Fällt Orbán?

Ungarn wählt ein neues Parlament – und Minister­präsident Viktor Orbán könnte die Mehrheit verlieren. Seine Gegner allerdings bilden eine äusserst seltsame Zweck­gemeinschaft. Angeführt von einem waschechten Populisten.

Eine Analyse von György Dalos (Text) und Peter Puklus (Bilder), 28.03.2022

Synthetische Stimme
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Das Haus steht in Flammen: Die Bilder in diesem Beitrag sind konzeptuelle Arbeiten des ungarischen Fotografen Peter Puklus.

Wenn am kommenden Sonntag in Ungarn das neue Parlament gewählt wird, steht für Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei viel auf dem Spiel. Der Verlust der Zweidrittel­mehrheit und einiger bisher als Orbán-Terrain geltender Städte und Gemeinden in der Provinz scheint quasi sicher. Womöglich droht dem Fidesz sogar eine Niederlage: Nach zwölf aussichtslosen Jahren hat sich die Opposition in einem 6-Parteien-Bündnis von rechts bis links hinter dem gemeinsamen Kandidaten Péter Márki-Zay vereint – und sie hat eine realistische Chance auf Erfolg.

Die wichtigsten Meinungs­forscher sagten in den vergangenen Monaten ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem Regierungs­lager und der vereinten Opposition voraus. Mal ermittelten die Umfragen ein Patt, mal einen minimalen Vorsprung für Orbáns Fidesz. Das Forschungs­institut Median prophezeite Anfang des Jahres gar einen knappen Sieg der Opposition, nach Beginn des Krieges in der Ukraine schlug das Pendel allerdings wieder zugunsten von Orbán aus. Man kann die Niederlage der regierenden Partei also keinesfalls «in den Brief­umschlag stecken» (wie es im Budapester Slang heisst). Dennoch sind die Aussichten auf einen Regierungs­wechsel so gut, wie das noch vor kurzem kaum jemand für möglich gehalten hätte.

Parteien in Ungarn sind heutzutage keine straffen Einrichtungen mit fester Mitgliedschaft, regelmässigen Kongressen und Grund­organisationen. Vielmehr handelt es sich um einen engen Kreis von Funktionären mit einem zentralen und einem lokalen Apparat: ein General­stab, der ab und zu das Fussvolk mobilisiert und über die ihm zur Verfügung stehenden Medien Einfluss ausübt. Für Orbáns Fidesz-Partei sind dies das staatliche Fernsehen, der Rundfunk, zwei landes­weite Zeitungen und die gesamte Provinz­presse. In diesen Medien haben oppositionelle Inhalte so gut wie keinen Platz.

Zwischen zwei Wahl­kampagnen werden erbitterte Kämpfe im virtuellen Raum ausgefochten, kleine Bürger­kriege, für die aktuelle innen­politische Skandale die Munition liefern. Das Parlament war zuletzt eher ein Neben­schauplatz, da es angesichts der momentanen Mehrheits­verhältnisse nichts gab, was wirklich dort entschieden worden wäre. Die Wahl­kampagne sieht formal westeuropäisch aus, aber eine sachliche Diskussion zwischen den Kandidatinnen findet nicht statt.

Die gehässige Konfrontation beschränkt sich keineswegs auf die konkreten Themen des ungarischen Lebens, sondern betrifft auch Ereignisse auf fernen Kontinenten, zu denen jeder entsprechend seinem politischen Standort Stellung nimmt.

Die Liberalen sind zum Beispiel gegen Trump und pro Biden, während die Konservativen ebenso leidenschaftlich das Gegenteil vertreten. Reizworte wie Russland oder China sind bei den Liberalen negativ besetzt, bei den Konservativen positiv, und diese Wahr­nehmung wird fast automatisch auf das russische Vakzin Sputnik oder jenes des chinesischen Herstellers Sinopharm übertragen. Alexei Nawalny ist in den Augen der «Linken» ein Held der Demokratie, für die «Rechten» hingegen ein Agent des Westens. Selbst ein neues Buch oder ein aktueller Film können den Anlass zu einer Schlamm­schlacht bilden – von einem Krieg als Streit­thema gar nicht zu reden.

Doch was heisst in dieser gespannten Atmosphäre überhaupt «links» oder «rechts»?

Die ursprüngliche Bedeutung dieser Begriffe ist in Ungarn längst durch das Schema von Freund und Feind ersetzt worden.

Zum Autor und zum Fotografen

György Dalos, 1943 in Budapest geboren, ist Schrift­steller und Historiker. Für sein literarisches Werk ebenso wie für seine zahlreichen Sachbücher zu Osteuropa hat er etliche Auszeichnungen erhalten, etwa den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung und den Adelbert-von-Chamisso-Preis. Er lebt in Berlin. Soeben erschien von ihm das Buch «Das System Orbán. Die autoritäre Verwandlung Ungarns» im Verlag C. H. Beck. Die Bilder zu diesem Beitrag stammen von Peter Puklus. Er ist Fotograf und Künstler und lebt in Budapest. In seinen konzeptuellen Arbeiten kombiniert er Kunst und Fotografie so, dass sie eine gemeinsame Aussage bilden.

Vor allem in einer Hinsicht unterscheidet sich Fidesz von allen anderen Parteien der Nachwende­zeit: Es ist eine homogene Organisation mit Führer­prinzip. Interne Diskussionen, soweit sie überhaupt stattfinden, sickern kaum an die Öffentlichkeit durch. Potenzielle Gegen­spieler werden taktvoll aus der Partei­mitte entfernt – als Verbannungs­ort gilt bestenfalls Brüssel, schlechteren­falls die von Budapest am weitesten entfernte Provinz­hauptstadt Debrecen.

Proteste von Studierenden in Budapest, März 2022.
Die ungarische Flagge.

Zu den Stärken des «Bürger­bundes», so die Selbst­bezeichnung von Fidesz, gehört die Verweigerung des Gesprächs mit anderen Parteien – nicht einmal eine Tasse Kaffee trinkt man mit deren Vertreterinnen. Wichtig ist zudem die unbestreitbare Autorität des Chefs, wie sie auch im Statut festgehalten ist: Personelle Entscheidungen, Ernennungen und Ablösungen auf zentraler Ebene werden ausschliesslich vom Vorsitzenden, das heisst von Viktor Orbán, angestossen. Informell entsteht um ihn die Aura der staats­männischen Grösse, die er mit seinem zweifellos souveränen und medien­gerechten Auftritt zu unterstreichen scheint. Derbe Beschimpfungen aus der Opposition muss er hinnehmen, Wider­spruch aus den eigenen Reihen aber nicht fürchten – niemand in der Partei wagt es, ihn zu kritisieren.

Im Vergleich zu dem Monolith, der sich als Ungarns politische «Rechte» definiert, zeigte die «Linke» in den vergangenen Jahren ein Bild der schwer überwindbaren Uneinigkeit. Parallel zu den Konflikten mit rechten Parteien oder Medien, die ohnehin zum Alltag der ungarischen Politik gehören, tragen oppositionelle Politikerinnen unter­einander lange Rechts­streitigkeiten wegen «Verleumdung» oder «Ehrverletzung» aus – zum grossen Frohlocken der Regierungs­seite. In einigen Fällen kam es sogar zu Tätlichkeiten zwischen Mitgliedern derselben Partei. So etwa nach den verlorenen Wahlen 2018, als ein Stadtrat der Ökopartei LMP im heftigen Streit seinen Kollegen vom Stuhl stiess. Oder im Februar dieses Jahres, als ein Funktionär der Demokratischen Koalition den anderen schlug und bespuckte.

Die Rivalitäten haben auch mit der jüngeren Parteien­geschichte im linken Lager zu tun. Die Demokratische Koalition des früheren Minister­präsidenten Ferenc Gyurcsány etwa ist durch Abspaltung von den Sozialisten (MSZP) entstanden. Die Partei «Dialog für Ungarn» wiederum wurde von Dissidenten der Öko-Partei LMP gegründet.

Die Opposition eint purer Erfolgs­druck

Wie also kam es, dass die zerstrittene linke Opposition sich doch zu einem gemeinsamen Kandidaten durchringen konnte – und dafür sogar gemeinsame Sache mit den Orbán-Gegnerinnen von der Rechtsaussen­partei Jobbik macht?

Die rechtsradikale Jobbik, ursprünglich eine Jugend­bewegung am Rand der Fidesz, erreichte bei den Wahlen 2006 lediglich 2,2 Prozent der Wähler­stimmen. Ihr Aufschwung kam mit Beginn der Weltwirtschafts­krise nach 2007. Bei den Parlaments­wahlen 2010 erreichte sie bereits 14 Prozent, 2018 19 Prozent der Wähler­stimmen, doch fiel der Höhepunkt dieser Erfolgs­serie bereits in die Phase stabiler Macht­verhältnisse. Als erfolgreiche Volks­partei wollte Jobbik keine Nazi­sekte bleiben und rückte daher zuletzt spektakulär in die politische Mitte. Die schwache linke und linksliberale Opposition musste dennoch viele Hemmungen abbauen, um naserümpfend den potenziellen Koalitions­partner zu akzeptieren.

Der wichtigste Faktor dafür: Erfolgs­druck.

Kurz vor den Kommunal­wahlen 2019 kam der sogenannte «Zusammen­schluss» erstmals zustande – und führte zu einem Triumph. Gergely Karácsony, Mitglied bei «Dialog für Ungarn» und vormals Bürger­meister eines Budapester Stadt­bezirks, wurde mit knappen 50,86 Prozent der Stimmen zum Ober­bürgermeister gewählt. Damit hat die «Linke» die zehn­jährige Fidesz-Herrschaft über die Hauptstadt gebrochen. Nun hat ebendieser Karácsony auf seine Kandidatur bei den Parlaments­wahlen verzichtet – und einem anderen die Rolle als Orbán-Heraus­forderer überlassen: Péter Márki-Zay.

Kämpfende Hunde – alles nur Spielerei?

Wie Karácsony ist auch der frühere Lokal­politiker Márki-Zay ein Beispiel dafür, welch grosse Rolle das Charisma und die Persönlichkeit in der ungarischen Öffentlichkeit spielen.

Der studierte Ökonom, Marketing­manager und Elektro­ingenieur – adeliger Herkunft, gläubig-katholisch und Vater von sieben Kindern – kehrte nach einem fünf­jährigen Aufenthalt in den USA 2009 nach Ungarn zurück. In seiner Geburts­stadt Hódmezővásárhely, ursprünglich eine Domäne des Fidesz, begann er seine politische Laufbahn erst anno 2018, und zwar gleich mit einem Durchbruch: Als unabhängiger Kandidat besiegte Márki-Zay bei den Bürgermeister­wahlen mit 57 Prozent der Stimmen seinen Gegner aus der Regierungs­partei. Dabei definierte er sich als rechts­konservativ, ohne allerdings auf die Unter­stützung von Liberalen, Sozialisten und Rechts­radikalen (Jobbik) vor Ort verzichten zu wollen – einigend wirkte die Ablehnung des bisher dominanten Fidesz.

Dieser Sieg öffnete den Weg für Márki-Zay in die grosse Politik. Der vorläufige Höhepunkt seines Triumph­zugs erfolgte im Oktober 2021. Die vereinte Opposition kürte ihn damals bei einer Probe­wahl – wieder mit knapp 57 Prozent der Stimmen – zu ihrem Kandidaten für den Posten des zukünftigen Regierungs­chefs. Dies hiess auch, dass man ihm zutraute, in einem TV-Duell vor dem Wahltag Viktor Orbán die Stirn zu bieten. Bis 2006 war ein solches Aufeinander­treffen der Spitzen­kandidatinnen fester Bestand­teil des ungarischen Wahl­kampfes gewesen – der in den vergangenen Jahren allerdings ausblieb. So wird es nun auch dieses Mal sein. Denn inzwischen hat Orbán öffentlich erklärt, dass er auch in diesem Wahlkampf nicht zu einem Fernseh­duell bereit sei.

Dennoch: Seit den Erfolgen von Márki-Zay rätseln nicht nur Politologen und Journalistinnen über das Geheimnis des notorisch mehrheits­fähigen Neulings; Márki-Zay bereitet längst auch Orbáns Fidesz-Partei Kopf­schmerzen. Dabei wirkt der Oppositions­kandidat nicht einmal unbedingt sympathisch – weder der lockere Charme eines Gergely Karácsony («Dialog für Ungarn») noch die dynamische und mitreissende Redeweise von Klára Dobrev (Demokratische Koalition) sind ihm eigen.

Ungarn auf der Brust.
Tulpen im Kinderwagen einer geflüchteten ukrainischen Familie.
Das blaue Band als Symbol der ungarischen Opposition.
Flüchtlinge aus der Ukraine am Keleti-Bahnhof in Budapest.

Merkwürdiger­weise zieht Márki-Zay viele Leute durch eine gewisse Inkonsequenz an. Mal bedient er antimigrantische Ressentiments, mal plädiert er für Barmherzigkeit gegenüber Geflüchteten. Einerseits steht er auf dem Boden des christlichen Familien­verständnisses, andererseits votiert er in Fragen der Abtreibung und der gleich­geschlechtlichen Ehe für das Recht auf souveräne persönliche Entscheidungen.

Alles in allem ist Márki-Zay ein Populist reinsten Wassers. Und er verkörpert wie niemand sonst den politischen Eklektizismus des Anti-Orbán-Lagers.

In den politischen Haupt­fragen – Wieder­herstellung der Rechts­staatlichkeit und Normalisierung der Beziehungen Ungarns mit der EU – liegt er auf Linie der linken Opposition. Mit Äusserungen jenseits der Political Correctness oder des guten Geschmacks (etwa «eine Ohrfeige kann bei der Erziehung des Kindes nicht schaden» oder «auch bei Fidesz gibt es viele Schwule») sorgt er hingegen regelmässig für kleinere oder grössere Skandale. Was ihn wiederum an die frühe Jobbik-Partei annähert, ohne dass er deren wüsten Antisemitismus und Roma-Feindlichkeit nachahmen würde.

Das Anti-Orbán-Lager ist also eine einmalige, nicht sehr stabile Konstellation aus sechs kleineren und grösseren Parteien mit einem kapriziösen Einzel­gänger als Spitzen­kandidat.

Das alles wäre als Ausgangs­lage bereits kompliziert genug. Doch seit Putins Angriff auf die Ukraine steht auch die Ungarn-Wahl unter neuen Vorzeichen.

Wie wird sich diese Zäsur in der europäischen Geschichte auf die Wahlen auswirken?

Der Einfluss des Krieges im Nachbar­land

Auf den ersten Blick scheint die Annahme plausibel, angesichts der angst­vollen Atmosphäre würden die Wähler das Weiter­regieren der Einheits­partei Fidesz gegenüber dem wackeligen Konstrukt einer 6-Parteien-Koalition bevorzugen. Hierauf baut auch Orbán, wenn er öffentlich das Anliegen verkündet, Ungarn möge aus dem Konflikt «ausgenommen bleiben» – eine Äusserung, die von der Opposition heftig kritisiert oder gar als Verrat an den westlichen Verbündeten abgelehnt wird.

Konkret beschränkt sich Orbáns Zurück­haltung auf zwei Punkte: Seine Regierung weigert sich, Waffen­lieferungen an Kiew über Ungarns Gebiet zuzulassen. Und sie lehnt es ab, die EU-Sanktionen gegenüber Russland auf den Energie­sektor auszuweiten. Letzteres ist besonders brisant, denn es beinhaltet die unveränderte Weiter­führung des russisch-ungarischen Bau­projekts Paks II – ein ohnehin schon umstrittenes Atom­kraftwerk an der Donau.

Doch auch wenn die speziellen Interessen des Landes Rücksicht­nahme verdienen: Die Vorstellung, man könne vom Krieg «ausgenommen bleiben», ist vollkommen unrealistisch.

Ukrainische Flüchtlinge am Ticketschalter im Keleti-Bahnhof.

Ungarn besitzt eine 136 Kilo­meter lange Grenze zur Ukraine, und in der Oblast Transkarpatien leben rund 150’000 ethnische Ungarinnen, viele in Mischehen mit Ukrainern. Bisher sind über die sechs Grenz­übergänge an die 200’000 Geflüchtete – Ungarinnen, Ukrainer und in der Ukraine ansässige Bürgerinnen von Dritt­staaten – in Ungarn eingetroffen. Selbst wenn die Mehrheit von ihnen Ungarn lediglich als Zwischen­station betrachtet, erwachsen aus ihrer Aufnahme und dem Aufbau der Logistik unvorher­gesehene Kosten für den Staats­haushalt. Ohne die aufopferungs­volle Hilfe von zivilen Organisationen, Privat­personen und EU-Unterstützung wäre diese Aufgabe schwerlich zu meistern.

Die neue Hilfs­bereitschaft bedeutet eine krasse Wende in der ungarischen Flüchtlings­politik, die allerdings deutliche Ambivalenzen aufweist – nur schon weil ins Auge sticht, wie sehr hier mit zweierlei Mass gemessen wird. Hatte sich die Hetze der rechten Medien in den letzten Jahren vor allem gegen Syrer, Afghaninnen und andere Asyl­suchende von ausserhalb Europas gerichtet, ist die Hilfs­bereitschaft gegenüber ukrainischen Geflüchteten nun ungleich grösser. Allerdings kann auch die Flucht­bewegung aus der Ukraine mit der Zeit die Toleranz der Öffentlichkeit auf eine Probe stellen.

Zudem wirft der Krieg aussen­politisch heikle Fragen auf: Ungarns Verhältnis zu den beiden Kontrahenten ist alles andere als ausgewogen – nicht nur wegen Orbáns Putin-Nähe.

Zwar schloss Ungarn mit der unabhängigen Republik Ukraine 1995 einen Freundschafts­vertrag ab, der unter anderem visafreie Reisen garantierte. Allerdings kühlten in der Folge die Beziehungen merklich ab – auch wegen einer von Kiew praktizierten restriktiven Sprach­politik gegenüber der ungarischen Minorität im Land. Gleichzeitig blühten in der Ära Orbán die Beziehungen zu Putins Russland auf, was sich einerseits aus mentalen Gemeinsamkeiten – dem autoritären Gehabe der beiden Staats­männer –, andererseits aus dem illiberalen Charakter ihrer Staats­auffassung erklärt.

Orbáns Nähe zu Putin, wie sie sich zuletzt auch bei seinem zur «Friedens­mission» hoch­stilisierten Moskau­besuch Ende Januar zeigte, ist keine blosse Koketterie, sondern fester Bestand­teil von Orbáns Sonderweg zwischen Ost und West.

Wiederholte Lippen­bekenntnisse zu den europäischen Grund­werten und die Unter­zeichnung gemeinsamer Erklärungen gegen die russische Invasion ändern nichts am Eindruck, dass Ungarn in der Ära Orbán zunehmend in die Rolle des «korrespondierenden EU-Mitglieds» abdriftet. Trotz grundsätzlicher Identifikation mit der EU und obwohl man die Vorteile einer Mitgliedschaft gerne geniesst, hat Ungarn unter Orbán immer wieder versucht, gemeinsame europäische Entscheidungen zu unterlaufen oder gar zu sabotieren.

Neu installierte Überwachungsanlage an einem Sportzentrum in Budapest, das temporär als Heim für Flüchtlinge genutzt wird.
Gepeinigter Mensch, eine Skulptur.

Während die Horror­bilder des Krieges die Öffentlichkeit von Tag zu Tag erschüttern und bereits klar ist, dass der Konflikt bald auch in Ungarn verheerende wirtschaftliche Folgen haben wird, predigt der Regierungs­chef eine «strategische Ruhe» – was auch immer dieser nebulöse Begriff bedeuten soll. Womöglich aber verbirgt sich dahinter lediglich die Unruhe der Fidesz-Eliten mit Blick auf die eigene Wählerschaft.

Wenn nämlich im Lichte der sich überstürzenden Ereignisse die Stabilität des Systems Orbán als trügerisch erscheint, kann selbst ein minimaler Umschwung der Wähler­stimmung das Kopf-an-Kopf-Rennen zugunsten der Opposition entscheiden.