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Wenns das jetzt war – was jetzt?

21.02.2022

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Liebe Leserinnen und Leser – and everyone beyond

Jetzt sind sie also fast alle weg, die Massnahmen. Seit fünf Tagen kann man in der Schweiz ohne Zertifikat ins Café und ohne Maske einkaufen. Wie geht es Ihnen dabei?

Vielleicht freuen Sie sich einfach. Das würde uns dann auch freuen.

Vielleicht sind Sie enttäuscht, hätten sich erst einmal vorsichtige Lockerungen gewünscht. Wir verstehen Sie – epidemiologisch gesehen wäre Schritt für Schritt schlauer gewesen.

Vielleicht sind Sie verunsichert. Fühlen sich unwohl dabei, maskenlos in den Supermarkt zu spazieren, wollen sich dort nicht anstecken. Aber wollen auch nicht als Einzige mit einer Maske im Gesicht rumlaufen. Sie denken an den Sommer 2020, als am Tag vor der offiziellen Pflicht kaum einer mit Maske im Tram sass, am Tag darauf fast alle. Irgendwie blöd, irgendwie verständlich: Die meisten Menschen wollen im Alltag nicht auffallen.

Jetzt stecken manche von Ihnen vielleicht wieder im selben Konflikt: Sie wollen Ihr Risiko verringern, aber nicht auffallen. Diese Kombi ist, mit dem neuesten Bundesrats­entscheid, deutlich schwieriger geworden. Möglicher­weise werden Sie jetzt vermehrt darauf hingewiesen, Ihre Maske ausziehen zu können. Möglicher­weise nicht immer in einem netten Ton.

Es betrübt uns sehr, die folgenden Zeilen schreiben zu müssen. Aber vielleicht werden sie Ihnen mal hilfreich sein. Deshalb: Einige Lehren, die wir aus der persönlichen Erfahrung des freiwilligen Maske­tragens gezogen haben:

  • In erster Linie sind Sie es, der die Folgen einer Covid-19-Erkrankung tragen muss. Erinnern Sie sich daran, falls Sie Gruppen­druck spüren.

  • Lassen Sie sich nie auf Diskussionen zur Maske ein. Glauben Sie uns: Wir habens versucht.

  • Falls Ihnen jemand hämisch oder abschätzig kommt: ignorieren, ruhig bleiben, weitergehen.

  • Falls jemand aggressiv wird oder gar hand­greiflich: Abstand gewinnen, Menschen um Sie herum um Hilfe bitten und, falls da keine Menschen sind, wegrennen und die Polizei verständigen.

Wir hoffen, Sie werden sich nie dieser Lehren bedienen müssen.

Vielleicht ist die Maske aber auch nicht Ihr grösstes (oder einziges) Problem. Sondern Sie fragen sich ganz konkret: Kann ich jetzt sorgenlos am Samstag­abend in ein Restaurant? Oder an eine Familien­feier? Was ist mit Ferien? Ist Reisen eine gute Idee?

Eine allein gültige Antwort können wir Ihnen auf diese Fragen nicht geben. Sorry. Aber wir können Ihnen dabei helfen, anhand von fünf Punkten selber auf eine befriedigende Antwort zu kommen.

Punkt 1: Wie gut ist Ihr Immun­schutz? Ist Ihre dritte mRNA-Impfung über 15 Wochen her? Dann könnte Ihr Schutz vor einer symptomatischen Erkrankung nur noch bei zwischen 25 und 40 Prozent liegen, wie Daten der UK Health Security Agency zeigen. Sind Sie ungeimpft, aber haben sich bereits mit Omikron infiziert? Dann sind Sie gemäss einer kleinen österreichischen Studie wahrscheinlich kaum vor anderen Varianten geschützt, und auch Ihr Schutz vor einer erneuten Omikron-Infektion ist schlechter als bei Geimpften.

Punkt 2: Wie ungemütlich kann es für Sie oder Ihr Umfeld werden, falls das Virus Sie tatsächlich erwischt? Falls Sie einer Risiko­gruppe angehören, ergibt es vielleicht Sinn, weiterhin vorsichtiger zu sein. Treffen Sie sich lieber draussen statt drinnen mit anderen Menschen und tragen Sie lieber noch etwas länger eine FFP2-Maske. Dasselbe gilt, wenn Sie zum Beispiel mit einer Person zusammen­leben, die eine Organ­transplantation hinter sich hat. Und: «Wenn alle Kontakt­personen geimpft sind, ist das eine Art Cocooning», sagt Infektiologe Nicolas Müller. «Ein Schutz in der Sippe sozusagen, wenn auch kein hundert­prozentiger.»

Wenn Sie gar keinen Immun­schutz haben, also weder geimpft noch genesen sind, kann eine Erkrankung für Sie mit höherer Wahrscheinlichkeit schwer verlaufen. Eine Unter­suchung von Daten aus den Schweizer Intensiv­stationen zeigt, dass es Geimpften mit höchsten Risiko­faktoren im Spital besser geht als Ungeimpften mit weniger Risiko­faktoren.

Punkt 3: Jede Infektion mit Sars-CoV-2 birgt das Risiko von Langzeit­folgen, also Long Covid. «Es ist völlig unklar, warum es die eine Person ‹tüpft› und die andere nicht», sagt Infektiologe Nicolas Müller. «Es hat jedenfalls nichts mit dem Schwere­grad der Infektion zu tun.» Auch ein milder Verlauf könnte bedeuten, dass Sie noch während Monaten oder Jahren mit den Nach­wirkungen einer Infektion zu kämpfen haben werden.

Ebenfalls nicht ganz klar ist, wie viele Menschen es trifft. Am Point de Presse vom 8. Februar meldeten Fach­expertinnen, dass in der Schweiz jeder Fünfte Covid-Genesene drei Monate nach der Erkrankung noch an Nach­wirkungen leidet. Also zum Beispiel am Verlust des Geruchs­sinns, an Müdigkeit oder Kurzatmigkeit. Schweizer Kohorten­studien zufolge überdauern oder entwickeln sich bei den meisten eher leichtere Long-Covid-Symptome, bei Einzelnen jedoch auch schwere.

Wer geimpft ist, scheint gemäss den wenigen Daten, die es dazu gibt, mit kleinerer Wahrscheinlichkeit Long Covid zu entwickeln als Ungeimpfte.

Langzeitfolgen von viralen Infekten sind grundsätzlich nichts Ausser­gewöhnliches. Es gibt jedoch erste Hinweise, dass dies bei Covid-19 häufiger der Fall sein könnte als beispiels­weise bei der Grippe. Betonung auf «Hinweise» – unter anderem, weil Covid-Patientinnen im Moment wohl mit höherer Wahrscheinlichkeit Symptome melden als Grippe­infizierte, wie die Autoren einer Studie zum Thema selber anmerken.

Punkt 4: Wie stehts um die Leute um Sie herum? Externe Faktoren können einen grossen Unterschied ausmachen, was die eigenen Risiken angeht. Sind die Menschen in Ihrem Umfeld gleich vorsichtig wie Sie? Oder ist ihnen Corona schnurz? Treffen Sie sich immer mit denselben Leuten oder zirkulieren Sie in verschiedenen Gruppen? Ist das Restaurant proppen­voll oder sind die meisten Tische leer?

Auch wenn das Risiko einer Ansteckung hoch ist, spricht nichts dagegen, es trotzdem verringern zu wollen. Denn es ist keineswegs zwingend, dass man sich in diesen Tagen mit dem Virus infiziert.

Punkt 5: Auch ethische Über­legungen sind wohl nicht das Dümmste. Wenn Sie verreisen, zum Beispiel: Haben die Bewohnerinnen der Region, in die Sie reisen, Zugang zu einem Impfstoff? Wie schlimm wäre es, wenn Sie das Virus einschleppten? Müssen Sie Ihren Grossvater im Senioren­heim besuchen oder läge auch ein Spazier­gang drin? Und könnte der Kinder­geburtstag vielleicht im Park stattfinden statt in der engen Stube zu Hause?

Wir Menschen nehmen die Situation sehr individuell wahr. Es ist anstrengend, das Risiko anders einzuschätzen als die Fremde im Tram, der Partner, die Arbeits­kollegin. Und es ist schwieriger, je weniger offizielle Regeln gelten. Am Schluss gehts eigentlich vor allem darum, das zu tun, wobei Ihnen auch wirklich wohl ist. Wenn Sie noch vorsichtiger sein wollen, als es der Bundes­rat oder Ihr Umfeld für richtig befinden, dann seien Sie das. Und wenn Sie mehr Zeit mit Ihren Freunden verbringen wollen, dann tun Sie auch das.

Mehr dazu, wie es mit dem Corona­virus und seinen Wirten – uns – weitergeht, lesen Sie im grossen Corona-Erklär­stück der Republik. Die obigen fünf Punkte sind ein Auszug daraus.

Was Sie diese Woche wissen sollten

Schweiz startet neue Phase: Keine Zertifikats­pflicht, keine Begrenzungen bei Veranstaltungen, kaum mehr Masken: Seit letztem Donnerstag hat der Bundesrat fast alle Corona-Massnahmen in der Schweiz gekippt. «Das Licht am Horizont ist sehr wohl sichtbar», sagte Bundes­präsident Ignazio Cassis an der Presse­konferenz am Mittwoch (Cassis wurde tags darauf positiv auf Sars-CoV-2 getestet). Mehrere Kantone bleiben bis auf weiteres etwas strenger als der Bundesrat und halten zusätzliche Massnahmen in Kraft. Am 1. April will der Bundesrat, sollte sich die epidemiologische Situation bis dahin nicht verschlechtern, die besondere Lage beenden. Damit würden noch bestehende Massnahmen wie die Masken­pflicht im öffentlichen Verkehr wegfallen. Auch wird die ehrenamtlich agierende Taskforce per Ende März ihren Dienst niederlegen.

Pandemie-Aufarbeitung beginnt: Bundesrat Alain Berset hat letzte Woche in der SRF-Sendung «Arena» eine «schonungslose und vertiefte Analyse» der schweizerischen Corona-Politik angekündigt. Gemäss Informationen der «SonntagsZeitung» arbeiten Bundesämter, Kantone, Parlaments­kommissionen und Finanz­kontrolle bereits an diversen Evaluationen. So hat etwa das Bundesamt für Gesundheit (BAG) für 250’000 Franken einen Bericht zur Krisen­bewältigung bestellt. Er soll zeigen, was optimiert werden soll, und in die Revision des Epidemien­gesetzes einfliessen. In den vergangenen zwei Jahren hat die Corona-Pandemie im Epidemien­gesetz immer wieder deutliche Mängel offen­gelegt. Ferner fordert die SVP eine parlamentarische Untersuchungs­kommission (PUK), die das Pandemie­management des Bundesrates analysieren soll. Andere Akteure verlangen einen Krisenstab, der künftig in Krisen­situationen zwischen den Kantonen, dem Bund und den Wissenschaftlerinnen vermitteln soll.

Australien öffnet: Fast zwei Jahre lang war der Insel­kontinent im Pazifik wegen sehr strenger Corona-Massnahmen zu grossen Teilen von der Aussen­welt abgeschnitten. Selbst für Bürgerinnen war die Heimkehr wegen Einreise­beschränkungen zeitweise kaum möglich. Heute Montag hat Australien nun die internationalen Grenzen geöffnet. Auch ohne australischen Pass oder Aufenthalts­bewilligung kann man wieder in die meisten Regionen des Landes einreisen. Der Entscheid folgt gute fünf Wochen auf den australischen Fallzahlen­rekord von über 150’000 Positiven pro Tag. Seither stagnieren Fallzahlen wie Hospitalisierungs­zahlen.

Und zum Schluss: Eine kurze Einführung in die Macht der Viren

Ein beachtlicher Teil der Menschen, die an Covid erkrankten, kämpft noch Monate später mit Symptomen – beispiels­weise mit starker Müdigkeit, Muskel­schmerzen, Kopfweh. Long Covid ist deswegen zu einem viel diskutierten Thema geworden. Und viele Menschen sind überrascht und erschrocken, wie hartnäckig Viren den menschlichen Körper belagern können.

Doch für manche Spezialisten ist die Macht der Viren nichts Neues. Insbesondere Komplementär­medizinerinnen weisen seit Jahrzehnten darauf hin, welche Langzeit­schäden beispielsweise das Epstein-Barr-Virus (EBV) im Körper anrichten kann – und führen etwa chronische Müdigkeit, Schilddrüsen­unterfunktion oder Arthritis darauf zurück. Diesen Januar bestätigte tatsächlich eine gross angelegte und in «Science» publizierte Studie, dass das EBV mit grosser Wahrscheinlichkeit mitverantwortlich ist für multiple Sklerose, eine entzündliche und chronische Erkrankung des zentralen Nerven­systems.

Doch auch darüber hinaus nimmt vielerorts das Bewusstsein dafür zu, dass der menschliche Körper auch in einem guten Gesundheits­zustand von Millionen von Mikro­organismen besiedelt ist – Bakterien, Viren, weitere –, die stark auf uns einwirken. Der mikrobenfreie Körper ist eine Illusion: «Wir sind dazu geboren, mit ihnen zu interagieren, uns auf sie zu verlassen», sagt dazu Pulitzer-Preisträger und «Atlantic»-Journalist Ed Yong, der in seinem Buch «I Contain Multitudes» (deutsch: «Winzige Gefährten») die Bedeutung von Mikroben im menschlichen Körper aufzeigt. «Wenn wir Mikroben nicht verstehen, verstehen wir uns selber nicht.»

Die gute Nachricht: Nur der kleinste Teil davon quält oder tötet uns gar – die grosse Mehrheit lässt uns in Ruhe oder tut uns gar gut. Hiermit sprechen wir eine offizielle Lese­empfehlung aus.

Bleiben Sie umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.

Ronja Beck und Marie-José Kolly

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.

PPPS: «Am Mittwoch hatte Cassis auf einer Presse­konferenz gut gelaunt die Aufhebung der meisten Corona-Massnahmen verkündet. Er nahm dabei seine Schutz­maske ab, hustete und lachte darüber», steht im deutschen «Spiegel». Was dann passierte, wissen Sie, wenn Sie die Nachrichten oben brav durchgelesen haben: Der Schweizer Bundes­präsident wurde tags darauf positiv getestet. Die Journalistin Larissa Gassmann hat die Meldung auf Twitter sehr treffend in vier Bildern zusammen­gefasst. Wir wünschen Ignazio Cassis eine rasche Genesung!

PPPPS: Ganz zum Schluss zu was Lustigerem. Es ist wohl im Überlebens­instinkt der Menschen festgeschrieben, selbst in grossen Krisen das Witzige zu suchen und, wenn man Glück hat, auch zu finden. Eine Arte-Doku zeigt uns, worüber wir im Pandemie­jahr 2020 gelacht haben. Und Expertinnen – von der Soziologin bis zum Comedian – erklären uns, warum.

In einer früheren Version bezeichneten wir multiple Sklerose als Muskelkrankheit, wir haben den Fehler korrigiert.