Joan Minder

Wie die Schweiz ihrem besten Ruf gerecht werden wollte, aber ihr schlechtestes Bild abgab

Ist die Schweizer Neutralität Voraus­setzung für Gute Dienste? Oder Vorwand für gute Geschäfte? Und was hat sie mit Schweizer Maschinen­lieferungen zu tun, mit denen womöglich Trieb­werke für russische Kampf­jets gebaut wurden?

Eine Recherche von Elia Blülle, Dennis Bühler, Carlos Hanimann, Lukas Häuptli, Priscilla Imboden und Felix Michel, 05.03.2022

Synthetische Stimme
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Da sass er also, Ueli Maurer, der Finanz­minister, nonchalant wie eh, und erzählte das Gegenteil von dem, was alle tagelang geschrieben, gesagt und getwittert hatten. Russland sei für die Schweiz gar kein wichtiger wirtschaftlicher Partner, sagte er vergangenen Montag, als die Regierung die vollständige Übernahme von EU-Sanktionen gegen Russland beschloss. Vielmehr gehöre die Gross­macht in die Kategorie «ferner liefen».

Die russischen Investitionen in die Schweiz: unbedeutend («weniger als 1 Prozent»). Die russischen Vermögen auf Schweizer Banken: nicht relevant («weniger als 2 Prozent»).

Das war eine sehr selektive Darstellung der Dinge, mit der Maurer vor allem eines zu sagen schien: Die Schweizer Beteiligung an den inter­nationalen Sanktionen spiele keine grosse Rolle.

Vier Tage zuvor hatte der Finanz­minister schon einmal seinen eigen­willigen Blick auf den Krieg in der Ukraine offenbart. Als die russische Invasion gerade begonnen hatte, sagte Maurer in einem Fernseh­interview, Wladimir Putin sei «ein strategischer Kopf», der seine Ziele verwirkliche. Er lobte dessen Aussen­minister Lawrow als «einen der besten». Und in Maurers Ausführungen über die «russische Seele» klang einiges Verständnis an, als er etwa erklärte, Russland fühle sich gedemütigt – so wie ein angeketteter Hund: «Den kann man schlagen, aber wenn man ihn loslässt, rächt er sich.»

Putin als Rächer – so stellte es Bundesrat Ueli Maurer am Tag des Kriegs­ausbruchs dar. Und die schweizerisch-russischen Wirtschafts­verflechtungen als Nichtigkeit.

Zwischen diesen zwei Auftritten lagen vier turbulente Tage, in denen die offizielle Schweiz ihrem besten Ruf gerecht werden wollte, tatsächlich aber ihr schlechtestes Bild abgab.

Sie glaubte, ihre Zurück­haltung ermögliche Gute Dienste als Vermittlerin zwischen den Kriegs­parteien. Das Zaudern aber wirkte, als gehe es ihr in Wirklichkeit um gute Geschäfte mit Russland.

In den Tagen vor dem Krieg hatten Medien weltweit unter dem Titel «Suisse Secrets» darüber berichtet, wie die Grossbank Credit Suisse trotz gegen­teiliger Beteuerungen jahrzehnte­lang Gelder von Despoten angenommen und gebunkert hatte. Die Partner­medien in der Schweiz verzichteten darauf, Namen zu nennen, weil das Banken­gesetz dies verbietet. Als die Schweiz bei Kriegs­ausbruch dann auch noch zögerte, die Sanktionen der EU zu übernehmen, kommentierte die «Frankfurter Allgemeine Zeitung»: «Die Schweiz will von Sanktionen gegen Putin nichts wissen.» Und: «Journalisten, die Daten über Konten von Diktatoren veröffentlichen, droht Gefängnis.»

Die Kehrtwende folgte am letzten Montag: Die Schweiz übernahm alle EU-Sanktionen. «Ein in diesem Umfang einmaliger Entscheid», sagte Bundes­präsident Ignazio Cassis. Und die «New York Times» verschickte eine Pushmeldung: Die Schweiz lege damit die Tradition der Neutralität beiseite.

Seither ist hierzulande eine Debatte über die Neutralität entbrannt. Oder vielleicht eher: über ihren Nimbus. Und darüber, wie die Neutralitäts­politik in Zukunft aussehen soll.

Klar ist: Neutralitäts­politik bedingt eine gewisse Kohärenz. Wer Frieden stiften und für alle Seiten ansprechbar bleiben will, muss glaubwürdig sein.

Kann man das, wenn man Gelder von Folter­generälen, Drogen­händlern und Oligarchen bunkert und Schweizer Waffen in bewaffneten Konflikten auftauchen?

Karin Keller-Sutters brisanter Vorstoss

Lange liefen die Geschäfte der Schweiz ganz gut. Nach dem Zusammen­bruch der Sowjet­union lautete das Motto go east, und aus diesem Grund zeigten die Zahlen zu den Exporten nach Russland in den ersten zwei Jahr­zehnten der neuen Welt­ordnung steil aufwärts. Zwischen 1992 und 2012 verzehnfachte sich der Wert der ausgeführten Waren.

Zwar war Russland gemessen an den Exporten der Schweiz in die EU und in die USA ein kleiner Absatz­markt. Aber er wuchs. Und ein Ende des Wachstums war nicht absehbar.

Das wusste auch die Schweizer Maschinen­industrie. 2011 reiste der damalige FDP-Bundesrat Johann Schneider-Ammann mit Wirtschafts­vertretern nach Russland; die Verantwortlichen des Branchen­verbands Swissmem hielten dazu fest: «Export­markt mit grossem Potenzial».

Damals schien der Autokrat Wladimir Putin wie ein stabiler Garant für die wachsenden Wirtschafts­beziehungen – bis er 2014 die Krim besetzte. Die USA und die EU ergriffen umgehend Sanktionen gegen Russland. Doch die Schweiz übernahm sie nicht, sondern traf lediglich Massnahmen, damit die Sanktionen nicht umgangen werden konnten.

Der eigenwillige Schritt liess sich 2014 noch erklären – mit der Neutralität. Aber vor allem mit dem Schweizer Vorsitz der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammen­arbeit in Europa. Diese vermittelte wegen der Krim-Besetzung zwischen Russland und der Ukraine. Gute Dienste – mit der Schweiz an der Spitze.

Aber selbst diese Massnahmen zur Verhinderung von Umgehungs­geschäften versetzten den florierenden Schweizer Exporten einen Dämpfer. 2015 gingen die Ausfuhren nach Russland um etwa 20 Prozent zurück, diejenigen der Maschinen­industrie um rund 25 Prozent.

Auch im Kleinen waren die Massnahmen spürbar: 2015 verbot das Staats­sekretariat für Wirtschaft (Seco) mehrere Exporte von sogenannten Dual-Use-Gütern nach Russland. Das sind Güter, die sowohl zivil als auch militärisch gebraucht werden können. Das Seco stützte sich dabei auf die sogenannte Ukraine-Verordnung. In zwei Fällen handelte es sich bei den verbotenen Export­gütern um Werkzeug­maschinen, in drei um Prüf- und Kalibrier­systeme. Die Verantwortlichen seien davon ausgegangen, dass diese in Russland zu militärischen Zwecken verwendet würden, sagt ein Seco-Sprecher dazu.

Doch dann begann ein kleines Kapitel in der grossen Geschichte des Schweizer Polit-Lobbyings. Und das ging so: Nach dem Einbruch der Exporte im Jahr 2015 intervenierten verschiedene Vertreterinnen der Schweizer Maschinen­industrie bei kantonalen Volks­wirtschafts­direktoren und beim Bundesrat. Ihre Forderung: Die Ausfuhr­praxis müsse gelockert werden.

Im Gleichschritt mit der Industrie reichte die damalige St. Galler Stände­rätin und heutige Bundes­rätin Karin Keller-Sutter einen Vorstoss im Parlament ein, in dem sie die Seco-Praxis offen kritisierte: «Der Spielraum der Verordnung zugunsten der Schweizer Export­wirtschaft wird damit nicht genutzt, was zu einem faktischen Export­verbot für Dual-Use-Güter führt.» Und: «Damit wird das eigentliche Ziel der Verordnung – die Vermeidung der Umgehung der Sanktionen – überstrapaziert. Dies trifft die Schweiz als Industrie­standort substanziell.»

Die guten Geschäfte waren bedroht.

Wirtschafts­minister Johann Schneider-Ammann, FDP-Mitglied wie Keller-Sutter und ehemaliger Verwaltungsrats­präsident des Maschinen­bauers Ammann Group, schien Verständnis für das Anliegen zu haben. Er sagte im März 2016, bei der Beurteilung von Gesuchen für die Ausfuhr nach Russland dürfe es «keine ideologischen Prüf­kriterien» geben.

Schon einen Monat zuvor hatte der Gesamt­bundesrat in der Antwort auf Keller-Sutters Vorstoss geschrieben, was er genau darunter verstand: «Die Ausfuhr von Dual-Use-Gütern an zivil-militärische Misch­betriebe ist sodann grund­sätzlich bewilligungs­fähig.»

Grundsätzlich bewilligungs­fähig.

Was sich hinter dem Beamten­deutsch verbarg, zeigte sich rasch: Von da an bewilligte das Staats­sekretariat für Wirtschaft praktisch alle Gesuche für Exporte von Dual-Use-Gütern nach Russland – oder musste sie aufgrund der Vorgaben des Bundes­rats bewilligen. Zwischen Anfang 2016 und Ende 2021 kam es zu rund 1300 Ausfuhren von Gütern, die zivil wie auch militärisch genutzt werden können.

Die Maschinen­industrie atmete auf.

Unter den Exporten befanden sich auch rund 120 Spezial­maschinen von Schweizer Maschinenbau­firmen, mit denen hochpräzis gefräst und geschliffen werden kann. Diese Maschinen braucht man unter anderem für die Herstellung von Flugzeug­triebwerken – und zwar von Trieb­werken ziviler wie militärischer Flugzeuge.

Tatsächlich wurden diese Maschinen zwischen 2016 und 2021 auch an zivil-militärische Misch­konzerne in Russland verkauft, die Trieb­werke herstellen. Das bestätigt ein Seco-Sprecher. Weitere Angaben zu Maschinen, Verkäufern und Käufern macht er mit Verweis auf das Amts­geheimnis und das Geschäfts­geheimnis der involvierten Firmen nicht.

Warum das brisant ist?

Es ist möglich, dass diese Spezial­maschinen aus der Schweiz in Russland auch zur Herstellung von Trieb­werken militärischer Flugzeuge gebraucht wurden. Von Flugzeugen, die die russische Luftwaffe zurzeit im Ukraine-Krieg einsetzt.

Bei diesen handelt es sich im Wesentlichen um vier Flugzeug­typen, wie Militär­analyst Niklas Masuhr vom Center for Security Studies der ETH Zürich sagt: Suchoi Su-30, Suchoi Su-34, Suchoi Su-35 und MiG-35.

Diese Flieger und ihre Bestand­teile werden praktisch ausschliesslich in russischen Betrieben hergestellt. Viele dieser Betriebe sind sowohl in der zivilen als auch der militärischen Luftfahrt­produktion tätig und gehören zum Flugzeug­konzern OAK. Dieser wiederum ist seit 2018 Teil des Technologie­konglomerats Rostec – des wohl grössten zivil-militärischen Misch­betriebs Russlands.

Das beweist natürlich nicht, dass Schweizer Präzisions­maschinen zur Herstellung von russischen Kampf­jets verwendet wurden. Aber es ist eben auch nicht ausgeschlossen. Und das ist – gerade in Kriegs­zeiten – das Problem von Dual-Use-Gütern: Wie sie wirklich verwendet werden, ist für die Behörden kaum überprüfbar.

Auch der Sprecher des Staats­sekretariats für Wirtschaft sagt: «Einen Missbrauch kann man nie ausschliessen.»

Er betont, dass das Seco alle Gesuche einer «Einzel­prüfung» unterzogen habe. Für diese sei oft die «Export­kontroll­gruppe des Bundes» zugezogen worden, der auch Vertreterinnen des Nachrichten­dienstes angehörten. Auf diese Weise habe man die zivile Verwendung der Dual-Use-Güter «plausibilisiert». Schliesslich seien alle Schweizer Firmen, die Werkzeug­maschinen nach Russland exportierten, zu einem «Reporting» über die zivile Verwendung der Maschinen verpflichtet worden.

Zwischen 2016 und 2021 verweigerte das Seco einzig in vier Fällen die Ausfuhr von Dual-Use-Gütern nach Russland, weil es davon ausging, dass die Waren eigentlich für die russische Waffen­produktion bestimmt gewesen waren.

Seit die Schweiz letzten Montag die EU-Sanktionen übernommen hat, erübrigen sich allerdings all diese Fragen: Die Geschäfte der Schweiz mit Russland laufen weder gut noch schlecht. Sie laufen gar nicht mehr.

Die Neutralität: Begründung für alles und nichts

Die ukrainische Botschaft ist eine stattliche Villa im Berner Kirchenfeld­quartier. An jenem Montag­nachmittag, als sich der Bundes­rat den EU-Sanktionen anschliesst, tritt ein Mann aus dem Gebäude und sucht Ruhe. Er geht auf und ab, die müden Augen auf das Smart­phone gerichtet. Er hat, wie die meisten in der Botschaft, seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen.

Der Botschafts­garten gleicht einem eilig aufgebauten Flohmarkt: Den ganzen Morgen sind hier Medikamente, Kleider, Sicherheits­westen angeliefert worden. Am Abend soll ein Lastwagen die erste Ladung in die Ukraine bringen.

Der ruhelose Mann ist ein Mitarbeiter der Botschaft. Gleich muss er zum Briefing bei den Schweizer Behörden erscheinen. Das Handy in der Hand, sagt er: «Mein Quartier in Kiew steht unter Beschuss.» Auf seinem Bild­schirm zeigt er Fotos einer Häuser­zeile, sieben oder acht Stockwerke hoch. Er zoomt rein. «Das ist meine Wohnung», sagt er und wischt zum nächsten Bild.

Darauf: ein schwarzes Loch, so gross wie ein Last­wagen. Zehn Meter neben seiner Wohnung. Ob seine Nachbarn noch da waren, als die russische Granate das Gebäude traf, weiss er nicht.

Dann stürmt der ukrainische Botschafter Artem Rybchenko aus der Botschaft, sein Mitarbeiter folgt ihm. Zu Fuss eilen sie ins Bundes­haus. Kurz darauf wird der Botschafter im Nationalrats­saal mit stehenden Ovationen empfangen.

Auch am nächsten Tag gibt es in den Gängen des Bundes­hauses nur ein Thema: der Ukraine-Krieg und die Schweizer Neutralitäts­politik.

«Der Bundesrat hat den Neutralitäts­begriff am Montag markant anders ausgelegt als in der Vergangenheit», sagt Hans-Peter Portmann, FDP-National­rat und Aussen­politiker. Den Positions­bezug finde er zwar richtig, aber: «Ich bedaure, dass er diesen Kurs­wechsel vorgenommen hat, ohne vorgängig die zuständigen demokratischen Institutionen zu konsultieren.»

Ähnlich sieht es die Mitte-Politikerin Elisabeth Schneider-Schneiter, die ehemalige Präsidentin der Aussen­politischen Kommission. Der Bundes­rat habe einen Paradigmen­wechsel vollzogen. «Wir kommen nicht umhin, den Neutralitäts­begriff neu zu definieren.» Auch SVP-National­rat und Aussen­politiker Roland Rino Büchel sagt, die Neutralität sei nun nicht mehr die gleiche. Vor allem aber: «Die Rolle der Schweiz als Vermittlerin, als Erbringerin der Guten Dienste, ist infrage gestellt.»

Tatsächlich?

Es ist nicht das erste Mal, dass die Schweiz internationale Sanktionen übernimmt. Vom Ende der Neutralität war früher aber in diesem Zusammen­hang nicht die Rede. Das Staats­sekretariat für Wirtschaft listet auf seiner Website 24 bestehende Sanktionen auf. Dazu gehören Massnahmen gegenüber Mitgliedern und Sympathisanten von al-Qaida oder der Taliban genauso wie die Sperre von Vermögen von Regierungs­mitgliedern aus Venezuela.

Ganz anders schätzt denn auch SP-Aussen­politiker Fabian Molina die Lage ein. Der Bundesrats­entscheid vom Montag stelle keinen Paradigmen­wechsel dar. «Er ist bloss ein Bruch mit der aussen­politischen Zurück­haltung von Bundes­rat Ignazio Cassis.»

GLP-National­rätin Tiana Angelina Moser seufzt und sagt: «Neutralität verlangt immer eine politische Einordung. Es ist klar, dass wir zur westlichen Werte­gemeinschaft gehören. Wenn die Sicherheits­ordnung und das Grundwerte­system infrage gestellt werden, dann ist klar, wo die Schweiz steht.» In einer Schönwetter­lage könne man mit der Neutralität spielen. «Sobald sich die Lage zuspitzt, braucht es eine klare politische Einordnung. Die Schweiz kann nicht politisch oder wirtschaftlich Profit aus der Neutralität schlagen.»

Die einen im Bundeshaus verteidigen die Schweizer Neutralität als Voraus­setzung für Gute Dienste, die anderen kritisieren sie als Vorwand für gute Geschäfte.

Was stimmt?

«Das Geniale an der Neutralität», sagt Historiker Sacha Zala, «ist, dass sie eine leere Hülse ist, die man füllen kann, wie man will. Damit konnte man schon immer jede politische Handlung begründen. Und ihr Gegenteil.»

Von einem Paradigmen­wechsel in der Neutralitäts­politik könne deshalb nicht die Rede sein, sagt Zala, der sich als Direktor der Forschungs­stelle Dodis intensiv mit Neutralitäts­fragen beschäftigt.

Das Haager Abkommen von 1907 definiere die Neutralität sehr eng: Es gehe darum, sich aus militärischen Konflikten heraus­zuhalten und alle Kriegs­parteien im Hinblick auf den Export von Rüstungs­gütern gleich­zubehandeln. «Weil darüber hinaus keine handlungs­leitenden Pflichten entstehen, hat man in der Schweiz die Unter­scheidung zwischen Neutralitäts­recht und Neutralitäts­politik erfunden – und Letztere kann man frei auslegen, wie es gerade passt.»

Ich will es genauer wissen: Sanktionen und die Schweizer Neutralität

Ab 1920, als der Völker­bund gegründet wurde, seien Sanktionen ein zentrales Element der kollektiven Sicherheit geworden, sagt der Historiker Sacha Zala. Dabei ging es einerseits um wirtschaftliche Sanktionen, anderer­seits um militärische. Doch Neutralität sei im Kern eine rein militärische Angelegenheit, sagt Zala. Es gehe darum, im Kriegsfall keine Seite militärisch zu begünstigen.

Für die Schweiz wurde deshalb eine Ausnahme gemacht: Sie beteiligte sich nicht an militärischen Sanktionen – auch damit die Bevölkerung dem Beitritt zum Völker­bund zustimmte, was sie schliesslich tat. Die Schweiz versprach aber, Wirtschafts­sanktionen zu übernehmen. Erst mit dem Entstehen einer «internationalen Gemeinschaft», die den Anspruch hatte, für alle Staaten gültige Verpflichtungen durchzusetzen, etablierte sich die moderne Neutralität.

«Die Neutralität als Alleinstellungs­merkmal der Schweiz begann also faktisch erst 1920», sagt Zala. «Alle Neutralitäts­praktiken zuvor geschahen in einem völlig anderen internationalen System: Die meisten Staaten waren bis dahin in den meisten Kriegen neutral gewesen.»

Die erste Bewährungs­probe für die Sanktionen des Völker­bundes kam 1935, als der italienische Diktator Benito Mussolini in Abessinien, dem heutigen Äthiopien, einmarschierte. Der Völker­bund ergriff nach einigem Zögern leichte Wirtschafts­sanktionen. Die Schweiz trug diese zuerst mit. Da sie aber wirtschaftliche Nachteile befürchtete, hob sie die Sanktionen 1938 mit Verweis auf die Neutralität wieder auf. «Plötzlich sprach man von der ‹integralen Neutralität›, aber das war ein diskursives Konstrukt, um diese Kehrt­wende zu legitimieren», sagt Zala.

Ende der 1940er-Jahre musste sich die Schweiz erneut positionieren. Die USA und die Nato verhängten ein Export-Embargo von militärisch nutzbarer Technologie gegenüber dem Sowjet­block. Die Schweiz verweigerte sich zunächst und berief sich auf die Neutralität. Da drohten die USA, die Schweiz ebenfalls auf die Sanktions­liste zu setzen. Diesen Konflikt löste der Bundesrat 1951 mit dem informellen, schriftlich nicht festgehaltenen sogenannten Hotz-Linder-Agreement, benannt nach den beiden Verhandlungs­leitern. «Die Schweiz musste sich dem amerikanischen Druck beugen», sagt Zala: Sie begrenzte ihren Osthandel und ordnete sich der Nato-Embargo­politik gegen den Ostblock unter.

Am Ende des Zweiten Welt­kriegs galten die neutralen Staaten als Schurken­staaten. Die Schweiz stand als Kriegs­gewinnlerin da, weil sie mit den Achsen­mächten weiter Handel betrieben hatte.

Der Kalte Krieg verlieh der Neutralität international wieder Akzeptanz. Doch die Schweiz verweigerte sich später den Uno-Sanktionen gegen das Apartheid-Regime von Südafrika und profitierte wirtschaftlich massiv, indem sie Gold- und Diamanten­handel betrieb. Auch gegenüber Rhodesien sah der Bundesrat davon ab, die Sanktionen der Uno mitzutragen – beides mit erheblichem Reputations­schaden.

Mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 stellte sich die Frage der Ausrichtung der Neutralität neu. Die Schweiz begann, Sanktionen zu übernehmen. Sie tat es 1990 mit den Uno-Sanktionen gegen den Irak, 1991 mit den Sanktionen der Europäischen Gemeinschaft, später auch der Uno im Jugoslawien­krieg und 1992 gegen Libyen.

«Die heutigen Behauptungen, dass die Schweiz wegen der Neutralität nie Sanktionen ergriffen hat, sind schlicht­weg falsch», sagt Zala. «Seit dem Ende des Kalten Krieges hat die Schweiz sich immer wieder internationalen Sanktionen angeschlossen.»

Die Schweiz sei stets im Spannungs­verhältnis der Welt­mächte gestanden und habe sich der Lage entsprechend angepasst. Sie habe eine vorsichtige Aussen­politik verfolgt, was legitim sei für ein Land in ihrer Lage, findet Zala: «Statt einfach zu sagen, sie sei vorsichtig, sagt die Schweiz, sie sei neutral.»

Heute halte die Rechte die Neutralität hoch, um das Abseits­stehen der Schweiz zu fordern. Aber die frühere SP-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey habe sich genauso auf die Neutralität berufen, um etwas ganz anderes zu fordern: humanitäre Einsätze und aktive diplomatische Einmischung in Konflikte.

Als er verkündete, dass die Schweiz die Sanktionen der EU gegen Russland übernehme, sagte auch Bundes­präsident Ignazio Cassis: «Der Bundes­rat hat die Neutralitäts­frage in diesem Lichte überprüft. Einem Aggressor in die Hände zu spielen, ist nicht neutral. Als Vertrags­staat und Depositar­staat der Genfer Konventionen sind wir den humanitären Geboten verpflichtet und dürfen nicht zusehen, wie diese mit Füssen getreten werden.»

Gute Dienste leistete die Schweiz in der Vergangenheit immer wieder, meist als diskrete Diplomatie. So vertritt sie die Interessen anderer Länder im Rahmen von Schutz­machts­mandaten. Sie tat das schon 1870/1871 im Deutsch-Französischen Krieg, später im Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie während des Kalten Krieges. Heute vertritt sie die Interessen der USA im Iran, die gegen­seitigen Interessen zwischen dem Iran und Saudi­arabien sowie zwischen Georgien und Russland. Und sie vertritt den Iran gegenüber Ägypten.

Ausserdem dient die Schweiz immer wieder als Gaststaat für Treffen zwischen Konflikt­parteien. Oder als Mediatorin.

Darauf schielte offenbar auch Bundes­präsident Cassis, als er am 26. Februar mit dem ukrainischen Präsidenten telefonierte: die Schweiz als Vermittlerin von Friedens­gesprächen zwischen Russland und der Ukraine. Am Samstag­abend vor einer Woche vermeldeten die Zeitungen der Tamedia: «Schweiz will Friedens­konferenz in Genf organisieren.» Doch Cassis’ Avance blieb ohne Erfolg: Eine Friedens­verhandlung mit Schweizer Beteiligung fand nicht statt.

Hat die Schweiz Putins Freunden Zeit gekauft?

Hektische Tage sind es zurzeit auch für die Schweizer Banken – und ihre russischen Kunden.

Denn: In kein anderes Land fliesst mehr Geld aus Russland als in die Schweiz, wie ein Wirtschafts­bericht der Schweizerischen Botschaft in Moskau festhält. Der Schweizer Finanz­platz erfreue sich «traditionell grosser Beliebtheit», für reiche Russinnen sei die Schweiz «weltweit mit Abstand die wichtigste Destination» zur Verwaltung der Vermögen.

Ein Schweizer Vermögens­verwalter bestätigt das. Viele russische Kunden seien Milliardäre. Diese sind nun in heller Aufregung. Banken werden seit dem Beschluss der EU-Sanktionen mit Anfragen überhäuft. Der Vermögens­verwalter sagt: «Der Wert der russischen Assets halbiert sich zurzeit praktisch täglich.»

Gemäss Medien­berichten versuchen russische Kundinnen deshalb, ihre Vermögen in Sicherheit zu bringen, Gelder abzuziehen oder ihr Domizil zu verlegen, um nicht unter das Sanktions­regime zu fallen. Es dürften eher verzweifelte Versuche sein.

Zwar ist die Schweizer Sanktions­liste derzeit noch nicht vollständig an jene der EU angepasst. Dort sind knapp 700 Personen gelistet und 50 Unternehmen. Bekannte Oligarchen wie Mikhail Fridman oder Petr Aven von der Alfa-Bank stehen noch nicht auf der Schweizer Liste. Auch Gennadi Timtschenko ist bis jetzt nur auf der EU-Liste aufgeführt. Er ist ein Putin-Freund und Mitgründer der Ölhandels­firma Gunvor in Genf, der am Genfer­see eine 18-Millionen-Franken-Villa besitzt und laut «Tages-Anzeiger» Konten bei der Gazprom­bank und der BNP Paribas in der Schweiz haben soll.

Hat die Schweiz also, als sie vier Tage lang zögerte, die EU-Sanktionen zu übernehmen, Putins Freundinnen Zeit gekauft?

Rein theoretisch wäre es möglich, in der Zeit zwischen Ankündigung und rechtlicher Umsetzung der Sanktionen Gelder zu verschieben und Anlagen zu verkaufen. Praktisch ist das gemäss Branchen­kennern so gut wie ausgeschlossen. Es wäre mit enormen Risiken verbunden.

Die Blockierung von Konten wird in der Regel rasch ausgeführt, sobald die Sanktionen verkündet werden – selbst wenn sie noch nicht rechts­kräftig sind. Spezialisierte Einheiten in der Bank spüren Konten von sanktionierten Personen und Firmen auf und frieren sie ein. Das heisst: keine Zuflüsse oder Abflüsse mehr.

Ist eine Blockierung innerhalb der Bank vollzogen, bräuchte es einen High-Level-Entscheid, um diese auszusetzen. Dieses Risiko dürften in einer so aufgeladenen Situation wie jetzt nur die aller­dreistesten Bankerinnen auf sich nehmen. Flöge so etwas auf, bedeutete es das Aus für das Finanz­institut.

Viele der reichsten Oligarchen dürften ihre Anlagen ohnehin schon länger so strukturiert haben, dass ihre Firmen gar nicht unter das Sanktions­regime fallen. Betragen Firmen­beteiligungen weniger als 50 Prozent, entgehen sie den Sanktionen. Der russische Industrielle Oleg Deripaska beispiels­weise, den man hierzulande vor allem wegen des Bau­unternehmens Strabag kennt, ist seit 2018 auf einer Sanktions­liste der USA. 2019 hoben die USA einige Sanktionen gegen Firmen auf, bei denen Deripaska beteiligt war. Er hatte beschlossen, seine Anteile dauerhaft auf knapp 45 Prozent zu senken.

Wie viel russisches Geld wirklich hier liegt

Als Finanz­minister Ueli Maurer am Montag vor den Medien die Bedeutung der russischen Gelder klein­redete, stützte er sich auf Zahlen der Schweizer National­bank. Rund 15,9 Milliarden Franken betrugen demnach die russischen Direkt­investitionen im Jahr 2020 in die Schweiz. Das sind 1,3 Prozent aller ausländischen Investitionen.

Nur: Über die Vermögens­werte, die russische Oligarchen etwa in der Schweiz lagern, sagt diese Zahl nichts aus. (Vom russischen Rohstoff­handel, der zu rund 80 Prozent über die Schweiz läuft, ganz zu schweigen.) Worauf also stützte sich Maurer, als er sagte, die russischen Vermögen machten nur knapp 2 Prozent aus?

Gemäss einer Statistik der Bank für Internationalen Zahlungs­ausgleich liegen Vermögen in der Höhe von rund 11 Milliarden Franken in der Schweiz. Tatsächlich aber dürfte der Betrag viel höher sein, weil sich die Statistik am Domizil und nicht an der Nationalität der Konto­inhaber ausrichtet. Nicht eingerechnet sind also jene Gelder, die zum Beispiel über Trust-Konstruktionen in Steuer­paradiesen wie den Cayman-Inseln, den Bahamas oder den Britischen Jungfern-Inseln in der Schweiz liegen. Die NZZ schrieb denn auch von 50 bis 150 Milliarden Franken, die Russinnen in der Schweiz angelegt hätten.

Womöglich geben die nächsten Tage mehr Aufschluss darüber, wie viel russisches Geld wirklich in der Schweiz liegt. Mit den neuen Sanktionen sind die Banken verpflichtet, gesperrte Konten und Vermögen dem Bund zu melden. Das Seco bestätigte am Freitag auf Anfrage der Republik, dass bereits erste Meldungen zu Vermögen von sanktionierten Personen eingegangen seien. Genaue Zahlen will das Seco erst später bekannt geben.

Worauf Maurer sich bei seinen Ausführungen stützte?

Das zuständige Staats­sekretariat für internationale Finanz­fragen antwortet, es existiere keine eigentliche Statistik dazu. Man habe aber verwaltungs­interne Abklärungen getroffen, die Banken gefragt und Hoch­rechnungen angestellt.

Das Fundament von Maurers Aussagen dürfte eine blosse Schätzung sein.