Zur Aktualität

Nils Melzers Abschieds­geschenk

Der Uno-Sonderbericht­erstatter für Folter arbeitet neu beim Roten Kreuz. Vor dem Jobwechsel schickte er eine brisante Depesche zum «Fall Brian» an Bundesrat Ignazio Cassis.

Von Brigitte Hürlimann, 22.04.2022

Teilen7 Beiträge7
Synthetische Stimme
0:00 / 8:53

Ende März hat er sein Uno-Mandat vorzeitig niedergelegt – und zwei Tage zuvor noch etwas ganz Wichtiges erledigt. Nils Melzer hat in seinen letzten Arbeits­tagen ein Schreiben ans Aussen­departement (EDA) verschickt, mitunterzeichnet von zwei weiteren Uno-Expertinnen. Der 52-jährige Schweizer nennt es eine «Abschluss­intervention».

Seine ordentliche Amtsdauer als Sonder­berichterstatter für Folter würde eigentlich erst im Oktober ablaufen. Doch Melzer ist Anfang Jahr zum Direktor beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) ernannt worden; ab Juli wird er in Genf für Völker­recht, Politik und humanitäre Diplomatie zuständig sein. Die beiden Aufgaben, sagt er, liessen sich nicht vereinbaren. Sein neuer Job beim IKRK basiert auf Vertraulichkeit. Als Uno-Sonder­bericht­erstatter für Folter hingegen hatte er Klartext zu reden, unangenehm zu sein und Missstände öffentlich anzuprangern.

Das alles hat Melzer getan, ohne Beisshemmungen: sei es im Fall des Wikileaks-Gründers Julian Assange – oder sei es im Fall des Schweizer Langzeit­häftlings Brian, der unter dem Pseudonym «Carlos» landesweit bekannt wurde.

Dass ausgerechnet ein Schweizer Uno-Mann Vorgänge in der Muster­demokratie Schweiz kritisiert, ist gar nicht gut aufgenommen worden.

Schon Anfang Juni 2021 hatte Melzer eine erste Intervention in Sachen Brian an EDA-Vorsteher Ignazio Cassis verschickt, mit einer ganzen Reihe von Fragen, die es abzuklären gelte. Im Zentrum des Schreibens standen die Haft­bedingungen des heute 26-jährigen Mannes, der sich damals seit über zweieinhalb Jahren in einem ausser­gewöhnlich restriktiven Haftregime befand.

Doch das EDA unternahm nichts, sondern liess Melzer lediglich eine Stellung­nahme des Zürcher Amts für Justiz­vollzug zukommen, das für den Häftling zuständig ist. Es wies – wenig überraschend – sämtliche Vorwürfe von sich: Das Amt will keine Fehler begangen haben, betont die Mitverantwortung des Häftlings und zeigt sich «höchst befremdet» über die Uno-Intervention.

Am 3. September 2021 folgte daher eine zweite Intervention. Melzer warf dem EDA mangelnde Kooperation mit der Uno vor und verlangte die Beendigung von Brians Langzeit­einzelhaft. Ausserdem seien sämtliche Misshandlungs­vorwürfe seit 2006 abzuklären. Doch auch in seiner zweiten Antwort ging das EDA auf keine dieser Forderungen ein. Es übernahm kurzerhand die Position der Zürcher Behörden.

Damit, sagt Nils Melzer, sei die Schweiz ihren völker­rechtlichen Verpflichtungen nicht nachgekommen.

«Weil die Uno erst im Sommer meinen Nachfolger ernennen wird, habe ich noch Ende März eine Abschluss­intervention ans EDA geschickt.» Das Schreiben, sagt Melzer auf Anfrage der Republik, sei von Miriam Estrada-Castillo, der Vizepräsidentin der Uno-Arbeits­gruppe zu willkürlicher Haft, sowie von Dominique Day von der Uno-Arbeits­gruppe für Menschen aus Afrika mitunterzeichnet worden.

Ende Mai werden die Intervention und eine allfällige Antwort der Schweiz veröffentlicht. Melzer sagt, er habe das EDA aufgefordert, sein Schreiben auch ans Bundes­gericht sowie ans Zürcher Obergericht weiter­zuleiten; damit sein Inhalt bei der weiteren Beurteilung des «Falls Brian» gebührend berücksichtigt werden könne.

Melzer fordert die Schweiz im Schreiben auf, sieben exemplarisch ausgewählte Vorfälle juristisch aufzuarbeiten.

Es geht um Brians erste Verhaftung 2006 und die anschliessende Einzelhaft über 45 Tage. Da war der Bub 10 Jahre alt und wurde zu Unrecht der Brand­stiftung beschuldigt.

Es geht auch um Brians wiederholte, monatelange Zwangs­isolation in Spitälern und Gefängnissen im Teenager­alter; aus Sicht der Behörden «mangels Alternativen».

Weiter thematisiert Melzer zwei Suizid­versuche Brians im Untersuchungs­gefängnis (als 15-Jähriger), eine Fesselung ans Spitalbett in der Zürcher Psychiatrie, die 13 Tage dauerte, menschen­unwürdige Haftbedingungen im Bezirks­gefängnis Pfäffikon sowie die mehr als dreijährige Einzelhaft in der Justizvollzugs­anstalt Pöschwies.

Der scheidende Uno-Sonder­berichterstatter für Folter macht die Schweiz höflich darauf aufmerksam, dass trotz wiederholter Aufforderung und zahlreicher Hinweise auf teilweise schwere Misshandlungen keine Unter­suchung im Sinne der Antifolter­konvention stattgefunden habe – sondern nur «ein Rechtfertigungs­versuch der Behörden für die andauernde Nicht­beachtung zwingenden Völker­rechts».

«Die Regierung hat diesbezüglich nichts unternommen, und das ist erstaunlich», sagt Melzer diplomatisch.

Zudem bestünden offenbar zwei grosse Missverständnisse. Das erste betreffe die Arbeit eines Uno-Sonder­bericht­erstatters für Folter: «Dieser kann keine eigenen Straf­untersuchungen durchführen, er ist weder Ankläger noch Richter. Er soll Hinweise auf mögliche Völker­rechts­verletzungen geben. Es liegt dann in der Pflicht der Staaten, solchen Hinweisen unverzüglich und seriös nachzugehen.»

Das zweite Missverständnis betreffe den Umgang mit der Langzeit­einzelhaft. Gestützt auf die von der Schweiz anerkannten und vom EDA weltweit propagierten Uno-Mindest­grundsätze für die Behandlung von Gefangenen, die sogenannten Mandela Rules, dürfe Einzelhaft höchstens für 15 aufeinander­folgende Tage angeordnet werden.

Jede Überschreitung verletze das Misshandlungs­verbot, sagt Melzer. Entgegen einem in der Schweiz vorherrschenden Irrtum beziehe sich dieses Verbot nicht nur auf «Isolationshaft», bei der die Sinnes­wahrnehmung gezielt beeinträchtigt wird (sensory isolation), sondern ausdrücklich auf jede Form der Einzelhaft (solitary confinement). Also auf jede Absonderung des Gefangenen für mindestens 22 Stunden pro Tag ohne wirklichen zwischen­menschlichen Kontakt.

Unbestritten ist, dass sich Brian mehr als drei Jahre lang ununterbrochen in Einzelhaft befand. «Das ist völker­rechtlich absolut verboten, und zwar unabhängig vom persönlichen Verhalten des Häftlings», betont Melzer.

Für solche Argumente hatte das EDA bisher kein Gehör, und es bleibt abzuwarten, wie es auf die neueste Uno-Depesche reagieren wird.

Das Bundesgericht hingegen hat längst Klartext gesprochen und Melzers Forderungen bestätigt. Ende letzten Jahres hat das höchste Gericht der Schweiz dem Kanton Zürich in zwei Entscheiden mitgeteilt, dass es im Fall Brian so nicht mehr weiter­gehen könne.

Die Verurteilung zu 6 Jahren und 4 Monaten Freiheits­strafe wurde aufgehoben: Weil sich das Zürcher Obergericht nicht mit den zahlreichen Misshandlungs­vorwürfen auseinander­gesetzt hatte, die auch Melzer nun bereits zum dritten Mal thematisiert. Ausserdem zwang das Bundes­gericht die Zürcher Behörden dazu, die unmenschlichen Haft­bedingungen aufzuheben.

Der Kanton Zürich spurte. Seit Ende Januar befindet sich Brian in einem anderen Gefängnis im Gruppen­vollzug. Er nimmt am Unterricht teil, kann Sport treiben, hat Aufgaben und Verantwortung übernommen, isst regelmässig zusammen mit seinen Mithäftlingen. Vorbei sind die Zeiten, als er sich ausserhalb der Zelle und eines Mini-Spazierhofs nur an Händen und Füssen gefesselt und in Begleitung einer Sicherheits­patrouille in Vollmontur bewegen durfte. Vorbei die Zeiten, als ihm jeglicher Kontakt zu Mitinsassen verweigert wurde, auch Familien­besuche und Arzt­termine nur hinter Panzerglas stattfanden.

Der «Fall Brian», sagt Nils Melzer, werfe eine ganze Reihe Fragen auf, die über den Einzelfall hinaus von Bedeutung seien. Grösster Dorn im Auge ist Melzer die in der Schweiz routine­mässig praktizierte, jedoch klar völker­rechtswidrige Langzeit­einzelhaft. Wichtig seien aber auch die von Dominique Day geäusserten Bedenken, dass im «Fall Brian» struktureller Rassismus mit im Spiel sein könnte.

Brian und seine Familien­angehörigen haben immer wieder rassistische Vorfälle erwähnt. Bloss: Es habe ihnen niemand zugehört, niemand geglaubt.

Nils Melzer sagt: «Beides wird sich in der Schweiz wohl erst dann ändern, wenn unsere Behörden nicht nur von der Uno gerügt, sondern auch von den eigenen Gerichten zurück­gepfiffen und zu kostspieligen Schadenersatz- und Genugtuungs­zahlungen verpflichtet werden.»