Abschied mit «Schwanensee»: Am 3. März musste der unabhängige russische TV-Sender TV Rain schliessen. Nanna Heitmann/Magnum Photos/Keystone

«Putin glaubt die Propaganda, die er selbst erschafft»

Der unabhängige russische Sender TV Rain wurde vom Kreml über Jahre attackiert: wegen Kritik an Krieg und Korruption und wegen «Homosexuellen-Propaganda». Anfang März wurde er verboten. Moderator Michail Fischman musste Russland über Nacht verlassen. Ein Gespräch über das Ende der Freiheit.

Von Daniel Ryser, 11.04.2022

Synthetische Stimme
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Der Kontakt kam schliesslich über Instagram zustande, als Michail Fischman auf der Flucht war. Er sass in Baku, Aserbaidschan, fest, von wo er nach Georgien einreisen wollte. Doch dort verwehrte man dem bekannten russischen Journalisten, TV-Moderator und Kreml-Kritiker die Einreise.

Fischman ist Angriffe gewohnt: TV Rain, der unabhängige russische Sender, für den er arbeitete, wurde bereits 2014 die Sende­bewilligung entzogen – weil der Einmarsch Russlands ins Donez­becken scharf kritisiert wurde. «Doschd», wie TV Rain in Russland heisst, organisierte sich im Internet neu, verlor aber einen Grossteil der Zuschauer.

Der Sender, hinter dem ein diverses Team steht – knapp die Hälfte der Mitarbeiterinnen identifizieren sich als queer –, war in den vergangenen Jahren nicht nur wegen seiner Kritik an Krieg und Korruption massivem Druck der Regierung ausgesetzt. Sondern auch wegen der Gesetze gegen «Homosexuellen-Propaganda»: Kabel­anbieter beendeten Verträge, Werbe­partner sprangen ab, und schliesslich wurde der Sender vom Kreml als «ausländischer Agent» deklariert.

Am 1. März 2022 dann wurde auf Anordnung der russischen Generalstaats­anwaltschaft der Zugang zu TV Rain auch im Internet gesperrt – weil der Sender weiter über den russischen Überfall auf die Ukraine berichtet hatte. Als Grund für das Verbot nannte die Regierung «Anstiftung zum Extremismus, Störung des Friedens und der Sicherheit der Menschen und Anstiftung zu Protesten».

Und jetzt? Die Belegschaft des Senders packt die Sachen und geht einer ungewissen Zukunft entgegen. Nanna Heitmann/Magnum Photos/Keystone

Am 3. März 2022, der Sender war wegen der Sperre vorübergehend auf Youtube ausgewichen, gab die Belegschaft bekannt, dass man die Arbeit einstellen müsse. Gründerin Natalja Sindejewa sagte vor laufender Kamera «Nein zum Krieg», dann verliessen ihre Angestellten das Studio. Anschliessend wurde das «Schwanensee»-Ballett von Peter Tschaikowsky gezeigt (was das sowjetische Fernsehen unter anderem während des gescheiterten Putsch­versuchs gegen Michail Gorbatschow gezeigt hatte, oder nach dem Tod von Leonid Breschnew).

Mehrere führende Mitarbeiter, darunter Chefredaktor Tichon Dsjadko, mussten das Land aus Sicherheits­gründen verlassen. So auch Michail Fischman. Als wir schliesslich sprechen konnten, war er mit seiner Familie in Tel Aviv in Sicherheit.

Michail Fischman, Sie kritisieren Russland seit Jahren für seine Propaganda im Sowjet-Stil – und schafften es trotzdem, immer weiterzumachen. Was genau ist in den vergangenen Wochen passiert?
Vom ersten Tag an, als der Krieg begann, war für uns klar, dass TV Rain und wir als Journalisten in Russland nicht lange überleben würden. Der Krieg brachte umgehend eine umfassende Zensur, die mit jedem Tag erdrückender wurde. Die Regierung warf uns vor, Falsch­information über das russische Militär zu verbreiten. Die ersten Journalisten verliessen das Land bereits am Tag, als der Krieg begann. Schnell hatten sich Gerüchte verbreitet, dass die Grenzen geschlossen würden, dass ein Militär­regime errichtet würde, dass niemand mehr das Land verlassen könnte. Ich entschied mich zu bleiben. Ich wollte erst gehen, wenn es nicht mehr möglich wäre, als Journalist zu arbeiten.

Das dauerte nur ein paar Tage.
Anfang März wurde unser Sender gesperrt. Mehrere unserer Mitarbeiter verliessen das Land. Ich flüchtete mit meiner Familie wortwörtlich über Nacht. Emotional waren wir aber darauf vorbereitet: Wir hatten unsere Arbeit ab dem Tag nicht mehr frei ausüben können, als gesetzlich verboten wurde, den Krieg Krieg zu nennen. Es wurde verboten, das offizielle Narrativ infrage zu stellen. Es war das Ende der Presse­freiheit. Journalismus wurde lebensgefährlich.

Schon in den Jahren zuvor gab es verschiedene Gesetze, welche die Presse­freiheit beschnitten, es gab Angriffe auf Ihren Sender, die Journalistin Anna Politkowskaja wurde ermordet – wie haben Sie in diesem Klima durchgehalten?
Das, was ich als Journalist gemacht habe, hat deswegen funktioniert, weil ich es in Russland gemacht habe. Weil ich ein Insider war, kein Outsider. Ich bin überzeugt, dass es extrem wichtig ist, dass man im Land selbst ist, wenn man über Russland berichtet. Das hat mich immer motiviert weiterzumachen.

Jetzt ist das nicht mehr möglich.
Es ist natürlich nicht so, dass es für Journalisten in Russland über Nacht gefährlich wurde. Das begann schon vor mehr als zwanzig Jahren, und zwar am Tag der ersten Amts­einführung von Wladimir Putin als Präsident. Zuerst wurde innerhalb eines Jahres eine der grössten TV-Stationen zerschlagen, sie hatte Putin während des Wahl­kampfs scharf kritisiert. Die grossen Schritte in Sachen militärischer Zensur passierten ab 2013: Zuerst mit den Euromaidan-Protesten in Kiew und dann mit Russlands Einmarsch ins Donez­becken. Damals wurde unser Sender zum ersten Mal verboten. Wir verloren die TV-Lizenz, überlebten im Internet, aber verloren den grössten Teil unseres Publikums. Deshalb kam das jetzige Verbot nicht überraschend.

Wie frei konnten Journalistinnen vor dem Krieg berichten?
In den letzten zwei Jahren hat sich die Situation noch einmal massiv verschärft, der Griff der Zensur wurde immer enger. Selbst ohne diesen Krieg rasten wir in Russland mit hohem Tempo auf das Ende der Freiheit und damit auch der Presse­freiheit zu. Das wurde offenbar, als im Sommer 2020 die neue Verfassung angenommen wurde, in der festgehalten wird, dass ab sofort keine Regeln mehr gelten werden.

Wie meinen Sie das?
Russland hat sich damit auch formal in eine Diktatur verwandelt. Sogar auf Papier, also ganz offen und für alle sichtbar, wurden die checks and balances gestrichen und Putin zum Tyrannen ernannt, der über dem Gesetz steht. Das Gesetz besagte es genau so: Putin ist nicht anzutasten. Kurz darauf entschied dann ein russisches Gericht, dass als Extremist gilt, wer mit Putin nicht einverstanden ist. Damals passierte in kurzer Zeit sehr viel: Die Vergiftung von Nawalny im Sommer 2020 war eine Nachricht an uns alle: Was bisher galt, das gilt nicht mehr. Als Nawalny im Januar 2021 nach Russland zurück­kehrte und am selben Tag an der Grenze verhaftet wurde, begann eine neue, massive Welle von Repression gegen Journalisten und gegen Teile der Gesellschaft. Nawalnys Bewegung wurde als extremistisch verboten, und es wurde ein neues Gesetz eingeführt, mit dem Journalisten und Redaktionen als «ausländische Agenten» gebrandmarkt werden können: Jeden Freitag wurden nun neue Journalisten als «ausländische Agenten» gelistet. Wie sollte man so arbeiten? Es war das Ende der freien Presse.

Was bedeutet dieses Label?
Es bedeutet, dass du ein Ausgestossener bist, ein Gesetzloser. Es bedeutet, dass man dich jagen kann, angreifen, schlagen, ins Gefängnis stecken, und dass du keine Mittel hast, um dich zu wehren. Du musst der Regierung über dein Einkommen Auskunft geben und deine Arbeit, deine Geräte durchleuchten lassen. Und du bist durch eine spezielle gesetzliche Klausel verpflichtet, dass du bei jedem Beitrag, den du publizierst, angeben musst, dass du ein ausländischer Agent bist, egal ob dieser Beitrag in deiner Zeitung erscheint, auf deinem Sender oder einfach auf Facebook. So haben wir seit August 2021 gearbeitet.

Wie arbeitet man so überhaupt noch? Wie kann man so noch frei denken, frei schreiben?
Die Gesetze führten zu einer massiven Selbst­zensur. Es ist ja nicht so, dass es keine privaten Medien mehr gab. Aber die wenigen grossen Häuser, die übrig geblieben waren, weigerten sich, Putin zu kritisieren. Und sie begannen, Themen sehr sorgfältig auszuwählen – einzig im Sinne zu verhindern, vom Kreml verboten zu werden. Der Kreml übernahm gewisse Medien direkt. Bei vielen anderen war das nicht nötig, weil sie sich die Agenda und das Weltbild vom Kreml diktieren liessen. Damit tauchte Russland ab in eine Parallel­realität. Es war der Moment, als in Russland Nachrichten aufhörten, Nachrichten zu sein. Sie wurden zu dem, was Putin wollte, das es die Leute glauben. Das ging schon Mitte der Nuller­jahre los. Meine Sendung begann zum Beispiel jeweils mit diesem Satz: «Dieses Programm wird Ihnen präsentiert von einer Einheit, die von der russischen Regierung auf einer Liste ausländischer Agenten geführt wird.»

Erinnerungen an journalistische Arbeit: Michail Fischman (linke Seite) im Gespräch mit dem kremlnahen Politikwissenschaftler Alexei Chesnakow. Nanna Heitmann/Magnum Photos/Keystone

Was bedeutete das für Ihr Leben?
Für mich persönlich bedeutete das gar nicht so viel, weil ich als Individuum nicht als Agent gelabelt war, sondern nur mein Sender. Unzählige andere hingegen wurden als Agenten gelabelt, und das hat ihr Leben auf den Kopf gestellt. Es ist grauenvoll. Seit spätestens Sommer 2021 bedeutete Journalismus in Russland, auch für mich persönlich, durch ein Minenfeld zu laufen: Du weisst nie, was passieren wird, wie es passieren wird und was genau passieren wird. Ich rechnete die ganze Zeit damit, als Agent gelabelt zu werden. Jeden Tag, mit jeder Sendung hätte es passieren können. Und das ist nichts anderes als staatlicher Terror. Die Medien standen unter Beschuss dieses foreign agentism, ständig gingen Granaten nieder, und niemand wusste, wen es als Nächstes treffen würde.

Sind Sie noch in Kontakt mit Journalistinnen in Russland?
Mit einigen.

Aber eine unabhängige Presse gibt es jetzt nicht mehr?
Es gibt noch nicht einmal mehr soziale Netzwerke. Es gibt keine freie Information mehr. Alle Informationen sind vom Kreml gleichgeschaltet. Die Letzten, die sich noch über Wasser halten, dürfen den Krieg nicht Krieg nennen. Es lohnt sich deswegen, beim russischen Fernsehen sehr genau hinzuhören: Was dort gesagt wird, diese ganze Propaganda, reflektiert Putins Denken. Es entspricht exakt dem, was Putin denkt, und zwar heute mehr als je zuvor. Russische Propaganda ist seine Nachricht an die Welt und letztlich auch an sich selbst. Er glaubt die Propaganda, die er selbst erschafft.

Kürzlich verglich sich Wladimir Putin mit der «Harry Potter»-Autorin J. K. Rowling: Diese sei «gecancelt» worden wegen ihrer Haltung gegenüber Transpersonen, und nun «cancele» der Westen Russland.
Glauben Sie mir, Putin hat keine Ahnung, wer diese Frau ist oder was sie geschrieben hat. Er hat bestimmt seinen Enkel­kindern nie ein Wort aus «Harry Potter» vorgelesen. Er weiss nicht, wovon er redet. Er wurde offenbar gebrieft, um über Cancel-Culture zu sprechen, über politische Korrektheit und um Russland darzustellen als Hafen für traditionelle Werte. Als Gegen­entwurf zu dieser Welt also, in der alle Regeln gebrochen werden, zur vermeintlichen Tyrannei des Liberalismus, der das freie Denken unterdrückt. Natürlich ergibt das überhaupt keinen Sinn. Putin behauptete, zuerst habe man den russischen Sieg im Zweiten Weltkrieg gecancelt, und dann J. K. Rowling. Da sind wir wieder bei der Propaganda, die das ganze Land auffrisst: Er erzählt etwas, wovon er keine Ahnung hat, aber dann beginnt er es selber zu glauben. So funktioniert dieses Land unter Putin.

Während sich Putin als Opfer einer Cancel-Culture darstellte, cancelte er tatsächlich und wortwörtlich die Presse­freiheit. Sie selbst mussten Russland verlassen. Was bedeutet das für Sie?
Ich bin nicht mehr in der Lage, meinen Job zu machen. Es bleibt mir und vielen anderen Journalisten nichts anderes übrig, als mich neu zu erfinden. In Russland werde ich, solange Putin lebt, nicht mehr arbeiten können. Ich weiss noch nicht einmal, ob ich zurück­kehren kann. Vielleicht ist es möglich, aber es ist riskant. Und mit jedem Tag wird es gefährlicher. Was aber völlig klar ist: Ich werde mit Sicherheit nicht mehr in der Lage sein, in Russland Journalismus zu machen. Wenn ich zurück­kehre, muss ich schweigen. Ansonsten verschwinde ich für viele Jahre im Gefängnis.

Was kann man in dieser Situation tun, um die russische Öffentlichkeit zu informieren, fernab der Gleich­schaltung des Kreml?
Das Land hat sich isoliert und vom einen auf den anderen Moment komplett von der Realität abgekapselt. Der Zugang zu Information ist entscheidend. Sie sollte, wie auch immer, ermöglicht werden. Je mehr Russinnen und Russen an unabhängige Informationen gelangen, desto besser. Zugänge zu VPN-Diensten und virtuellen privaten Kommunikations­netzen müssen so gut es geht ermöglicht werden. Und Russinnen und Russen, die das Land verlassen müssen, weil sie bedroht sind, sollten so gut es geht unterstützt werden. Damit sie in der Lage sind, mit der Heimat in Verbindung zu bleiben. Damit sie das Land mit echter Information versorgen können. Viele Russen sind ja genauso Opfer dieses Kriegs wie Ukrainer. Zwar werden sie nicht getötet und bombardiert, aber sie befinden sich ebenfalls in echter, in grosser Gefahr.