Vom SRF zum WWF
2021 haben deutlich mehr Journalisten den Beruf verlassen als im Jahr zuvor. Besonders arg ist die Situation beim Schweizer Radio und Fernsehen.
Von Philipp Albrecht und Dennis Bühler, 09.05.2022
Über 300 Personen hatten dem Journalismus zwischen 2016 und Anfang 2021 den Rücken gekehrt. Das war eines der Resultate der Republik-Auswertung vor einem Jahr zu Berufsaussteigerinnen.
Wir versuchten damals, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, das Ausmass der Verdrossenheit zu fassen; in Zahlen und Worten zu beschreiben, warum so viele unserer Kollegen in die Unternehmenskommunikation, in die Public Relations oder ganz woandershin wechselten. Wir hatten nicht mit diesem Ausmass gerechnet.
Die Republik zählte im April 2021 die Abgänge aus dem Schweizer Journalismus und stellte fest: In den vorangegangenen fünf Jahren hatten sich mehr als 350 Journalisten verabschiedet. Alle 5 bis 6 Tage kommt der Schweiz also eine Journalistin abhanden.
Es gibt tausend Gründe, auszusteigen. Nicht alle sind mit Frustration verbunden. Doch in den meisten Gesprächen, die wir mit Berufswechslerinnen geführt haben, haben sie uns deutlich gemacht: Im Journalismus, so, wie er heute gemacht wird, gibt es für sie keine Zukunft.
Das stimmte nicht nur die Autoren nachdenklich. Der Bericht stiess in der Kommunikationsbranche auf reges Interesse. Leser zeigten sich erstaunt, Berufskolleginnen fühlten sich bestätigt und Expertinnen begrüssten es, dass jemand nachgezählt hatte.
Doch immer noch werden im Wochentakt auf Branchenportalen Journalismus-Aussteiger vermeldet und auf Twitter oder Linkedin die Worte eingetippt: «In eigener Sache …»
Deshalb haben wir wieder zu zählen begonnen.
Das Wichtigste vorab: Nach einer Delle im Jahr 2020 steigt die Zahl der Aussteiger seit letztem Jahr wieder an. 93 registrierten wir 2021 – und bis dato weitere 24 im Jahr 2022. Der Schweizer Journalismus verliert weiter erfahrene, kluge, etablierte Köpfe.
Die ausgeprägte Delle im Jahr 2020 lässt sich mit Corona erklären. Denn im ersten Pandemiejahr war die wirtschaftliche Unsicherheit gross. Viele Unzufriedene warteten zu, bevor sie eine Entscheidung über ihre berufliche Zukunft trafen.
Als sich dann die Corona-Lage beruhigte, regnete es Kündigungen. Vor einem Jahr schrieben wir: jede Woche eine Journalistin weniger. Nun heisst es: jede Woche fast zwei Journalistinnen weniger.
Zwei Feststellungen bieten sich nach der erneuten Zählung an.
Erstens haben 2021 viele Journalisten ins Blaue gekündigt, das heisst: ohne neuen Job und oft sogar ohne konkrete Vorstellung, in welcher Branche es weitergehen soll. Wir verzichten in unserer Liste auf Namen von Kollegen, die zwar gekündigt haben aber bis Redaktionsschluss nicht wussten oder uns nicht sagen wollten, ob sie im Journalismus bleiben würden. (Darum sind Olivia Kühni und Simon Schmid nicht aufgeführt, die bei der Republik ihre Kündigung eingereicht haben.)
Zweitens war jeder vierte Aussteiger beim SRF angestellt.
Moderatorinnen, Wissenschaftsjournalisten, Sportredaktorinnen verlassen frustriert den Sender. Mindestens 24 sind letztes Jahr gleich ganz aus dem Journalismus ausgestiegen. Sie wechseln in die Kommunikation und arbeiten neu für Bundesämter, Verbände und Beratungsfirmen – gleich zwei wechseln zum WWF.
Viele Kündigungen sind auf Probleme zurückzuführen, die mit dem Projekt «SRF 2024» in Verbindung stehen. Der Versuch von SRF-Direktorin Nathalie Wappler, mehr Effizienz, tiefere Kosten und modernere Strukturen durchzusetzen, hat offenbar zu erhöhter Frustration und überdurchschnittlich vielen Abgängen geführt. Es hapert besonders beim Vertrauen: «Die Art und Weise, wie der Wandel vollzogen wird, überzeugt offenkundig nicht alle Mitarbeitenden», sagt Linards Udris vom Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft. «Das Unternehmen ist gross und entsprechend kompliziert, was Hierarchien angeht – das kann zu Enttäuschungen führen.»
Keine Perspektiven
Enttäuschte Berufskollegen sehen wir auch bei CH Media und der TX Group, die letztes Jahr eigene Sparrunden umsetzten. Es kam zu Kündigungen, Umstrukturierungen, und es wurden neue Jobprofile geschaffen: «Wer keine digitalen Kompetenzen mitbringt und es an der Fähigkeit oder Bereitschaft mangeln lässt, konvergent zu arbeiten, hat es schwer», sagt Udris. Das seien vor allem für über 50-Jährige bad news.
Doch längst nicht alle Aussteigerinnen zählen zu dieser Alterskategorie. Inzwischen wechseln schon viele während der Ausbildung die Branche, weil sie die Arbeitsbedingungen im Redaktionsalltag abschrecken. Für Matthias Künzler, Medienwissenschaftler an der Fachhochschule Graubünden, liegt das Problem bei den Arbeitgebern: «Solange es an attraktiven Arbeitsplätzen für junge Journalistinnen fehlt, bleibt der Berufseinstieg mit derart viel Unsicherheit behaftet, dass Heerscharen von Studierenden trotz vorhandenem Interesse für den Journalismus weiterhin der Kommunikations- und PR-Branche den Vorzug geben werden.»
Dass es beim gut ausgebildeten Nachwuchs stockt, lässt sich etwa am MAZ feststellen. An der renommiertesten Deutschschweizer Ausbildungsstätte für Journalistinnen lässt das Interesse am Beruf sichtbar nach. Wurden 2018 noch 44 Diplome verteilt, waren es diesen Frühling nur noch 25.
Wenn weniger Junge nachrücken und sich gleichzeitig die Erfahrenen verabschieden, entsteht eine Lücke. Wertvolles Wissen geht verloren und damit auch Qualitätsjournalismus.
Ein schwacher Trost: In Deutschland ist die Lage nicht besser. Nach unserem Beitrag im letzten Jahr hat uns aus München Jana Rick kontaktiert. Die Doktorandin an der Ludwig-Maximilians-Universität befragte selber mehr als tausend Journalisten in Deutschland und wollte mehr über unsere Auswertung wissen. Später teilte sie mit uns ihre definitiven Befunde aus Deutschland. Diese besagen,
dass 48 Prozent unzufrieden sind mit ihrem Einkommen;
dass 58 Prozent ihre Arbeitssituation als «eher unsicher» einschätzen
und 62 Prozent der Ansicht sind, ihre Arbeitsbedingungen hätten sich seit Beginn der Pandemie verschlechtert.
Rick befragte auch zahlreiche ehemalige Journalistinnen. Auf den konkreten Grund für ihren Ausstieg angesprochen (sie konnten aus 21 Motiven auswählen), war die am häufigsten gewählte Antwort: «der Wandel des Journalismus».
Dieser Wandel führt – nicht nur in Deutschland – zunehmend zu einer neuen Disziplin im Grenzgebiet zwischen Journalismus und Corporate Publishing (Schreiben für Unternehmen). Hier entstehen Magazine, Bücher oder Videos, die mit grossem Aufwand und nach journalistischen Kriterien produziert werden. In der Branche ist umstritten, ob dieser «Parajournalismus», wie etwa Medienjournalist Nick Lüthi ihn nennt, tatsächlich als Journalismus bezeichnet werden soll.
Klar ist, dass bei diesen Produkten der Auftraggeber das letzte Wort hat. Und wenn etwa Coop ein journalistisches Magazin über biologische Landwirtschaft in Auftrag gibt, wird keiner auf die Idee kommen, darin Coop-Produkte kritisch zu beurteilen.
Mehrere Aussteiger der letzten Jahre bewegen sich inzwischen in diesem journalistischen Graubereich – als freie Mitarbeiter oder in Festanstellung.
Zur Liste: Wer den Journalismus seit Mai 2021 verlassen hat
Im Folgenden sehen Sie die Namen von knapp 80 Journalistinnen, die sich in den letzten zwölf Monaten aus dem Beruf verabschiedet haben – gruppiert nach aktuellem Berufsfeld (z. B. Sprecherin oder Berater). Die Namen der 36 Journalisten, die zwischen Januar und April 2021 den Beruf verlassen haben, publizierten wir bereits vor einem Jahr. Nähere Informationen zu Daten und Methodik finden Sie weiter unten. Sie haben einen Fehler oder eine veraltete Information gefunden? Melden Sie uns das unter philipp.albrecht@republik.ch. Vielen Dank!
Sprecherin
Kommunikation für Firmen oder Institutionen
Achim Podak (SRF): Kommunikation («noch nicht offiziell»)
Andy Müller (SRF): Kommunikation Arbeitgeberverband
Anian Heierli (CH Media): Informationsbeauftragter Gemeinde Ebikon
Caroline Piccinin («Blick»): Kommunikation Ticketcorner
Chris Stoecklin (Tele Basel): Head of Corporate Affairs Youngtimers und Medienverantwortlicher beim RTV Basel
Christian Hodel («Seetaler Bote»): Mediensprecher Stadt Sursee
Christina Noli («Textilrevue», CH Media): Kommunikation Zingg-Lamprecht
Christoph Aebischer («Bund»): Kommunikation Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH)
Daniel Riedel («Blick»): Mediensprecher Ringier
Dario Greco («Bund»): Projektleiter Newsroom Communication
Esther Mamarbachi (RTS): Kommunikation Conseil d’Etat genevois
Florian Imbach (SRF): Informationsbeauftragter Bundeskanzlei
Julian Thorner (SRF): Kommunikation Schweiz Tourismus
Marcel Gamma («Inside-it.ch»): Communication Manager Abraxas Informatik
Markus Arnold («Urner Wochenblatt»): Zuständiger Fördertätigkeiten Dätwyler Stiftung
Markus Dütschler («Bund»): Kommunikation ref. Kirchen Bern-Jura-Solothurn
Michael Furger («NZZ am Sonntag»): Kommunikation Bundesamt für Raumentwicklung
Michael Sahli (SRF): Informationsbeauftragter Stadt Bern
Myrto Joannidis (Radio 24): Kommunikation Susy Utzinger Stiftung für Tierschutz
Niklaus Salzmann (CH Media): Kommunikation Sustainable Development Solutions Network Switzerland
Pasquale Stramandino (Energy Basel): Chief Content Officer FC Basel
Peter Hody («Finews.ch»): Mediensprecher Asset Management Association Switzerland
Raphael Bischof («Blick»): Kommunikation Schweizer Handballverband
Reto Kirchhofer (Tamedia): Head of Communications SC Bern
Rinaldo Krättli (Somedia): Social Media Specialist Hamilton Bonaduz
Roman Schenkel (CH Media): Sprecher Schindler
Samira Zingaro (SRF): Kommunikation WWF
Sharon Zucker (Radio 24): Kommunikation Digitec Galaxus
Silvana Guanziroli («20 Minuten»): Kommunikation Swica
Stefan Bürer (SRF): Kommunikation SC Rapperswil-Jona
Stephanie Kusma (NZZ): Kommunikation Eidg. Forschungsanstalt WSL
Susanne Kübler (Tamedia): Digitale Kommunikation Tonhalle Zürich
Yves Balmer (Canal 9): Kommunikation Kanton Wallis
Aussteiger
Beschäftigung ausserhalb der Medienwelt, zum Beispiel Hotelier oder Geschäftsführerin
Alessia Fontana (RSI): Sekretariat RSI
Alex Baur («Weltwoche»): Auszeit in Peru
Anaïs Decasper (Energy): noch offen
André Sauser (Radio Argovia): Immobilienbranche
Chantal Desbiolles («Berner Zeitung»/«Bund»): Weiterbildung zur Mentorin
Daniel Meier («NZZ am Sonntag»): Lehre Velomechaniker
Gilles Martin («20 Minutes»): Gastronom Restaurant La Fleur de Lys
Gustavo Kuhn («Courrier»): Kommunikation Canton de Genève
Henriette Engbersen (SRF): Executive Searcherin Level Consulting
Janine Hosp (Tamedia): Projektleiterin Finanzdepartement Stadt Zürich
Lena Schenkel (NZZ): Lehrerin in Ausbildung
Lena Stallmach (NZZ): Lehrerin
Luca Della Rosa (Radio 24): Pflegeausbildung
Lukie Wyniger (SRF): Gastwirt Restaurant Waldhaus Birsfelden
Marc Lehmann (SRF): Studium Zukunftsforschung
Melanie Gobet («La Gruyère»): Umschulung zur Lehrerin HEP Vaud
Monika Schärer (SRF): «Etwas im sozialen oder kulturellen Bereich»
Ramin Yousofzai (SRF): Schauspieler
Roman Mezzasalma (SRF): Verwaltungsrat/Weiterbildung
Thomas Häusler (SRF): Projektleiter WWF
Auftragsschreiberin
Texte verfassen für Unternehmen oder Organisationen
Céline Krapf (20 Minuten): Corporate Storyteller «Versicherungsbranche»
Daniel Pünter (SRF): Kommunikation selbständig
Helga Rietz (NZZ): Kommunikation ETH
Janick Wetterwald (CH Media): Social-Media-Kommunikation iTrust
Reto Stauffacher (NZZ): Content-Experte Kuble Digitalagentur
Serge Guertchakoff («Bilan»): Direktor Publikationen immobilier.ch
Thomas Zemp (Tamedia): Senior Editor Ringier
Berater
PR- oder Kommunikationsberatung
Caroline Fux (Blick): Psychologin und Sexologin selbstständig
Cynthia Ringgenberg (SRF): Beratung Politik- und Kommunikationsagentur Polsan
Gaudenz Wacker (SRF): Politikvorbereitung Erziehungsdepartement Kanton BS
Marco Schnell («Prättigauer und Herrschäftler»): Kommunikation selbstständig
Patrick Feuz (Bund): Kommunikationsberater Gecko Communication
Priska Dellberg (SRF): Kommunikation selbstständig
Reto Gerber (SRF): PR-Berater Hirzel Neef Schmid Konsulenten
Rolf Hieringer (SRF): Berater selbstständig
Sandra Jean («Watson»): Beraterin EDA
Stefan Regez (Ringier Axel Springer): Beratung Furrerhugi
Thérèse Courvoisier («24 Heures»): Kommunikation selbstständig
Tilman Lingner (SRF): Kommunikation Vanda Advisory AG
Ueli Schmezer (SRF): Kommunikation selbstständig
Hybrid
journalistisch tätig mit Einkommen ausserhalb des Journalismus
Benjamin Moser («Wohnrevue»): Kurator Design Preis Schweiz
Cécile Klotzbach («Blick»): Ausbildung betriebliche Mentorin und Coach
Heidi Ungerer (SRF): «Noch offen»
Jürgen Törkott (Somedia): Gastronom
Laurina Waltersperger (SDA/AWP): Redaktion Sanitas
Lynn Grütter (Tele Züri): Kommunikation selbstständig
Monika Buser (Radio Bern 1): selbstständig
Nicole Berchtold (SRF): Studium
Noémie Schwaller («Textilrevue», CH Media): Frei / Dozentin STF Textilfachschule
Wie viele Journalisten haben sich seit dem Republik-Artikel von Ende April 2021 aus dem Journalismus verabschiedet? Um diese Frage zu beantworten, konsultierten wir wieder folgende Quellen: das Magazin «Schweizer Journalist:in», die Websites von «Persönlich.com», «Klein Report» und «Edito», das Karriereportal Linkedin sowie die Schweizer Mediendatenbank SMD. Zudem fragten wir Journalistinnen insbesondere im Tessin und in der Romandie. Jede Angabe haben wir nach dem 2-Quellen-Prinzip geprüft.
Das Resultat ist eine Liste mit knapp 80 Namen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Wir publizieren sie, weil wir unsere Recherche transparent machen wollen. Die Namen teilten wir in die fünf Kategorien Sprecherin, Berater, Auftragsschreiberin, Aussteiger und Hybrid auf. Letztere bezeichnet Personen, die ein Einkommen ausserhalb des Journalismus gefunden haben, daneben aber weiterhin journalistisch tätig sind. Bei Ex-Journalisten, die in ihrem neuen Job nicht nur Aufgaben in der Kommunikation, sondern etwa auch im Marketing oder in der Geschäftsführung wahrnehmen, erwähnen wir der Einfachheit halber nur die Kommunikation. Wir vermelden jeweils den aktuellsten Arbeitgeber, den wir ausfindig machen konnten. Aussteigerinnen, die zurzeit auf Arbeitssuche sind oder noch nicht wissen, wie es konkret weitergehen soll, haben wir nicht in die Liste aufgenommen. Ebenfalls nicht aufgeführt sind Fotografinnen, Bildredaktoren und Layouterinnen.
Nach Hinweisen aus der Branche haben wir Jenni Herren wieder aus der Liste gestrichen, da sie per 1. Mai beim Radio SRF angefangen hat. Auch Karoline Arn haben wir aus der Liste entfernt, da sie ihren Posten beim Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen wieder gekündigt hat und im Sommer zum Radio SRF zurückkehren wird. Neu aufgenommen haben wir dafür drei ehemalige Wissenschaftsjournalistinnen der NZZ: Stephanie Kusma, Helga Rietz und Lena Stallmach.