Die gefrässige Genossenschaft
Wie die Migros von der Angreiferin zur Angreifbaren wurde – Teil 1 einer Trilogie über den mächtigsten Detailhandelskonzern der Schweiz.
Von Simon Schmid, Michael Soukup (Text) und Yves Bachmann (Bilder), 14.01.2019
Im Sommer 2018 wird ein Kadermitarbeiter der Migros zu einem Meeting im Hauptsitz am Zürcher Limmatplatz aufgeboten. Angekommen im Sitzungszimmer, hoch über den Dächern von Zürich, trifft er auf zwei Leute: eine Person aus dem internen Rechtsdienst, einen externen Anwalt von KPMG, einem Unternehmen aus dem Bereich Wirtschaftsprüfung.
Dem Mitarbeiter wird augenblicklich klar: Dies ist keine normale Sitzung. Sondern ein Verhör. «Ist es richtig, dass Sie am Tag X mit dem Journalisten Y gesprochen haben? Worüber haben Sie mit ihm gesprochen?» Die Anwälte verfügen über einen Auszug sämtlicher Telefonverbindungen, die während eineinhalb Monaten über das Geschäftshandy des Mitarbeiters liefen.
Die Befragung dauert fast eine Stunde, danach wird das Handy eingezogen. Sämtliche Daten, auch privates Material, werden kopiert. Ein Protokoll des Gesprächs wird dem Mitarbeiter vorgelegt: «Bitte unterschreiben.»
Serie «Das System Migros»
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft: In einer Trilogie nimmt die Republik den Detailhändler unter die Lupe. Wie ist die Migros zu dem geworden, was sie ist? Wie tickt der Konzern, und wohin bewegt er sich?
Sie lesen: Teil 1
Die Angreiferin wird angreifbar
Teil 3
Das Duell mit Coop in der digitalen Ära
Die Absicht der Forensiker: herauszufinden, wer interne Informationen an die Presse gereicht hat. Mehrmals waren im Lauf des Jahres unbequeme Schlagzeilen zu lesen: «Neuer Migros-Chef gewann Wahl nur sehr knapp»; «Fabrice Zumbrunnen baut ab: Bis zu 300 Jobs betroffen». Das soll sich ändern, beschliesst die Migros-Spitze – und lädt im Rahmen einer Überprüfung nicht nur zwei Dutzend Mitarbeiter vor, sondern durchsucht mithilfe der IT-Abteilung auch Hunderte E-Mails auf Journalistenkontakte.
Als die Sache im November bekannt wird, geht ein kleiner Aufschrei durch die Presse. Doch der Sturm legt sich wieder: Die Migros ist auch nur eine Firma, solche Sachen passieren. Die Medien wenden sich wieder anderem zu.
Eine Frage aber bleibt unbeantwortet: Was ist los bei der Migros, dass sie auf diese Weise in die Privatsphäre ihrer Angestellten eindringt? Warum lösen ein paar harmlose Presseberichte eine derartige Nervosität in der Firma aus?
Die Republik ist der Frage nachgegangen, hat Gespräche mit Migros-Insidern, Branchenkennern und Konkurrenten geführt. Und dabei versucht, den Konzern von Grund auf zu verstehen: was ihn antrieb und was ihn umtreibt, mit welchen Schwierigkeiten er konfrontiert ist.
Hier erzählen und analysieren wir seine Geschichte: von den gloriosen Anfängen bis zur irritierenden Mitarbeiterüberwachung der Gegenwart.
Ein fulminanter Start
Es ist der Morgen des 25. August 1925, als sich in Zürich fünf kleine Ford-Lkw mit knatternden Motoren auf den Weg machen. Beladen sind die grünen Verkaufswagen mit sechs schmucklos verpackten Artikeln: Reis, Zucker, Teigwaren, Kokosfett, Kaffee, Seife.
Ein Kilo Teigwaren supérieur kostet 95 Rappen, das Kilo Mailänder Reis 70 Rappen: Die Preise liegen einen Drittel unter jenen der Konkurrenz, den Spezerei- und Kolonialwarenläden. Es ist eine Preisrevolution, eine Kampfansage an die kleingewerblichen Detaillisten und Konsumvereine.
Der Detailhandel funktioniert seit Jahrzehnten unverändert: Meist geht frau in den Quartierladen um die Ecke, wo minimale Mengen einzeln abgefüllt und umständlich abgerechnet werden. Ein Preisbewusstsein gibt es nicht, die Käuferinnen sind fixiert auf «Rabattmärkli», die in keinem Verhältnis zu den überhöhten Preisen stehen.
Eine Fotoreportage aus der Filiale von Migros City am Zürcher Löwenplatz zieht sich als roter Faden durch die drei Beiträge. Der Fotograf Yves Bachmann hat einen Tag lang den Alltag im Detailhandel aus einer für Konsumenten ungewohnten Perspektive festgehalten.
Bevor die fünf Lkw erstmals aufs Stadtgebiet ausschwärmen, lässt eine «Migros AG» Flugblätter an alle Zürcher Haushalte verteilen: «An die Hausfrau, die rechnen muss! An die intelligente Frau, die rechnen kann.»
Lebensmittel seien zu teuer, nun versuche man ein neues System: Grundsätze des Grosshandels im Kleinverkauf. Also: grosser Umsatz, kleiner Gewinn, frischeste Ware. Und statt des «Reklamekultus» der Markenartikler «sachliche Prüfung» beim Einkauf zum Weltmarktpreis.
Die Ansage kommt bei den Gewerblern schlecht an. Die Flugblätter werden durch Sendboten wieder aus den Briefkästen geangelt, die Verteiler angerempelt, verhöhnt und gar mit Steinen beworfen.
Die neue Firma lässt sich jedoch nicht beirren. Und schliesst das Flugblatt mit einer Drohung: «Entweder siegen die lieben alten Einkaufsgewohnheiten der Frau – oder der erhoffte Zuspruch stellt sich ein. Andernfalls müssen wir diesen ernsthaften Versuch, den Konsumenten zu dienen, aufgeben.»
Die Erfolgsrezepte der Migros
Bekanntlich sollte die Hausfrau klug genug sein, bei der neuen Anbieterin einzukaufen. Sodass die Migros-Gruppe zu einer atemberaubenden Expansion ansetzen kann – beflügelt durch einen Mix von Erfolgsfaktoren.
Da ist die Technologie: In den 1920er-Jahren verkörpert der Verkaufswagen den höchsten Stand der damaligen Technik. Der fahrende Laden kommt zu den Kunden, die Kundenfrequenz steigt, die toten Zeiten für das Personal fallen weg. Bei der Migros gilt das Credo vom maximalen Umsatz, dem wichtigsten Rationalisierungsfaktor – grosse, abgepackte Ware mit runden Nettopreisen, damit die Bedienung rasch erfolgen kann. Daher auch der Name: Mi-Gros – halb Gross-, halb Detailhandel.
Da gibt es den Gründer: Gottlieb Duttweiler (1888–1962), ein kampflustiges Genie auf einer «Mission». Gegner schimpfen ihn Allesfresser, Grossmogul, Totengräber der gesunden Volkswirtschaft oder «Göring von Rüschlikon». Doch die Aggressionen spornen «Dutti» zu Höchstleistungen an.
Da ist der Boykott: Wer die Migros beliefert, muss damit rechnen, vom ganzen Detailhandel ausgeschlossen zu werden. So wird sie bereits früh gezwungen, auf die Eigenproduktion auszuweichen – was sich als Erfolgsrezept herausstellen soll. Es fängt mit der Süssmostfabrikation an, als ein Produktionsbetrieb in Meilen ZH übernommen wird. Die Migros verkauft den Apfelsaft zum halben Preis, und im Nu wird Süssmost zum Volksgetränk. Damit gewinnt die Migros die Herzen der Frauen, da der gesunde Fruchtsaft die Trunksucht der Männer mildert.
Da sind die Skaleneffekte. Bald folgt die eigene Herstellung von Schokolade, die Produktion von Bouillon und Suppenfabrikaten, anschliessend die Eigenfabrikation von Konserven. 1933 kommt der Schachtelkäse dazu. Die Migros geht stets nach demselben Muster vor: das Produktionsvolumen drastisch erhöhen, die Preise senken und damit den Absatz ankurbeln.
Da ist das Marketing. In ihrem Kampf gegen die Markenartikel kopiert die Migros oft schamlos und illegal das Original. Jahrzehnte später wird dies den Konsumenten das Ende der Preisbindungen bescheren. Unmittelbar aber bedeutet es Streit. Bei der Migros gibt es «Eimalzin» statt «Ovomaltine», der koffeinfreie Kaffee «Hag» wird zum «Zaun», das Waschmittel «Persil» vom deutschen Hersteller Henkel heisst «Ohä – ohne Hänkel, dafür nur 50 Rp.» – zumindest bis der Werbespruch vom Zürcher Handelsgericht untersagt wird.
Und da ist die Mission. Duttweiler hält die Volksgesundheit hoch, er erklärt die Migros stolz «zur einzigen Kolonialwarenfirma, die prinzipiell nie alkoholhaltige Getränke verkauft». Diesem Prinzip bleibt die Migros bis zur Jahrtausendwende treu, als sie sich mit dem Kauf von Globus und Denner und dem Aufbau der Migrolino-Läden elegant und statutenkonform einen Anteil am lukrativen Alkohol- und Nikotingeschäft sichert.
Die Technologie, das Marketing, der Gründer: All dies sorgt dafür, dass die Migros innerhalb von kurzer Zeit nicht nur landesweit bekannt, sondern zu einem der erfolgreichsten Unternehmen der Schweiz wird.
Kampf gegen mächtige Gegner
Der Erfolg beschert der Migros aber auch Widersacher.
Sie gerät mächtigen Monopolisten ins Gehege: der Käseunion, die in der Schweiz die Käsepreise diktiert, und dem sogenannten Öltrust, dem von der niederländischen Unilever beherrschten Speisefett- und Ölhandelsgeschäft.
Und sie wird zum Feind von Politik und Behörden. Die Methoden sind nicht weniger zimperlich. Bevor die fünf Ford-Lkw ihre Motoren überhaupt starten können, droht ihnen die polizeiliche Beschlagnahmung: Die Behörden sorgen sich wegen «unhygienischen Strassenverkaufs».
Kaum ist dies wissenschaftlich entkräftet, machen immer neue schikanöse Auflagen der Migros das Leben schwer. Kunden dürfen weder durch Signale noch Rufe angelockt werden, und die Verkaufszeit am gleichen Ort wird auf 15 Minuten beschränkt. 1933 erlässt der Bundesrat das Eidgenössische Filialerweiterungsverbot. Es bleibt volle zwölf Jahre in Kraft und setzt der Migros stark zu: Keine neuen Verkaufsläden dürfen eröffnet werden.
Duttweiler expandiert nach Berlin, doch auch dort machen ihm die an die Macht gekommenen Nationalsozialisten einen Strich durch die Rechnung. Aus Angst vor Gewalttätigkeiten entschliesst er sich, seine 85 Verkaufswagen nach nur zwei Jahren aus der Reichshauptstadt wieder abzuziehen.
Die neuen Geschäftsmethoden, die er in der Frühzeit anwendet, behält er aber bei. Und weitet seine Aktivitäten auf weitere Geschäftsfelder aus.
Duttweilers Migros: Sie ist in dieser Frühphase das, was Amazon heute ist: eine vom Kopf herab gesteuerte Firma, die mit revolutionären Technologien ganze Branchen im Sturm erobert. Ein Unternehmen, das das Gleichgewicht stört – ohne unnötigen Ballast unterwegs, voll auf Angriff eingestellt.
Beschleunigtes Wachstum
Über die nächsten Jahre wird die Migros nicht nur den Detailhandel mit Lebensmitteln auf den Kopf stellen, sondern eine Binnenmarktbranche nach der anderen. Mit erstaunlichem Gespür erkennt Duttweiler seine Chancen.
Die erste fremde Branche, in der die Migros Fuss fasst, ist das Reisegeschäft: 1935, mit der Gründung von Hotelplan. Erneut wird sie von den Etablierten boykottiert, erneut setzt sie auf grossen Umsatz bei kleinem Gewinn – und erfindet nebenbei die revolutionäre Formel «alles inbegriffen». Bald wächst Hotelplan zum grössten internationalen Reiseanbieter Europas heran.
Es entstehen die Migros-Klubschulen. «In letzter Zeit häuften sich die Zuschriften, worin wir bestürmt wurden, verbilligte Sprachkurse zu organisieren», steht im ersten Inserat, das 1944 erscheint. Freudiges Lernen in Kleingruppen ist angesagt: Fremdsprachen, Fechten, Pflanzenbetreuung. Bald ist die Migros Marktführerin in der Erwachsenenbildung.
Nach dem Ende des Filialverbots macht sich die Migros daran, das Filialnetz auszubauen. Der Verkauf wird rationalisiert: 1948 mit der ersten Selfservice-Verkaufsstelle in Zürich, die rasch zur umsatzstärksten aller Migros-Filialen wird. Sechs Jahre später gibt es bereits 179 Selbstbedienungsläden.
Die Migros geht nun in jeden erdenklichen Teilmarkt. Denn die Konkurrenz hat sich mittlerweile dem Preiskampf gestellt, die Margen bei den Nahrungsmitteln sinken. Das lukrativere Non-Food-Geschäft wird ab den 1950er-Jahren in den Migros-Märkten (MM) abgewickelt. Die grösseren Warenhäuser bieten erstmals auch Kochtöpfe, Zahnbürsten, Socken an.
Dann ist der Buchhandel an der Reihe. «Was der Buchhändler an Kost anbietet, ist für den kleinen Mann aus dem Volke oft ganz unerschwinglich», begründet die Migros den Einstieg. Die Vorgaben lauten: günstige Preise, hoher Umsatz. Knapp zwanzig Jahre später sollte Ex Libris mit 320’000 Mitgliedern zum grössten Buch- und Grammoclub (monatlich bekamen die Mitglieder eine Schallplatte zugeschickt) des Landes aufsteigen.
1954 entfacht die Migros mit Migrol den berühmten Benzinkrieg. Die Preise für Heizöl und Benzin sinken daraufhin markant, die Migros macht bis nach Japan Schlagzeilen. Das Tankstellennetz wächst von 11 auf heute 308 Filialen.
Auch im Kerngeschäft beweist die Migros ein glückliches Händchen. Sie kauft im Walliser Ort Aproz eine eigene Mineralwasserquelle und eröffnet in Zürich Albisrieden das erste Do-it-yourself-Center. Es übertrifft alle Erwartungen: Im ersten Jahrzehnt kommen jährlich drei neue Filialen hinzu.
1970 folgt der Quantensprung bei den Verkaufsflächen. Die bisherigen MM-Märkte messen im Schnitt etwa 500 Quadratmeter, so viel wie zwei Tennisplätze – der erste MMM-Markt in Sargans fast 50-mal so viel. Die Migros läutet damit das Zeitalter der verkehrsgünstigen Einkaufszentren mit Parkmöglichkeit auf der grünen Wiese ein. Noch eine Pionierleistung.
Die Migros besteht nun bald ein halbes Jahrhundert – und strotzt vor wirtschaftlicher Stärke. Den Erzrivalen, den Verband Schweizerischer Konsumvereine VSK (ab 1970 Coop), hat sie längst überholt. Die grossen Migros-Läden gelten als Nonplusultra. Die Migros ist die Nummer 1.
Doch schon bald beginnen am Horizont erste Herausforderungen aufzutauchen. Sie sollten sich für die Marktleaderin, die bis anhin nur das Siegen gewohnt war, mit der Zeit zu einer echten Gefahr auswachsen.
Die Deutschen kommen
Es vergehen die 1980er-, die 1990er-, die 2000er-Jahre: Neue Kräfte wirken nun hinter den Schaufenstern der Shoppingmeilen auf den Detailhandel ein.
Da ist zum einen: die internationale Konkurrenz. Aldi steigt im Jahr 2005 mit 8 Verkaufsstellen in der Schweiz ein, Lidl folgt im Jahr 2009 mit deren 13. Beide Discounter kommen aus Deutschland, beide verfolgen Tiefpreisstrategien, beide wollen den hiesigen Markt aufrollen – nach demselben Prinzip, wie es einst die Migros mit ihren Verkaufswaren anwandte: beschränkte Sortimente, billige Waren, effiziente Abwicklung.
Was ihnen in der Folge auch gelingt. Bis 2017 wächst das Netz von Aldi bereits auf 189 Filialen an, jenes von Lidl auf 117. Auch der Umsatz der Discounter wächst rasant: Nach Schätzung von «Detailhandel Schweiz 2018», dem jährlichen Bericht des Marktforschungsinstituts Gfk, knackt Lidl 2017 erstmals die Milliardengrenze, während Aldi Suisse bereits auf knapp zwei Milliarden kommt – rund 10 Prozent des Detailhandelsumsatzes der Migros.
Auch der Detailhandelsumsatz der beiden Grossverteiler wächst in dieser Phase, bis auf rund 16 (Coop) bzw. rund 20 Milliarden Franken (Migros). Allerdings nicht, weil die Leute die beiden Genossenschaften so mögen – sondern vor allem, weil die beiden Konzerne nun ihrerseits beginnen, über zahlreiche Zukäufe ein Abwehrdispositiv in Stellung zu bringen.
Die beiden Grossverteiler wollen so ihr Revier verteidigen: Konsumenten sollen sich nicht nur bei den Lebensmitteln, sondern auch im Non-Food-Bereich vollständig im Orbit von Migros und Coop bewegen – und im Gegenzug möglichst wenig bei Aldi und Lidl shoppen.
Coop übernimmt dazu unter anderem die Supermärkte von Waro und die Warenhauskette EPA, den Elektronikhändler Fust, The Body Shop und schliesslich den Gastro-Grosshändler Transgourmet. Die Migros kauft den Online-Supermarkt LeShop, den Lebensmitteldiscounter Denner, das Modehaus Schild, den Onlinehändler Digitec/Galaxus und weitere Firmen.
Als weitere Abwehrmassnahme wird die Präsenz an strategischen Lagen massiv ausgebaut. Bei der Migros geschieht dies über Franchise-Formate wie migrolino und Voi (die Partnerläden in den Kantonen Bern, Solothurn und Aargau): Zwischen 2008 und 2017 verdoppelt sich die Anzahl dieser Läden von rund 200 auf 400. Sie werden oft von Dritten geführt, liegen an Bahnhöfen oder Tankstellen und sind auch sonntags offen, was ihnen einen bedeutenden Vorteil und ein ansehnliches Umsatzwachstum beschert.
Um mit den Discountern mitzuhalten – und sich zugleich zu differenzieren –, führt die Migros darüber hinaus die Billiglinie «M-Budget» (1996) und die Premiumlinie «Sélection» (2005) ein. Bio- und Nachhaltigkeitslinien werden ab 2011 in Kooperation mit der deutschen Kette Alnatura ausgebaut.
Der Abwehrkampf gelingt gar nicht so schlecht. Der Strukturwandel trifft weniger die Grossverteiler, sondern in erster Linie die selbständigen Lebensmitteldetaillisten. Von der Jahrtausendwende bis heute schrumpft die Zahl ihrer Verkaufsstellen um die Hälfte. Gleichzeitig wächst bei der Migros- und der Coop-Gruppe das Netz der Verkaufsstellen: Die beiden Firmen mobilisieren sämtliche Kräfte, um ihr Territorium zu halten.
Doch sie zahlen dafür auch ihren Preis. Als Folge der Übernahmeschlacht beschäftigt die Migros immer mehr Menschen – der Personalbestand wächst schneller als der Umsatz, die Genossenschaft wird immer grösser.
Während mancher Jahre geht dies gut. Doch ab Mitte der 2010er-Jahre kehrt sich der Trend um – und die gewachsenen Gewinne gehen wieder zurück.
Eine neue Shopping-Ära
Verantwortlich dafür sind zwei weitere grosse Kräfte, die im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends auf den Detailhandel einwirken.
Gegen die erste ist die Migros relativ machtlos: der starke Franken, der ab 2010 den Shoppingtourismus im Ausland attraktiv macht. Unter ihm leidet das hiesige Geschäft – vor allem in der Nordschweiz, in Genf und im Tessin. Die harte Währung zwingt die Händler zu Preissenkungen.
Der Profit sinkt: von rund einer Milliarde auf noch rund 600 Millionen auf Stufe Betriebsgewinn. Fast die Hälfte davon erwirtschaftet die Migros inzwischen im Bereich Finanzdienstleistungen: über die Migros Bank.
Die zweite Kraft ist die Digitalisierung. Sie rollt unaufhaltsam auf den Detailhandel zu. Und beschleunigt den Strukturwandel auf brutale Weise.
Ab 2010 verschwinden in der Schweiz jedes Jahr bis zu 3 Prozent aller Geschäfte. Besonders betroffen sind Multimedia- und Sportfachgeschäfte, Medien- und Bücherläden sowie Kleider- und Schuhgeschäfte.
Auf der anderen Seite entstehen über 10’000 Online-Shops. Hinzu kommen ausländische E-Commerce-Häuser: der aufstrebende Modehändler Zalando, Möbelhändler wie Home24, das Mega-Kaufhaus Amazon. Der US-Konzern wurde gross mit dem Verkauf von Büchern, vertreibt übers Netz aber längst alle möglichen Produkte: Zwei Milliarden Artikel wurden 2016 direkt und indirekt über sogenannte Marketplace-Händler auf der Plattform verkauft. Allein letztes Jahr war das Absatzwachstum mit umgerechnet 40 Milliarden Franken grösser als der gesamte Umsatz der Migros-Gruppe.
In den Märkten, die die Online-Konkurrenten beackern, ist die Migros aktiv. Einige ihrer Tochterfirmen sind darum heute die Sorgenkinder der Gruppe: Globus, Interio oder Ex Libris. Sie leiden unter der Verlagerung ins Internet. Dramatisch ist der Umbruch bei Ex Libris, dessen Netz auf 14 Filialen zusammenschrumpft. Gegen das Angebot von Spotify, Apple, Amazon oder Youtube ist die Migros machtlos: Die Musik spielt heute im Internet.
Im Modebereich gibt die Migros die Filialen von Schild und Herrenglobus auf; die Marken werden in Globus integriert. Auch hier ist es dasselbe Bild: Mit den modernen, digitalen und praktischen Angeboten von Firmen wie Zalando kann die Migros nicht mithalten.
Der harte Kampf gegen die Neuen aus dem Netz hat Folgen. Ab 2015 schlittert das Migros-Departement Handel in einen Millionenverlust. Dies ist die Abteilung, in der die meisten Tochterfirmen der Migros gebündelt sind. Der Handel wird vom Migros-Genossenschafts-Bund verwaltet, also von der Zentrale in Zürich. Hier, wo Beraterfirmen ein- und ausgehen und das Management der einzelnen Geschäfte mit immer wieder neuen Konzepten auf Trab halten, hinterlässt die Digitalisierung am meisten Spuren.
Doch hier ist auch der Onlineshop angesiedelt, auf den die Migros bei der Digitalisierung die meisten Hoffnungen setzt.
Die mächtigste Abwehrwaffe
Ab 2012 verleibt sich die Migros das Portal Digitec/Galaxus ein, das 2001 von drei Gamern gegründet worden ist. Es ist zum absoluten Star am Migros-Himmel geworden. Das Jahreswachstum liegt um 20 Prozent, bald dürfte beim Umsatz die Milliardengrenze fallen. Ob die Profitabilität stimmt, ist eine andere Frage: Digitec/Galaxus schreibt laut Insidern noch Verluste. Unter anderem wegen der Expansion nach Deutschland: Seit November ist man dort online, die Geschäftsentwicklung ist laut der Migros «erfreulich».
Die Übernahme von Digitec wird als strategische Meisterleistung gewertet. Sie gilt nebst dem Kauf von Denner als eine der wirklich erfolgreichen Akquisitionen aus der Ära von Herbert Bolliger, der als Chef des Migros-Genossenschafts-Bundes von 2005 bis 2017 die Fäden in der Hand hielt.
Dass die Migros ein Start-up kaufen musste, um online durchzustarten, ist allerdings kein Zufall. Viele Grossunternehmen, die aus eigener Kraft die digitale Transformation nicht schaffen, wählen diesen Weg. Oder sie gründen Digitallabors: ausserhalb der Kernstrukturen angesiedelte Einheiten, in denen externe Köpfe neue Geschäftsideen aushecken sollen.
Auch die Migros hat kürzlich eine solche Einheit unter dem Namen Sparrow Ventures in Zürich gegründet. Die erste Idee: Miacar, ein Lieferwagen, der Waren auf ein Zeitfenster von einer Stunde und zwanzig Minuten genau zu Kunden bringt, die sie zuvor per App bestellt haben – ein Service mit nostalgischem Touch, angelehnt an «Duttis» Verkaufswagen. Weitere digitale Konzepte sollen aus dem Tochterunternehmen heraus entstehen.
Von selbst brachte die Genossenschaft bisher den Mumm nicht auf, solche Konzepte zu entwickeln – und insbesondere: sie auch durchzusetzen. Wenig erfolgreich wurde mit einem Online-Shop für M-Electronics experimentiert. Bald dämmerte es der Führung jedoch, dass ihr nach der Einführung des revolutionären Migros-Verkaufswagens oder der MMM-Märkte im vergangenen Jahrhundert das entscheidende Etwas fehlt, um auch im 21. Jahrhundert bahnbrechende Innovationen hervorzubringen.
«Too big to fail»
Innovationen, von denen abhängt, ob die Migros in der digitalen Welt des 21. Jahrhunderts bestehen kann – Innovationen, wie sie zurzeit aus Amerika nach Europa drängen: durch Firmen wie Amazon, den Pionier in der Verknüpfung von Online-Rechenpower und Offline-Logistik.
Amazon-Lieferungen werden neu von der Schweizer Post verzollt, was dem US-Konzern beim Warenexport in die Schweiz Vorteile verschaffen wird – und bedeuten könnte, dass er sich auch bald in der Schweiz ein grösseres Stück vom Kuchen schnappt. Die einzige Chance der hiesigen Händler: schon im Voraus selbst möglichst tiefe Preise anbieten. Dies dürfte Digitec/Galaxus und ähnlichen Schweizer Shops zumindest nicht schlecht gelingen.
In ihrem Kerngeschäft, dem sogenannten Food- und Near-Food-Bereich, ist die Migros momentan noch geschützt. Amazon müsste eigene Logistikcenter in der Schweiz aufbauen, um hier mitzuhalten. Speziell für Frischeprodukte, wie sie Amazon bereits in Grossbritannien anbietet, wäre dies unabdingbar.
«Selbst wenn Amazon in die Schweiz kommt, haben Migros und Coop gesamthaft immer noch den Löwenanteil», sagt Thomas Lang, Geschäftsführer der Zürcher E-Commerce-Beratungsfirma Carpathia. «Die zwei Genossenschaften sind quasi per Definition ‹too big to fail›.»
Migros und Coop haben also einen Startvorteil. Und doch hinken sie beim Onlinehandel hinterher: In Grossbritannien werden bereits 4,5 Prozent der Lebensmittel übers Internet verkauft, in der Schweiz sind es nur 1,2 Prozent.
Hiesige Konsumenten geben im Schnitt gerade mal 37 Franken pro Jahr online für Lebensmittel aus. Das ist kein gutes Zeugnis für die Innovationskraft von Betrieben wie der Migros. Und es zeigt: Im Schweizer Detailhandel gibt es durchaus ein gewisses Potenzial, um den bestehenden Markt zu «zerschlagen» und innovative Geschäftsmodelle zu lancieren.
Ursachen für eine gewisse Grundnervosität gibt es bei der Migros also genug. Zumal die Zahlen in die falsche Richtung gehen: Letztes Jahr brach der Gewinn des Konzerns ein, und die Migros musste zusehen, wie Coop, die ewige Nummer 2, beim Gesamtumsatz an ihr vorbeizog (mehr dazu in Teil 3).
Die Mega-Genossenschaft
Die Migros hat also einen langen Weg hinter sich. Und steht heute da wie ein Koloss auf tönernen Füssen. Ob sie sich auf ihre Wurzeln besinnen und wieder mit eigenen Ideen den Markt aufmischen kann, ist unsicher. Denn die Migros ist nicht nur gross geworden – sondern auch schwerfällig.
Fast 250 Gesellschaften sind inzwischen unter ihrem Dach. Zum M-Universum gehören geräumige Supermärkte und billige Discounter, Fachmärkte wie Do it + Garden, Micasa, SportXX und OBI, Migros-Restaurants und Gastroketten wie Molino, Kaimug oder Chickeria, der Onlineshop Digitec/Galaxus, die Möbelhäuser Interio und Micasa, das Warenhaus Globus, die Migros-Bank, rund 35 grosse Arztpraxen, dazu Fitnesscenter, Aquaparks, Sportparks und Golfparks.
Die Migros ist von der schlanken Angreiferin zur fetten Allesanbieterin geworden, die fast jedes erdenkliche Konsumbedürfnis abdeckt.
Letztes Jahr beschäftigte sie über hunderttausend Menschen. Zählt man alle Läden zusammen, kommt man auf knapp 3000. Die gesamte Fläche, auf welcher der Migros-Konzern seine Produkte vertreibt, ist über 1,8 Millionen Quadratmeter gross – das entspricht etwa 300 Fussballfeldern.
Ein frecher Störenfried, umgeben von alteingesessenen Gewerblern, die krampfhaft ihren Markt abschotten wollen, ist die Migros schon lange nicht mehr. Sondern: ein Mega-Unternehmen, das selbst angreifbar geworden ist.
Eine Firma, die sich in einer Zeit der geschäftlichen Unsicherheit und des personellen Umbruchs sogar dazu hinreissen lässt, die Handys des eigenen Personals auf Journalistenkontakte hin zu überprüfen – in einer Aktion, die unter den Mitarbeitern des Unternehmens für viel böses Blut sorgen soll.
Im zweiten Teil beleuchten wir, wie die Migros vorgeht, um gleichzeitig der mächtigste, aber auch einer der beliebtesten Konzerne des ganzen Landes zu sein.