gerne betont wurde: kein Bier unter dem «orangen M».

Weil der Online-Kanal nun ebenfalls dieses «M» übergezogen bekam, musste im Juni 2020 die Delegierten­versammlung (das Migros-Parlament) darüber befinden, ob auf migros.ch Alkohol verkauft werden darf. Das Anliegen kam mit 78 zu 15 Stimmen durch.

Eine Zürcher Delegierte fand darauf­hin, dass diese neue Ausgangs­lage die Statuten der Migros strapazieren würde. Damit war der Zeit­punkt gekommen, wieder die Grundsatz­frage zu stellen. Gemeinsam mit vier weiteren Dele­gierten leitete sie den Abstimmungs­prozess ein.

Migros Ex-Chef Bolliger, der nach seiner Pensio­nierung unter anderem in den Verwaltungs­rat eines grossen Ostschweizer Wein­händlers berufen wurde, wartete darauf, dass die Alkohol­frage in einem der unzähligen Migros-Gremien hängen bleiben würde. Doch zu seinem Erstaunen hielten nicht nur die regionalen Genossen­schaftsräte den Daumen nach oben, sondern auch die dortigen Führungs­gremien und die Chefs der Zentrale in Zürich, dem Migros-Genossenschafts-Bund (MGB).

Das war der Moment, in dem Bolliger aktiv wurde. Um seinen Alb­traum einer Migros mit Alkohol zu verhindern.

Im Januar schrieb er seinem Ex-Cheflobbyisten Martin Schläpfer eine Mail. Schläpfer rief daraufhin den früheren Migros-Sprecher Urs Peter Naef an, der wiederum seine Ex-Vorgesetzte, die frühere Kommunikations­chefin Monica Glisenti, ins Boot holte. Bolligers Mitstreiter sind immer noch bestens vernetzt in der Werbe- und Medien­branche und hoch motiviert, eine Kampagne gegen die Einführung von Bier und Wein in der Migros zu fahren. Sie besteht bislang vor allem aus Bolligers Präsenz in unzähligen Artikeln und Beiträgen.

Erstmals seit seiner Pensionierung tauchte Bolligers Name wieder in den Schlag­zeilen auf. In einem Interview schwärmte er: «Gottlieb Duttweiler war ein Visionär.» Und: «Er war dagegen, dass in Migros-Filialen Alkohol verkauft wird.»

Dutti eben.

Dabei stimmt der zweite Satz nur halb. Zwar wollte Dutt­weiler die Probleme des Alkoholismus nicht noch mit Discount­preisen für Bier und Wein fördern. Doch mit dem Wein­überfluss nach dem Zweiten Welt­krieg verschwand seine Ablehnung wieder. Mehr noch: Er wollte das Alkohol­verbot aufheben und «einheimischen Wein als Aktion zur Förderung des Konsums» einführen. 1948 kam der Vorstoss zur Abstimmung: Eine knappe Mehrheit der Genossen­schafterinnen sagte Nein.

Anfang der 1950er-Jahre äussert sich Dutt­weiler in einem Inter­view wider­sprüchlich. Einerseits sagte er, er sei selber gegen den Weinverkauf: «Wenn man ein Prinzip 27 Jahre durch­gehalten hat – und ein rechtes Prinzip – so soll man es nicht aus Opportunitäts­gründen aufgeben.» Anderer­seits schien er davon auszugehen, dass die Migros nicht für immer daran fest­halten würde: «Vielleicht als Aller­letztes wird dann doch in den nächsten fünfzig Jahren der Wein­verkauf eingesetzt.»

Mehr als diese Aussagen und die Eingangs­anekdote lässt sich zu Dutti und Alkohol nicht finden. In der 400 Seiten starken Duttweiler-Biografie wird das Thema in zehn Sätzen abge­handelt. Im 2007 erschienenen Dokumentar­film «Dutti der Riese» kommt das Wort Alkohol noch nicht mal vor. Und selbst in den 15 Thesen von Gottlieb und Adele Duttweiler, einer Art ethischem Kompass, steht nichts dazu.

Warum? Weil Dutti ganz andere Fragen relevant fand.

Der Visionär

Dutti würde sich im Grab umdrehen wenn er das wüsste.

Leserkommentar von «Frommherz», 18.7.2021, tagesanzeiger.ch

Er war eine Jahrhundert­figur, ein Gestalter, ein Streit­lustiger, ein Furcht­loser. Und Gottlieb Dutt­weiler war das Gesamt­paket: Unter­nehmer, Publizist, Politiker. Er spürte die Bedürf­nisse der Schweizer Haus­frau der 1920er- und 1930er-Jahre, sah den Zweiten Weltkrieg und die drohenden Versorgungs­engpässe voraus und wusste vor allen anderen, dass Wirtschafts­kartelle keine Zukunft haben.

Er schuf mit der Migros eine Marke, die auch nach 100 Jahren noch höchste Glaub­würdigkeit geniesst. Er hat die grösste Kultur­förderung im Land gegründet, einen Reise­anbieter, ein Tankstellen­netz, einen Buch­club, eine Bank, ein Weiterbildungs­universum und riesige Produktions­stätten für Lebens­mittel und Hygiene­produkte.

Dutti beschäftigte sich mit Flüchtlings­hilfe, Landwirt­schaft und Volks­gesundheit. Er gründete seine eigene Partei und expan­dierte mit der Migros nach Deutsch­land (bis Hitler ihn enteignete) und in die Türkei. In den USA schrieben die grossen Zeitungen Porträts über ihn, und in Deutsch­land inspirierte er den Drogerie-Unternehmer und Für­sprecher des bedingungslosen Grundein­kommens Götz Werner.

Er verlor regel­mässig die Fassung, warf aus Frust über einen Ent­scheid im National­rat einen Stein durch ein Bundeshaus­fenster und besetzte für einen Hunger­streik den Haupt­sitz des Roten Kreuzes in Genf. Seine Frau Adele sagte einmal über ihn: «Manch­mal schaue ich auf das Kinde herab, manch­mal zum Mann der Tat empor.»

Seine Feinde (die Konkurrenz, die Kommunisten, die Liberalen, die NZZ) hassten ihn aus tiefstem Herzen. Seine Kundinnen verehrten ihn. Er gab unzählige Auftritte. «Oft wurden seine Veran­staltungen ohne Thema ange­kündigt, einfach mit der Schlag­zeile: Gott­lieb Dutt­weiler spricht!», schreibt Publi­zist Karl Lüönd im Vorwort zur Duttweiler-Biografie. Bei seiner Abdankungs­feier im Juni 1962 waren die Strassen um die Zürcher Fraumünster­kirche von Menschen gesäumt.

All das geschah vor sehr langer Zeit. Es spricht für ihn, dass man noch 60 Jahre nach seinem Tod so oft seinen Namen nennt. Aller­dings wandelte sich die Dutti-Verehrung mit der Zeit auch zu einem Personen­kult.

Das streitet David Boss­hart nicht ab. Der Präsident der Gottlieb-und-Adele-Duttweiler-Stiftung ist so etwas wie der oberste Nachlass­verwalter von Duttis Erbe und verwendet in Inter­views Sätze wie: «Die Migros lässt niemanden kalt.» Oder: «In entscheidenden Werte­momenten gibt es immer nur eine Migros.»

Danach gefragt, wie konkret sich Dutti etwa zum Alko­hol geäussert habe, sagt er: «Die Suche nach Aus­sagen oder Zitaten, an denen man Gottlieb Dutt­weilers Meinung oder Haltung fest­machen kann, halte ich für eher beschränkt ziel­führend. Nach meiner Einschätzung ist viel mehr als vermutet auch aus Zufall und Zwängen heraus entstanden und wurde danach von Biografen, die oft wenig Bezug zum Geschäft hatten, als visionär rationalisiert.»

Das erklärt, warum die Alkohol­gegner Duttis Entscheid aus den 1920er-Jahren zu einem Teil der Migros-DNA hoch­stilisieren.

Bosshart sagt auch, dass «oral history» für die Migros immer eine grössere Rolle gespielt habe als Geschichts­schreibung. Vieles von dem, was Dutti heute zuge­schrieben wird, beruht auf mündlicher Über­lieferung. «Er war ein Visionär, weniger ein Stra­tege und im Alltag ein typischer Detail­händler, der sich vom Alltags­geschäft mitreissen liess. Das heisst, er hat sehr schnell seine Meinung formuliert, aber danach gleich wieder geändert», so Bosshart.

Kurzum: Dutti in der Figur des kon­sequenten Alkohol­gegners ist eine nostalgische Projektion. Eine Projektion, auf die in anderen Fällen nur zu gerne verzichtet wird – wenn es den eigenen Inte­ressen aktuell mehr dient.

Der Widerspruch

Die Migros ist heute nicht mehr Duttis Migros. Immer mehr Fremdmarken, weil einige im Management noch immer der Meinung sind, die Migros dürfe sich punkto Produkte nicht mehr vom Coop unterscheiden.

Leserkommentar von Theo Fiechter, 14.2.2021, tagesanzeiger.ch

Im Migros-Universum lebt Dutti weiter. Sein Vermächtnis nährt den Anspruch der Migros-Kinder, dass sich ihre Migros nicht nur von der Konkurrenz, sondern gleich von allen anderen Gross­unternehmen abheben muss. «Die Migros gehört den Leuten» war der Claim der grossen Werbekampagne 2017.

Das führt zur Maxime, dass Profite den Kundinnen zugute­kommen müssen. Dass bei der Migros weder die Teppich­etage noch irgendwelche Aktionäre profitieren, scheint aus heutiger Sicht selbst­verständlich. Doch zu Duttis Zeiten war das für den Detail­handel revolutionär. Er war es, der die Idee vom sozialen Kapital in der Schweiz etablierte. Das perfekte Allein­stellungs­merkmal.

Dieses Wort prägt nun auch den Alkohol-Abstimmungs­kampf. Herbert Bolligers Nachfolger Fabrice Zumbrunnen sagt zum Alkoholverbot: «Ja, es ist ein Alleinstellungs­merkmal der Migros.» Bolliger selber benutzt das Wort geradezu inflationär.

Allerdings ist die Migros noch mit einigen anderen Eigen­heiten ausgestattet, etwa dem Kultur­prozent oder der beliebten Eigenmarken-Strategie. Doch ausgerechnet während Bolligers Amts­zeit verschwanden immer mehr der Eigen­gewächse aus den Migros-Regalen. Das hat damit zu tun, dass die Konkurrenz eben nicht schlief.

Gerade Konkurrent Coop hat viel von Dutti gelernt und zunehmend auf Kunden­bedürfnisse reagiert. Mit den Jahr­zehnten verwischte die Grenze zwischen dem orangen M, das stets günstiger, eigen­ständiger und volks­naher war, und dem einst elitären und über­teuerten orangen C immer mehr – wovon Coop profi­tierte.

Seit Mitte der Nuller­jahre agiert die Migros fast nur noch aus der Defensive. Das Bio-Engagement von Coop erwischte sie auf dem falschen Fuss. Mit einem eigenen (weniger strikten) Bio-Label und teuren Koopera­tionen versucht sie seither, Boden gut­zumachen. Noch schlimmer war der Preis­schock, den die deutschen Dis­counter Aldi und Lidl im Schweizer Markt verur­sachten.

Dazu kam ein neuer Trend: Die Verschmelzung von Marken­produkten und Identität. Plötzlich tauchten Coca-Cola und Nivea in den Migros-Regalen auf, während Eigen­marken verschwanden. Dabei gehen viele Eigen­marken auf Duttis Erfinder­geist zurück. Viele davon sind längst Kult­produkte, Allein­stellungs­merkmale.

Kein Mensch kann sagen, wie Dutti auf die heutigen Heraus­forderungen reagiert hätte. Was von ihm überliefert ist, legt nahe, dass er die Eigen­marken höher gewichten würde als den Alkohol.

Hätte also Herbert Bolliger nicht eher den Eigen­marken mehr Sorge tragen müssen, als jetzt etwas zu bekämpfen, für das es sich aus Duttis Sicht gar nicht zu kämpfen lohnt? Setzt Bolliger auf das falsche Allein­stellungs­merkmal? Am Telefon mit der Republik äussert er sich ausführlich, gibt aber später via seine frühere Kommunikations­chefin Monica Glisenti nur knappe State­ments frei: «In Umfragen hat sich gezeigt, dass die Kund­schaft gewisse Produkte vermisst.»

Was er damit sagen will: Es gibt nicht unendlich Platz im Migros-Regal. Wenn die Leute Marken­produkte wollen, muss dafür anderes weichen.

Im Detail­handel spricht man von Must-in-Stock-Produkten: Marken, die unver­zichtbar sind, weil die Kund­schaft sonst den gesamten Ein­kauf bei der Kon­kurrenz tätigt. In der Deutsch­schweiz zählen heute etwa Gillette, Nivea und Rivella dazu.

Mit der Zeit kamen immer mehr solche Marken in die Migros-Regale – auf Kosten der Eigen­marken. Bolliger sagt dazu: «Während meiner Zeit sind überhaupt nicht viele Eigen­marken verschwunden. Wir haben das Sorti­ment lediglich mit ein paar Marken­artikeln ergänzt.» Nach­prüfbar ist diese Aussage nicht. Offen­bar ist aber der Anteil Eigen­produkte zwischen 2013 und 2020 von rund 90 auf 75 Prozent gesunken. Bolligers Nach­folger Zumbrunnen führt diesen Weg fort.

Klar ist: Bei lang­jährigen Migros-Kundinnen, die jetzt in vielen Filialen auf Augen­höhe Lindt-Schokolade vorgesetzt bekommen, während sie sich für die Eigen­marke Frey bücken müssen, greift Bolligers Argument nicht. Ihm kann das heute egal sein. Denn gerade diese Kunden sind es, die gegen die Alkohol­einführung stimmen, weil sie fürchten, dass ihre Migros sonst wie alle anderen wird. Erst die Eigen­marken – nun auch noch der Alkohol!

Derzeit deutet vieles darauf hin, dass sich dieses Kunden­segment an der Abstimmung durch­setzen wird. Denn die Hürden für ein Ja sind höher als bei einer normalen Abstimmung. Das hat mit den Statu­ten zu tun und mit einer schwer­fälligen Firmen­struktur, für die – auch das eins seiner Vermächt­nisse – Dutti mit verantwortlich ist.

Das Unternehmen

Sonst ist Migros nicht mehr Migros, wenn einfach alles über den Haufen geworfen wird, wo Dutti gegründet hat.

Leserinnenkommentar von hiltirh, 18.7.2021, tagesanzeiger.ch

1941 verschenkte Duttweiler seine Migros. Die AG wurde zu einer Genossenschaft, was von Historikern als «spektakulärer Einzelfall» bezeichnet wird, denn eigentlich gehen Umwand­lungen in die andere Richtung.

Aber Dutti hatte seine Gründe. Er traf die Ent­scheidung mitten im Zweiten Weltkrieg, als er davon ausgehen musste, dass Hitler doch noch die Schweiz überfallen und Unter­nehmer ent­eignen könnte. Zudem hatten die Duttweilers keine Kinder, an die sie die Firma hätten weiter­geben können.

Duttweiler «schwebte so etwas vor wie die Umwandlung der Migros in eine Art Miniatur-Eidgenossen­schaft», schrieb sein Biograf Riess. «Dies war für ihn eine innere Notwendigkeit, die einzige Haltung, die dem Ernst der Zeit entsprach.» Also baute er ein Modell, das mehr politisch als geschäfts­orientiert war: ein födera­listisches Konstrukt aus starken regionalen Migros-Genossen­schaften.

Das ist bis heute so geblieben. Jede Migros-Region hat eigene Statuten, eine eigene Geschäfts­leitung, einen eigenen Verwaltungs­rat und als Pseudo-Parlament einen Genossen­schaftsrat. Dieser sollte eigentlich die Mächtigen kontrollieren, hat aber kaum Einfluss – Dutti wollte das explizit so. Ausserdem wird nur aufgenommen, wer dem regionalen Management genehm ist. Damit agieren die zehn Migros-Genossen­schaften zu einem beträchtlichen Teil autonom.

In den Regionen finden sich nicht nur unter­schiedliche Sorti­mente, sondern auch unter­schiedliche Mentali­täten. Dazu kommt, dass Genossen­schaften heute per Gesetz weniger transparent sein müssen als börsen­kotierte Aktien­gesellschaften. So entstanden in den Migros-Regionen mit der Zeit kleine König­reiche mit den klassischen Auswüchsen: Macht­missbrauch, Günstlings­wirtschaft, Reform­stau.

Ein Beispiel dafür: Damien Piller, ehemaliger Präsident der Genossen­schaft Neuenburg-Freiburg. Gegen ihn laufen mehrere Strafuntersuchungen wegen ungetreuer Geschäfts­besorgung, Urkunden­fälschung und Betrugs. Er war 22 Jahre lang im Amt. In anderen Genossenschaften sitzen Vertreter schon seit 30 Jahren im Verwaltungsrat.

Nach einem grotesken Streit zwischen dem Migros-Genossenschafts-Bund und Piller wurden vor zwei Jahren die Regeln leicht verschärft. Daraufhin musste der Chef der Migros Aare seinen Sessel räumen, weil er seiner Ehefrau Aufträge zugeschanzt haben soll. Insgesamt leidet die Migros weiterhin an allen Ecken und Enden an einem Reform­stau, den die Republik 2019 in einer Serie ausführlich aufgearbeitet hat.

Auch Kon­kurrent Coop litt lange unter einer lähmenden Genossenschafts­struktur, löste das Problem aber vor 20 Jahren mit einer radikalen Fusion. Inzwischen wird das Unter­nehmen zentralistischer und agiler geführt.

Die Migros konnte sich nie zu einem solchen Schritt durch­ringen. Statt sich zu fragen, welcher Kern von Dutt­weilers Vermächt­nis heute noch wichtig ist oder wie das Unter­nehmen diesen in der heutigen Zeit umsetzen könnte, stolpert man von einer Detail­frage zur nächsten. Und lässt über einen Neben­schauplatz abstimmen, der zum grossen Symbol wird.

Dazu passt perfekt, was eine mögliche Folge der Alkohol­abstimmung sein könnte: dass die Migros nämlich künftig in manchen Regionen Alkohol verkauft, in anderen nicht. Denn die Abstimmung wird in jeder der zehn Regionen separat durch­geführt, weil alle Genossen­schaften (mit Ausnahme von Genf) vor 40 Jahren das Alkohol­verbot in die Statuten aufge­nommen hatten. Es droht ein Flicken­teppich, weil es nicht möglich ist, dass alle Regionen umsetzen, was eine landes­weite Mehrheit bestimmt hat. Die Duttweiler-Stiftung von David Bosshart hätte einen solchen Mechanismus, eine Art Stände­mehr, begrüsst.

Und weil man über eine Statuten­änderung abstimmt, braucht es eine Zweidrittel­mehrheit. Darum wird vielleicht am Ende einfach alles so bleiben, wie es ist.

Die Migros scheint dazu verdammt zu sein. Trotz und wegen Dutti.