Was ist da eigentlich los?!? Lese-Empfehlungen zum Konflikt zwischen Russland und der Ukraine
10 Artikel, die es zu lesen lohnt: Auslegeordnung, Protagonisten und Szenarien. Und eine Empfehlung aus der Republik.
Von Reto Aschwanden, Elia Blülle, Marco Di Nardo, Oliver Fuchs, Sven Gallinelli und Lucia Herrmann, 17.02.2022
Die Situation an der Grenze zwischen Russland und der Ukraine ist unübersichtlich, kompliziert – und sie verändert sich ständig. Eine Nachricht jagt die nächste. Beispiel: Am Montag vermeldete CNN, der ukrainische Präsident habe im Staatsfernsehen angekündigt, am Mittwoch würden die Russen einmarschieren. Hat er aber nicht. In Wirklichkeit sagte Wolodimir Selenski, dass ihm das die Amerikaner gesagt hätten – er machte aber eigentlich klar, dass er nicht daran glaubt.
«Jetzt ist es wichtig, dass es keine Missverständnisse gibt, die gewollt oder ungewollt zu einer Eskalation führen könnten», sagte Alexander Hug, einst für die OSZE in der Ostukraine im Einsatz, vergangene Woche zur Republik.
Also: Was ist wirklich Sache im Ukraine-Konflikt?
Eine einfache Antwort darauf gibt es nicht. Aber neben dem Rauschen der Push-Nachrichten, den täglich neuen Communiqués der Konfliktparteien und den Blitzanalysen von Twitter-Experten stossen wir immer wieder auf kluge, klare Beiträge, die konkrete Aspekte der laufenden Krise beleuchten und damit etwas Klarheit schaffen.
Wir haben Ihnen eine Auswahl an Stücken zusammengestellt, die wir in der Redaktion gerade lesen, über die wir nachdenken, die uns auf ganz konkrete Fragen Antworten geben – und neue wichtige Fragen aufwerfen.
Vorab: Die meisten der verlinkten Beiträge sind in englischer Sprache verfasst. Hier finden Sie eine Anleitung, wie Sie sich die entsprechende Seite im Firefox-Browser übersetzen lassen können. Und hier sind die Anleitungen für Chrome, für Safari und für Edge.
1. Die Auslegeordnung – wer will eigentlich was?
Wenn Konflikte jahrelang schwelen, gerät manchmal aus dem Fokus, wo überhaupt ihr Ursprung liegt. Wie komplex und widersprüchlich die Ursachen im Russland-Ukraine-Konflikt sind, zeigt die NZZ auf. Es gab immer wieder prägende Momente zwischen den beiden Staaten. 1992, drei Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, wollte Russland die Unabhängigkeit der Ukraine nur pro forma anerkennen; dass Kiew, Odessa und die Krim sich dem russischen Einfluss entziehen, damit tat man sich in Moskau schwer. Dann folgten Abkommen, Zusicherungen, Verhandlungen, schliesslich eine Revolution in der Ukraine. Bis es dann 2014 mit der russischen Annexion der Krim und der Besetzung der Ostukraine zum ultimativen Bruch kam. Dieser Text schaut zurück auf die grossen Linien, welche das Verhältnis Russlands und der Ukraine prägen. Und zitiert dafür auch Leonid Kutschma, den zweiten Präsidenten der Ukraine, der schon 1995 festhielt:
«Die Ukraine wollte eine gleichberechtigte Partnerschaft mit Russland. Aber es gibt Kräfte in Russland, die nicht verstehen wollen, dass die Ukraine ein souveräner Staat ist. Das ist das Hauptproblem in unseren Beziehungen zu Russland.»
2. Die westliche Diplomatie – und warum sie nicht funktioniert
Putin lässt europäische Regierungschefs an lächerlich langen Verhandlungstischen Platz nehmen. Sein Aussenminister Sergei Lawrow beleidigt Journalistinnen und ausländische Verhandlungspartner. «Es geht darum, andere Diplomaten in die Defensive zu drängen oder sie dazu zu bringen, angewidert aufzugeben», schreibt die amerikanisch-polnische Historikerin Anne Applebaum. In ihrem Text für das amerikanische Magazin «The Atlantic» plädiert sie deshalb für eine härtere diplomatische Linie gegenüber Russland und schreibt, der Westen müsse endlich verstehen, was für ein Staat Russland geworden sei: «Putins Ziel ist nicht ein blühendes, friedliches, wohlhabendes Russland, sondern ein Russland, in dem er weiterhin das Sagen hat.»
Tragically, the Western leaders and diplomats who are right now trying to stave off a Russian invasion of Ukraine still think they live in a world where rules matter, where diplomatic protocol is useful, where polite speech is valued. All of them think that when they go to Russia, they are talking to people whose minds can be changed by argument or debate. They think the Russian elite cares about things like its «reputation». It does not.
3. Was, wenn es eigentlich um was ganz anderes geht? Die Geschichte einer Männerfreundschaft
Vielleicht lässt sich der Ursprung der aktuellen Krise auch ganz anders erklären, nämlich über Wladimir Putins Patentochter. Deren Vater heisst Viktor Medwedtschuk, ist ein enger Vertrauter des russischen Präsidenten und einer der einflussreichsten Männer in der Ukraine: Er ist Vorsitzender der stärksten Oppositionspartei des Landes – und besitzt mehrere TV-Sender. Seit vergangenem Sommer steht Medwedtschuk in Kiew unter Hausarrest, die USA haben ihn mit Sanktionen belegt. Ihm wird vorgeworfen, mit russischer Hilfe einen Putsch gegen die ukrainische Regierung geplant zu haben. Das «Time Magazine» zeigt auf, wie Putin in den vergangenen Jahren über seinen engen Freund in der Ukraine Einfluss genommen hat – und was passierte, als dieser Freund zunehmend unter Druck geriet.
In trying to discern Putin’s motives, observers have raised his strategic wish to humble the Americans, divide the Europeans, and restore Moscow’s influence over the lands it controlled before its empire crumbled in 1991. But the roots of the crisis have been overlooked. To understand Putin’s objectives, you have to understand both his personal and political ties to Ukraine, as well as his long-standing aim to bring the nation under his control.
4. Wie realistisch ist ein Einmarsch? Eine Sicht aus Kiew
Dieser Text liest sich ein bisschen wie ein Geheimdienstbriefing. Er erschien Anfang Woche in «The Kyiv Independent» – und spielt verschiedene Szenarien durch: von Scharmützeln im Osten der Ukraine bis zum Einmarsch in die Hauptstadt. Verfasst wurde er von einem ukrainischen Thinktank, dem «Centre for Defence Strategies». Fazit: Derzeit seien zu wenige russische Truppen an der Grenze stationiert, um weite Teile des Landes zu besetzen.
We continue to believe that the scenarios of massive bombing and missile strikes, which could lead to large-scale civilian casualties, are unrealistic. Such actions could thwart Russia’s political leadership’s plans to win the «hearts and minds» of Ukraine’s Russian-speaking population. As a result, even his few sympathizers may lose their desire for hypothetical support for Putin in Ukraine.
5. Der amerikanische Präsident sagt das Datum des russischen Angriffs voraus. Warum?
Geheimdienste sind nicht dafür bekannt, dass sie ihre Informationen bereitwillig mit der Öffentlichkeit teilen. Erstaunlich ist deshalb, wie offen und detailliert die amerikanische Regierung in den vergangenen Wochen ihren Wissensstand publik gemacht hat: Es werden Luftaufnahmen bekannt gegeben und sogar konkrete Daten für einen russischen Angriff genannt. Wie ist das zu verstehen? Die «Süddeutsche Zeitung» erklärt, welches Kalkül hinter dieser öffentlichen Diplomatie steckt.
Die lautstarke Warnung der USA hat also auch zum Ziel, die Garde hinter Putin zu erreichen, die – so die Befürchtung – für die Kosten eines Krieges nicht hinreichend sensibilisiert ist und ihre Situation falsch einschätzt.
6. Wenn Russland wirklich einmarschiert, wie würde das ablaufen?
Ob und wann es zu einem russischen Angriff auf die Ukraine kommt, wissen wir nicht. Derzeit stehen die Zeichen eher auf Entspannung. Doch was geschieht, wenn die Situation tatsächlich eskalieren sollte? Wie sähe ein russischer Angriff ganz konkret aus? Das Magazin «Foreign Affairs» erläutert drei mögliche Szenarien und die damit verbundenen Folgen.
Which one comes to pass will depend in large part on how Putin decides he can best achieve his ultimate goals: crippling Ukrainian military capabilities, sowing turmoil in the Ukrainian government, and, ultimately, turning Ukraine into a failed state – an outcome that Putin seeks because it would bring an end to the threat of Ukraine as an intractable adversary and increasingly serious security challenge.
7. Reportage aus der Republik. Das Leben gleich an der Grenze zum Krieg
In der aktuellen Berichterstattung über eine mögliche neue kriegerische Auseinandersetzung wird eines oft ausgeblendet: In der Ukraine herrscht bereits seit acht Jahren Krieg. Die Reporterin Rebecca Barth war vor wenigen Wochen in Torezk, einer kleinen Stadt, die nur wenige Kilometer Luftlinie hinter der Front liegt. Ihr Beitrag gibt einen Einblick in den Alltag der Menschen in dieser einst florierenden Bergbaustadt, die nicht nur vom Krieg gezeichnet ist.
Golowenko blättert weiter und zeigt ein eingeklebtes Stück Papier. «Wir laden Sie ein, am 11. Mai 2014 an der Abstimmung über die Frage nach der Bestimmung der Zukunft der Region Donezk teilzunehmen», steht auf dem Zettel. Die Einladung zum international nicht anerkannten Referendum, das den Donbass zerreissen sollte, schlug Golowenko aus. Stattdessen kritzelte er eine Notiz daneben: «Krieg».
8. Putin – erklärt von seinem grössten Gegenspieler in Russland: Nawalny
Über die letzten Monate führte «Time» einen Briefwechsel mit dem inhaftierten Alexei Nawalny. Mitte Januar publizierte das Magazin Ausschnitte daraus, in denen es unter anderem um den aktuellen Konflikt geht. Immer wieder, schreibt Nawalny, laufe der Westen Putin in die Falle. Dieser stelle verrückte Forderungen, und anstatt den Unsinn zu ignorieren, renne die Biden-Administration los und organisiere irgendwelche Treffen: «Wie ein eingeschüchterter Schuljunge, der von einem aus der Oberstufe gemobbt wurde.» Was Nawalny zufolge wirklich helfen würde, sind direkte Sanktionen: «Wenn du Putin wirklich beeinflussen willst, dann nimm Einfluss auf sein persönliches Vermögen.» Dazu müssten seine Freunde und Oligarchen ins Visier genommen werden, bei denen Putin Geld geparkt hat.
«We know those who finance his yachts and palaces. Those who support his second and third families. It takes a majority of these oligarchs to split Putin’s elites. Give them a signal that the regime in Russia today will not be an eternal paradise where they can rob the people inside Russia while easily and freely spending their earnings in Europe and the U.S.»
9. Wer ist Wolodimir Selenski? – eine kritische Einordnung
Wolodimir Selenski ist TV-Star, Komiker und seit 2019 Präsident der Ukraine. Er bildet die radikale Alternative zu dem, was die Ukrainerinnen und Ukrainer vorher kannten. «In den letzten Jahren habe ich alles dafür getan, die Ukrainer zum Lachen zu bringen», sagte er bei seiner Amtseinführung. «In den nächsten fünf Jahren werde ich alles dafür tun, dass ihr nicht weint.» Jetzt, in der Hälfte seiner Amtszeit, steckt das Land in seiner grössten Krise seit der Annexion der Krim. Und nach zwei relativ erfolgreichen Jahren sanken die Zustimmungswerte für Selenski im Oktober abrupt. Wie konnte das passieren, fragt der ukrainische Politikphilosoph Mykhailo Minakov. Seine Antwort: Selenski wurde ein ganz normaler Politiker.
The October 2021 polls delivered a shock to the presidential team. According to the Kyiv International Institute of Sociology, Zelensky’s approval rating as president dropped from 33.3 percent in September to 24.7 percent in October, separated from Poroshenko’s approval rating by fewer than ten percentage points. The Razumkov Center’s poll demonstrates that Volodymyr Zelensky overtook Petro Poroshenko and now has the biggest «anti-rating» among Ukrainian politicians. What has happened to the once beloved leader? My answer: at the midpoint of his presidency, Zelensky himself has destroyed his image as an alternative politician.
10. Keine Lust auf Lesen?
Diese 55-minütige Dokumentation von Arte über Wladimir Putin ist uns ebenfalls positiv aufgefallen. Sie spannt den ganz grossen Bogen seit seinem Amtsantritt über die Intervention in Syrien bis zum Konflikt in Berg-Karabach.
Putin ist Realist. Putin ist Pragmatiker. Ich würde noch nicht einmal sagen, dass er ein Ideologe ist. Doch er ist auch ein Spieler.
Nun würde uns sehr interessieren: Sind diese Empfehlungen nützlich für Sie? Zu viel, zu wenig, zu englisch – oder gerade recht? Teilen Sie es uns im Dialog mit. Und falls Sie weitere Empfehlungen haben – immer her damit!