Blockiert und verbannt

Ein Nachruf auf den unabhängigen Journalismus in Russland.

Von Ivan Ruslyannikov, 14.03.2022 (Update: 03.08.2022)

Synthetische Stimme
0:00 / 12:03

Das hier ist ein Nachruf. Eigentlich ist es nicht meine Spezialität, so etwas zu schreiben. Aber der unabhängige russische Journalismus ist tot.

Nach dem Ausbruch des Putin-Krieges in der Ukraine ist in Russland eine strenge militärische Zensur eingeführt worden. Mittlerweile sind die meisten unabhängigen Medien entweder gesperrt oder geschlossen. Roskomnadzor – das ist die staatliche Aufsichts- und Zensur­behörde für Massen­medien – hat überall gnadenlos blockiert, wo Journalistinnen in ihren Texten das Wort «Krieg» verwendeten. Denn laut dem Kreml gibt es keinen Krieg in der Ukraine, es gibt nur eine «Spezial­operation». Darüber hinaus ist ein Gesetz gegen die Verbreitung von Fake News über die Streit­kräfte der Russischen Föderation verabschiedet worden. Und dieses Gesetz bedeutet: Die russischen Behörden werden nun selbst bestimmen, was ein Fake ist und was nicht. Mit diesen neuen Bestimmungen können die Gerichte jetzt Freiheits­strafen von bis zu 15 Jahren verhängen.

Unter solchen Bedingungen ist es unmöglich, objektiv über die Ereignisse in der Ukraine zu berichten. Und es ist gefährlich, als Journalist zu arbeiten.

Zum Autor

Ivan Ruslyannikov befand sich sich zum Zeitpunkt der Publikation in Russland und war der Redaktion bekannt. Er wollte diesen Text unter seinem Namen veröffentlichen. Wir entschieden uns dagegen, weil wir seine Sicherheit damals nicht garantieren können. Wir haben keine Details in diesem Text verfremdet, aber einige identifizierende Angaben aus dem Original weggelassen. Unterdessen lebt Ruslyannikov in Deutschland – und wir nennen seinen Namen auf seinen Wunsch nun.

Vor ungefähr zehn Jahren war das noch anders. Damals arbeitete ich bei einer grossen privaten Zeitung und schrieb Beiträge über Korruption, über polizeiliche Willkür, über Betrug durch Beamte und andere heisse Themen. Auch diese Arbeit war schwierig, da ich nach journalistischen Standards jeweils alle Konflikt­parteien zu Wort kommen lassen musste. Und bei weitem nicht alle waren daran interessiert, mir eine Stellung­nahme abzugeben. Das heisst: Wenn ich auch die offizielle Sicht korrekt wieder­geben wollte, dann reduzierte sich das auf einen Satz: «Ein Gesprächs­partner in den Sicherheits­behörden, der anonym bleiben wollte, lehnte es ab, einen Kommentar abzugeben.»

Das klingt zum Lachen, aber so war das halt.

Gab es damals Druck auf die Journalistinnen? Ja, das schon. Er kam in drei Formen.

Die erste ist die einfachste, die banalste: Man ermordete Journalisten – oder man versuchte es zumindest. 2004 wurde der erste russische «Forbes»-Redaktor Paul Klebnikov getötet, 2006 erschoss ein Killer Anna Politkowskaja, Journalistin bei der unabhängigen «Novaja Gaseta». Im Jahr 2010 wurde Oleg Kashin, Redaktor bei der Zeitung «Kommersant», in Moskau brutal zusammen­geschlagen: Die Angreifer brachen ihm den Kiefer, beide Beine und Hände. Der Artikel, der in «Kommersant» über dieses Attentat erschien, trug die Überschrift «Armierungen als Mittel der Zensur». Armierungen, das sind die dicken Eisen­stäbe, die in Beton gegossen werden, um Mauern zu stabilisieren – das war die Waffe, mit denen die Angreifer auf Kashin einprügelten.

Die zweite Form des Drucks auf Journalistinnen war der Versuch, Medien finanziell zu ruinieren. 2004 verurteilte ein Gericht «Kommersant» dazu, 320,5 Millionen Rubel (damals rund 14 Mio. Franken; Anm. der Red.) an die Alfa Bank zu bezahlen, die grösste Privat­bank Russlands. Und zwar als Entschädigung für einen Artikel, der angeblich den Ruf der Bank beschädigt hatte. Die beiden Parteien einigten sich später auf einen geringeren Betrag.

Es ist bemerkens­wert, wie sich die Zeitung «Kommersant» damals journalistisch wehrte. Auf der Titel­seite erschien ein grosses Foto des Chefs der Alfa Bank, Michail Fridman, wie er Wladimir Putin die Hand schüttelt. Diese Ausgabe der Zeitung ist mittlerweile eine Rarität, viele Redaktorinnen hängten sie in ihren Büros an die Wand.

Die dritte Art von Druck wurde nach 2010 populär, als ein dem Kreml nahestehender Oligarch eine grosse Medien­holding kaufte, um damit Journalisten direkt zu kontrollieren. In der Folge konnte der Inhaber entscheiden, ob er unbequeme Redaktorinnen gewähren lassen, einschüchtern oder entlassen wollte – oder Schlimmeres tun wollte.

Im Jahr 2011 entliess der wichtigste Aktionär des Verlags von «Kommersant», er heisst Alischer Usmanow, den Heraus­geber des politischen Wochen­magazins «Kommersant-Vlast», Maxim Kowalski. Das tat er, nachdem «Kommersant-Vlast» das Foto eines Wahl­zettels abgedruckt hatte, auf den jemand «Putin fick dich» geschrieben hatte.

Ein extremer Job

Das journalistische Verlangen nach Unabhängigkeit wurde immer stärker. Wenn wieder mal Redaktoren von neuen Verlegerinnen entlassen wurden, nahmen sie gleich ihr Team mit und gründeten neue Medien. Ein bekanntes Beispiel ist die ehemalige Chef­redaktorin von «Lenta.ru», Galina Timtschenko, die «Meduza» gründete, das in die Top 3 der russischen Medien aufstieg. Der Erfolg von «Meduza» bewies: Mit einem professionellen Team kann man in Russland ein unabhängiges Medium aufbauen, das Gewinn macht.

Vor einigen Jahren wurde ich eingeladen, bei «MBK Media» zu arbeiten. Das ist eine Organisation, die vom berühmten Kreml­kritiker Michail Chodorkowski gegründet wurde. Ich habe damals lange darüber nachgedacht, ob ich den Job annehmen soll, da zu den Aufgaben auch die «Entwicklung neuer Formate» gehörte. «MBK Media» legte den Schwer­punkt nicht auf die Website, sondern auf die Erweiterung des Publikums über ihren Kanal auf dem Messenger­dienst Telegram.

Es war ein extremer Job. Man muss ihn sich so vorstellen: Es ist Winter, Tausende Menschen gehen zur Unter­stützung des Putin-kritischen Oppositionellen Alexei Nawalny auf die Strasse, Polizisten gehen mit Schlag­stöcken auf sie los, die Polizei­transporter füllen sich mit Festgenommenen. Und mittendrin sind Journalistinnen, die alles filmen und in einen Gruppen­chat ihre Videos posten – die dann im Telegram-Kanal landen, von wo aus sie sich rasend schnell weiter­verbreiten.

In meiner Wahrnehmung habe ich damals sehr verantwortungs­volle Arbeit geleistet, da die Menschen in den staatlichen Propaganda­medien von den Protesten nichts erfuhren. Genauer gesagt lief es jeweils so, dass in diesen Propaganda­sendern nie von harten Strafen die Rede war und der Moderator seinem Publikum erzählte, dass nur ein paar hundert Menschen auf die Strasse gegangen wären, obwohl es in Wirklichkeit Tausende waren.

Wenn es gerade keine Proteste gab, schrieb ich lange Geschichten über die Folter von Inhaftierten, auf der Basis von Material, das mir deren Rechts­anwälte schickten, und gestützt auf Unter­suchungs­akten und Strafbefehle. Nachdem ich einen solchen Text geschrieben hatte, trank ich normaler­weise einen Viertelliter Cognac und ging ins Bett, um alles so schnell wie möglich zu vergessen.

Nach der Blockierung der unabhängigen Medien sagte mir der Protagonist aus einem meiner Texte: «Sollte mir etwas passieren, habe ich niemanden mehr, an den ich mich wenden kann.»

In Russland wird die Verstärkung der Repressionen gerne mit dem Zudrehen einer Schrauben­mutter verglichen. Ich habe es im Sommer 2021 gespürt, als «Meduza» plötzlich als «ausländischer Agent» gebrandmarkt wurde. Diese Bezeichnung bedeutet, dass betroffene Medien regelmässig berichten müssen, woher sie ihr Geld bekommen – und über jede Nachricht eine spezielle Notiz in grossen, dicken Buchstaben setzen müssen. Würden Sie einem Medium trauen, das Sie ständig darüber informiert, dass es ein «ausländischer Agent» ist?

Darüber hinaus bedeutete das grosse finanzielle Einbussen, weil viele Unter­nehmen ihre Werbung nicht mehr in solchen Medien platzieren wollen. Auch Beamtinnen und Abgeordnete sind weniger bereit, solchen Medien eine Stellung­nahme abzugeben.

Als Nächstes kam dann das Stigma des «ausländischen Agenten» für einzelne Journalisten. Buchstäblich jeden Freitag erscheinen neue Namen von Journalistinnen auf der Website des Justiz­ministeriums. Seither leben wir alle in konstanter Aufregung: Wer ist der Nächste? Sonja Groysman und Olga Tschurakowa von «Projekt» reagierten auf ihren Eintrag auf diese Liste mit dem Podcast «Hallo, du bist ein ausländischer Agent». Dort erzählen sie, wie schwierig es ist, mit diesem Stigma einen Job zu finden, wie anstrengend es ist, die Formulare auszufüllen, um Rechenschaft über seine Finanzen abzulegen – und wie sie diese Last psychisch unter Druck setzt.

Proteste gegen etwas, das man nicht benennen darf

Im August des vergangenen Jahres blockierte Roskomnadzor schliesslich auch «MBK Media». Michail Chodorkowski beschloss, das Projekt zu schliessen, um die Journalisten nicht zu gefährden. Da ich damals eine ganze Daten­bank von Kontakten beisammen hatte, beschloss ich, als Freelancer weiter­zuarbeiten.

Als ich am Morgen des 24. Februar 2022 auf Telegram ein Video von Raketen­angriffen auf Charkiw in der Ukraine sah, traute ich meinen Augen nicht. Viele Medien berichten in Echtzeit über die Ereignisse in der Ukraine. Da es sich um einen Krieg im Smartphone-Zeitalter handelt, gehen unzählige verstörende Videos einfach über den Äther. Ich finde: Natürlich müssen Journalistinnen das veröffentlichen.

Kurz nach Kriegsbeginn gab Roskomnadzor eine Erklärung ab, dass die russischen Medien nur auf der Grundlage offizieller russischer Quellen über die «spezielle Operation» schreiben sollten. Was das in der Praxis bedeutet: Wir haben alle die schrecklichen Aufnahmen eines zerstörten Hauses in der Stadt Tschuhujiw gesehen. Die ukrainischen Behörden erklärten, das Haus sei durch einen Angriff des russischen Militärs zerstört worden. Das russische Militär aber sagt, dass es keine Angriffe auf Wohn­objekte in der Ukraine gebe. Also, wer war es dann? Solange mir die russischen Behörden keine Beweise für ihre Aussage liefern, muss ich als ehrlicher Journalist schweigen.

Wir Journalisten befinden uns jetzt in der Situation, dass es einen Stand­punkt des Kremls gibt – und einen falschen Stand­punkt. Und wenn du dich für den falschen Stand­punkt entscheidest, dann erwarten dich bis zu 15 Jahre Gefängnis.

Während ich diese Zeilen schreibe, hat Roskomnadzor in Russland «Mediazona», «BBC Russia», «Current Time», «Meduza», die «Deutsche Welle» und viele andere Medien blockiert. «Znak.com» und der Fernseh­sender Doschd haben ihre Arbeit eingestellt, mehr als 150 Journalistinnen haben Russland bereits verlassen.

Kürzlich habe ich einen Redaktor bei der «Novaja Gaseta» in einem Video­call gefragt: «Die Leute kommen zu Antikriegs­protesten, wie muss ich darüber schreiben?» Er lächelte traurig und antwortete mir: «Das sind Proteste gegen etwas, das man nicht benennen darf, wir schreiben das buchstäblich so.»

In der Tat: Wenn es laut den russischen Behörden keinen Krieg gibt, wie könnten das dann Antikriegs­proteste sein?

Ich denke nicht daran, meinen Beruf aufzugeben. Wenn wir jetzt den Tod des unabhängigen russischen Journalismus feststellen müssen, dann sage ich Ihnen auch Folgendes: Wir können in der Zukunft mit seiner Wieder­belebung rechnen.

Als magische, Leben spendende Medizin werden alle die Menschen dienen, die jetzt arbeitslos sind. All die talentierten, mutigen, objektiven und gut ausgebildeten Journalisten. Man muss verstehen, dass es unabhängigen Journalismus vor Putin gab – und es wird ihn auch nach Putin geben.

Ich hoffe, das war mein erster und letzter Nachruf.