Briefing aus Bern

SP im Sinkflug, Masken­pflicht fällt, AHV-Referendum auf Kurs – und ein Hand­schlag gibt zu reden

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (185).

Von Dennis Bühler, Priscilla Imboden und Cinzia Venafro, 31.03.2022

Synthetische Stimme
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Ja, die Verluste seien «schmerzhaft», sagte SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer am Montag. Sie sprach von den Parlaments­wahlen im Kanton Bern, bei der ihre Partei am Sonntag sechs Sitze verloren hatte. Es waren die jüngsten in einer langen Liste von Verlusten: Seit den letzten eidgenössischen Wahlen im Herbst 2019 hat die SP insgesamt 45 Vertreterinnen in den kantonalen Legislativen verloren.

Und dann scheiterten die Sozial­demokraten im zweit­grössten Kanton des Landes auch noch mit ihrem Vorhaben, einen dritten Regierungs­sitz zu erobern. Dank der Allianz von SVP, FDP und Mitte konnten die Bürgerlichen mit vier Sitzen ihre Mehrheit im Berner Siebner­gremium verteidigen.

Damit ist klar, dass sich die SP nicht mehr nur im Formtief befindet, sondern regelrecht im Sinkflug: Seit Ende 2020 geht es nur noch bergab. Am Sonntag vor einer Woche musste die Partei bereits im Kanton Waadt herbe Verluste hinnehmen.

Mit Blick auf die nationalen Wahlen im Herbst 2023 dürften die SP-Führung folglich Bauch­schmerzen plagen. Doch wie ein Kränkelnder, der seine Symptome ignoriert, redet die Partei­spitze die Verluste klein. In Interviews gibt sich Mattea Meyer kämpferisch, spricht davon, dass der Blick nach vorne sie «optimistisch» stimme. Statt Selbst­kritik zu üben, greift sie die Gegner an: Der FDP und der Mitte sei es «offenbar egal», dass die SVP «nicht nur Verständnis für Putins Angriffs­krieg» zeige, sondern «auch unseren Bundesrat als Corona-Diktator verunglimpft» habe.

Die SVP musste derweil ihrerseits den Verlust von zwei Sitzen im Berner Grossen Rat hinnehmen. Nachdem sie bereits in St. Gallen, Schaff­hausen, Neuenburg, Freiburg, Nidwalden und der Waadt verloren habe, müsse dieses Resultat die Partei aufrütteln, sagte Alt-Bundesrat Adolf Ogi: «Mittler­weile haben wir ein regel­rechtes Verlierer-Image.»

Ganz anders sieht es in den grünen Lagern aus: Sowohl die Grün­liberalen als auch die Grünen legen weiter zu, wie eine Bilanz der Parteien seit den nationalen Wahlen 2019 zeigt – wobei es der GLP gar noch ein bisschen besser läuft als den Grünen.

Sicher ist: Hält der Trend bis zu den Wahlen im Herbst 2023 an, wird der Ruf nach einem grünen Bundesrats­sitz noch lauter werden. Auf Kosten eines der zwei Sitze der Sozial­demokratinnen? Die SP-Spitze hält ob solcher linken Befürchtungen Ohren und Augen zu.

Und damit zum Briefing aus Bern.

Corona: Bundesrat hebt letzte Mass­nahmen auf

Worum es geht: Der Bundesrat beschliesst die Rückkehr zur Normalität: Ab 1. April fallen auch noch die letzten Corona-Schutz­massnahmen. Das bedeutet: keine Masken­pflicht mehr im öffentlichen Verkehr und in Spitälern, keine Pflicht, sich nach einer Ansteckung zu isolieren. Das Virus zirkuliert zwar weiter in der Bevölkerung, führt aber aktuell meist zu leichten Verläufen und überlastet die Spitäler nicht mehr. Deshalb lässt der Bundesrat nun die im Epidemien­gesetz definierte «besondere Lage» auslaufen und kehrt zur «normalen Lage» zurück. Das bedeutet, dass die Verantwortung wieder an die Kantone übergeht. Sie sind zuständig für allfällige Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie. Gesundheits­minister Alain Berset sagte am Mittwoch vor den Medien: «Wir können nach zwei Jahren Pandemie mit Zuversicht in die Zukunft blicken, auch wenn eine gewisse Unsicherheit besteht.» Die wissen­schaftliche Covid-19-Task-Force hat nun ihre Arbeit eingestellt und in einem Bericht Bilanz gezogen, in dem sie auch selbstkritisch aufzeigt, wo sie im Verlauf der Pandemie Fehl­einschätzungen gemacht hat.

Warum Sie das wissen müssen: Jede Person ist fortan selber verantwortlich, um sich und andere vor einer Ansteckung zu schützen. Das Masken­tragen wird freiwillig, bleibt aber in gewissen Situationen wie etwa in Kontakt mit gefährdeten Personen oder in einem dicht besetzten Zug sinnvoll. Das Covid-Zertifikat ist in der Schweiz nicht mehr nötig, es wird aber weiterhin ausgestellt, weil es für Ausland­reisen noch verlangt wird.

Wie es weitergeht: Die Kantone werden das Contact Tracing zurück­fahren und die Swiss-Covid-App wird deaktiviert. Die Pandemie ist damit aber nicht vorbei: Expertinnen gehen davon aus, dass es im Herbst wieder zu einer Ansteckungs­welle kommen könnte.

AHV-Reform: Referendum eingereicht

Worum es geht: Mehr als 150’000 Unter­schriften haben die Gegner der AHV-Reform der Bundes­kanzlei übergeben. Somit sind noch vor Frist­ablauf dreimal so viele Unter­schriften als nötig gesammelt worden. Das Referendum gegen das vom Parlament geschnürte AHV-Päckli ergriffen haben der Gewerkschafts­bund, unterstützt von der SP und den Grünen.

Warum Sie das wissen müssen: Bürgerliche Kräfte im Parlament prägten die Reform der ersten Säule mass­geblich. Bereits 2021 kündigten Grüne und SP ein Referendum an, sollte das Frauen­rentenalter ohne entsprechende Ausgleichs­massnahmen erhöht werden. Beim Einreichen der Unterschriften argumentierten die Gegnerinnen, Frauen müssten bereits heute mit massiv kleineren Renten leben. Viele kämen damit nicht durch: Jede vierte Frau in der Schweiz habe keine zweite Säule, jede neunte Frau müsse Ergänzungs­leistungen beziehen. Derweil steht mit der Renten­initiative, welche die Jung­freisinnigen im Sommer 2021 bei der Bundes­kanzlei eingereicht haben, bereits ein neues Volks­begehren zum Thema in den Start­löchern. Dieses will das Rentenalter generell auf 66 erhöhen und es an die Lebens­erwartung koppeln. Zeitgleich wird der Gewerkschafts­bund für seine AHV-Initiative Unterschriften sammeln: Er will mit den Gewinnen der National­bank das Loch in der AHV stopfen, das Stand jetzt die Frauen mit der Erhöhung ihres Renten­alters stopfen müssten.

Wie es weitergeht: Voraus­sichtlich im Herbst wird die Stimm­bevölkerung das letzte Wort zur aktuellen AHV-Reform haben.

Russland-Sanktionen: Bund will Bemühungen intensivieren

Worum es geht: Die Schweiz übernimmt die meisten Sanktionen der EU gegen Russland – doch nicht alle. Der Bundesrat hat am Freitag entschieden, auf Netz­sperren zu verzichten, welche die Verbreitung von Inhalten der russischen Propaganda­sender RT und Sputnik verhindern. Es sei wirksamer, unwahren Äusserungen mit Fakten zu begegnen, anstatt sie zu verbieten, teilte er mit. Zudem haben Recherchen der Republik gezeigt, dass mehr als zwei Dutzend von der EU sanktionierte Personen auf der Schweizer Sanktions­liste fehlen. Dazu gehören der prorussische ukrainische Ex-Präsident Wiktor Janukowitsch sowie etliche mutmassliche russische Schwer­kriminelle – von Hackern über Geheimdienst­agenten bis zu Söldnern der rechts­extremen Gruppe Wagner.

Warum Sie das wissen müssen: Nachdem der Bundesrat zu Beginn des Krieges in der Ukraine heftig kritisiert worden war, weil er zunächst nur die Umgehung der Sanktionen über die Schweiz hatte verhindern wollen, wurde er Anfang März inter­national gelobt. Selbst US-Präsident Joe Biden zeigte sich erfreut, dass die Schweiz ihre Neutralität für einmal anders auslegt als gewohnt. Nun aber wächst die Kritik wieder, weil es unklar ist, wie ernst es die Schweizer Behörden mit den Sanktionen gegenüber Russland meinen. Zweifel nährte unter anderem die Aussage des Zuger Finanz­direktors Heinz Tännler, er halte es nicht für nötig, nach Oligarchen­geldern zu suchen. Der SVP-Politiker hat diese Aussage inzwischen relativiert. Zug hat sich aber gemeinsam mit mehreren anderen Kantonen darüber beschwert, dass das Staats­sekretariat für Wirtschaft (Seco) die Kantone nicht über deren Aufgaben informiert habe. Das Seco hat kürzlich mitgeteilt, es seien erst knapp sechs Milliarden Franken an russischen Vermögen eingefroren worden.

Wie es weitergeht: Das Seco hat angekündigt, seine Bemühungen nun zu intensivieren. Auch die Schweizer Zollfrei­lager sollen unter die Lupe genommen werden, weil dort Edel­metalle, Kunst und andere Wert­gegenstände von Oligarchen vermutet werden. Das Bundesamt für Zoll und Grenz­sicherheit «prüft, ob sich Vermögens­werte von sanktionierten Personen in den Zollfrei­lagern befinden».

Handschlag der Woche

Kann ein Handschlag zynisch sein? Darüber streiten die Gegner und Befürworterinnen des Referendums gegen das Frontex-Gesetz. Diese Woche hat das über­parteiliche Komitee, welches die europäische Grenzschutz­behörde weiterhin mit Schweizer Millionen mitfinanzieren will, seine Abstimmungs­kampagne vorgestellt. Als Plakatsujet hat sich die Operation Libero, die das Referendum gemeinsam mit FDP, Mitte, GLP, dem Wirtschafts­dachverband Economie­suisse und dem Tourismus­verband bekämpft, einen Handschlag ausgesucht. Mit ihrem Claim «Für Menschen­rechte, für Europa» macht sich die Organisation das Haupt­argument der Referendums­befürworter zu eigen, zu denen nebst dem «Migrant Solidarity Network» und «Solidarité sans frontières» auch SP, Grüne und Juso gehören. Diese fokussieren ebenfalls auf Menschen­rechte und prangern deren Verletzungen an den europäischen Aussen­grenzen an. Wer die Stimm­bevölkerung am 15. Mai an der Urne überzeugen kann, ist noch offen. Sicher ist: Das Handschlags­plakat hat schon Aufmerksamkeit erzeugt, bevor es überhaupt in den Strassen hängt.

Illustration: Till Lauer