FDP streitet über Atomstrom, weniger Sozialhilfe für Ausländer und ein neuer Anlauf zur Offenlegung der Impfstoffverträge
Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (176).
Von Reto Aschwanden, Dennis Bühler, Lukas Häuptli, Priscilla Imboden und Cinzia Venafro, 27.01.2022
Erlebt die Atomenergie bald ein Revival?
Die EU-Kommission zumindest stuft sie neuerdings als «klimafreundlich» ein. In der Schweiz fordert die SVP seit Monaten, dass alte Kernkraftwerke (KKW) länger betrieben und neue gebaut werden dürfen.
Und jetzt auch noch die FDP. Am letzten Donnerstag stimmte ihre Parteipräsidentenkonferenz einer Resolution zu, in der der bemerkenswerte Satz steht: «So sind die Voraussetzungen zu schaffen, um namentlich KKW der neuen Generation zuzulassen.» Zur Erinnerung: Die Schweizer Stimmberechtigten haben dem Atomausstieg 2017 zugestimmt. An diesem Beschluss halten SP, Grüne, Grünliberale und Mitte fest.
Doch die anderen Parteien sind momentan die kleinste Sorge der FDP. Denn die Resolution reisst alte Gräben innerhalb der Partei neu auf. In den «Tamedia»-Zeitungen sagte der Aargauer FDP-Nationalrat Matthias Jauslin, mit dem Vorschlag «könnte fälschlicherweise der Eindruck entstehen, alle Probleme seien gelöst». In der «NZZ am Sonntag» sprach die St. Galler Nationalrätin Susanne Vincenz-Stauffacher, Präsidentin der FDP-Frauen Schweiz, von einem «falschen und irreführenden Signal» ihrer Partei. Und der Zürcher FDP-Stadtrat Michael Baumer (der am 13. Februar um seine Wiederwahl in die Exekutive der grössten Schweizer Stadt bangen muss) schrieb auf Twitter: «Ich und mein ewz (Elektrizitätswerk der Stadt Zürich, Red.) haben klar die Strategie, die erneuerbaren Energien auszubauen, als Ersatz der KKW.»
Im Gegenzug kritisierte Sabina Freiermuth in der «Aargauer Zeitung» sowohl Jauslin als auch Vincenz-Stauffacher scharf: Diese hätten die Kernkraftwerkforderung parteiintern nicht beanstandet. Ihre Kritik via Medien sei deshalb «inakzeptabel und höchst illoyal». Freiermuth ist nicht nur Präsidentin der FDP Aargau, sondern auch persönliche Mitarbeiterin des Schweizer FDP-Präsidenten Thierry Burkart, der sein Amt im letzten Herbst mit dem Anspruch angetreten hatte, die Risse in seiner von Flügelkämpfen gezeichneten Partei zu kitten. Der Republik sagte er: «Mir ist eine Politik wichtig, die auf das Vereinende aus ist.»
Burkart hatte die Parteipräsidentenkonferenz geleitet und sich deshalb der Stimme zum Energiepapier enthalten, wie eine FDP-Sprecherin sagt. Man kann aber davon ausgehen, dass er die Forderung nach neuen Kernkraftwerken begrüsst, denn der Aargauer Ständerat gilt als atomenergienah.
In der FDP werden also gerade Gräben ausgehoben statt zugeschüttet. Und es wird noch einen Moment so weitergehen: Über die Resolution mit dem Kernkraftwerkpassus entscheiden die FDP-Delegierten an ihrer nächsten Versammlung. Und die ist erst in zweieinhalb Wochen.
Und damit zum Briefing aus Bern.
Sozialhilfe: Bundesrat will Verschärfung für Ausländer aus Drittstaaten
Worum es geht: Der Bundesrat schlägt dem Parlament Anpassungen bei der Unterstützung für Ausländerinnen aus Drittstaaten vor. Diese sollen während der ersten drei Jahre nach der Erteilung einer Kurzaufenthalts- oder Aufenthaltsbewilligung weniger Sozialhilfe erhalten. Damit soll der Anreiz zur Erwerbsarbeit verstärkt werden. Zudem will er bei der Prüfung der Integration neu zusätzlich abklären, ob und wie Ausländer die Integration ihres Ehepartners oder eingetragenen Partners sowie allfälliger minderjähriger Kinder fördern und unterstützen.
Warum Sie das wissen müssen: Die jährlichen Nettoausgaben für die Sozialhilfe sind von 2010 bis 2019 um knapp 900 Millionen auf insgesamt 2,8 Milliarden Franken gestiegen. Gründe dafür sind unter anderem das Wachstum der Bevölkerung, die Teuerung, höhere Mieten, steigende Krankenkassenprämien und die IV-Revisionen. Knapp die Hälfte der Sozialhilfebezügerinnen sind Ausländerinnen. Besonders hoch ist das Sozialhilferisiko bei Personen, die nicht aus EU/Efta-Staaten stammen. Für die nächsten Jahre wird erwartet, dass die Zahl der Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen in der Sozialhilfe stark ansteigen wird. Denn Mitte des letzten Jahrzehnts sind viele Menschen in die Schweiz gekommen, die in diese Kategorien fallen. Der Bund übernimmt die dadurch anfallenden Kosten während der ersten fünf bis sieben Jahre, danach landen viele dieser Menschen in der Sozialhilfe und damit in der Zuständigkeit von Gemeinden und Kantonen. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe warnt deshalb schon länger vor einer «sozial- und finanzpolitischen Zeitbombe» und verlangt Massnahmen für eine bessere Integration in den Arbeitsmarkt.
Wie es weitergeht: Zu den Vorschlägen wird nun eine Vernehmlassung durchgeführt – interessierte Kreise können sich bis zum 3. Mai äussern.
Tatort Smartphone: Cybermobbing soll Straftatbestand werden
Worum es geht: Die Strafjustiz soll neue Möglichkeiten erhalten, gegen Cybermobbing vorzugehen. Dazu diskutiert das Parlament eine Ausweitung der Strafbarkeit, ausgelöst durch eine parlamentarische Initiative der Aargauer SP-Nationalrätin Gabriela Suter. Das Strafgesetzbuch müsse mit der Zeit gehen und «allgemein verständliche Straftatbestände enthalten, die aktuellen sozialen Phänomenen entsprechen», schreibt Suter. Nur so sei auch eine präventive Wirkung möglich.
Warum Sie das wissen müssen: Der Vorstoss geht zurück auf den Suizid einer 13-jährigen Schülerin aus dem Aargau. Das Mädchen war zuvor online brutal gemobbt worden. Das ist kein Einzelfall: Im Herbst zeigte eine Umfrage, dass immer mehr Menschen von Cybermobbing betroffen sind – insbesondere Frauen und junge Menschen. Im Ausland hat man bereits gehandelt: In Österreich etwa sieht das Gesetz eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren vor, falls es als Folge von Cybermobbing zu einem Suizid oder versuchten Suizid kommt.
Wie es weitergeht: Die Rechtskommission des Nationalrats hat dem Vorstoss bereits deutlich zugestimmt, die ständerätliche Kommission will ein Zustimmungsverfahren. Damit kommt das Geschäft ins Parlament, bei Zustimmung arbeitet die Nationalratskommission dann einen Gesetzesentwurf aus.
Europapolitik: Alarmruf von Wissenschaft und Industrie
Worum es geht: Weil die EU die Schweiz vom Forschungsprogramm Horizon Europe ausgeschlossen hat, droht der Schweiz ein Verlust von Spitzenforscherinnen und innovativen Unternehmen. Das schreiben der ETH-Rat, der Verband der Schweizer Universitäten Swissuniversities und Scienceindustries (der Verband Chemie, Pharma, Life Sciences) in einer gemeinsamen Resolution an den Bundesrat. Dieser soll erstens dafür sorgen, dass die Schweiz noch in diesem Jahr vollständig an Horizon Europe assoziiert wird. Zweitens fordern die Verbände Massnahmen und finanzielle Mittel für eine Innovationsoffensive, solange der Schweiz der Zugang zu den EU-Forschungsgeldern verwehrt bleibt. Wobei das nur eine Notlösung wäre, wie die Verfasserinnen in der Resolution betonen: «Die Teilnahme an Horizon Europe ist für Bildung, Forschung und Innovation in der Schweiz absolut zentral und kann weder durch nationale Massnahmen noch durch verstärkte Kooperation mit anderen Staaten vollständig kompensiert werden.»
Warum Sie das wissen müssen: Die Verbände zeigen die Konsequenzen aus dem Nein des Bundesrates zum Rahmenabkommen mit der EU auf: Gemäss ihrer Resolution können Forscher an Schweizer Hochschulen zurzeit keine EU-Projekte mehr leiten und sich nicht um Förderpreise des Europäischen Forschungsrats bewerben. Zudem sei die Schweiz von den Ausschreibungen in der Weltraum- und Quantenforschung ausgeschlossen. Das hat zur Folge, dass Professorinnen zögern, Lehrstühle in der Schweiz zu übernehmen. Forscher, die in der Schweiz arbeiten, berichten von Abwerbeversuchen durch Universitäten in EU-Ländern. Der Standort Schweiz verliert an Anziehungskraft.
Wie es weitergeht: Der Bundesrat erarbeitet derzeit unter dem Namen «Agenda Schweiz» einen Fahrplan für Gespräche mit der EU. Im Februar soll ein Treffen zwischen Aussenminister und Bundespräsident Ignazio Cassis und EU-Ratsvizepräsident Maroš Šefčovič stattfinden. Es ist aber unwahrscheinlich, dass die Schweiz bald wieder an Horizon Europe teilnehmen wird. Anfang Woche fand ein Treffen des EU-Ministerrats für Bildung, Forschung und Innovation statt, zu dem die Schweiz anders als bei früheren Zusammenkünften nicht eingeladen war. Das Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung von Guy Parmelin plant derweil direkte Massnahmen zur Stützung der Forschung und sucht nach weiteren Forschungspartnerschaften, etwa mit den USA.
Impfstoffverträge: Neue Empfehlung für Offenlegung
Worum es geht: Der eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragte Adrian Lobsiger empfiehlt dem Bundesamt für Gesundheit (BAG), die Corona-Impfstoffverträge öffentlich zu machen. Das BAG müsse die betroffenen Impfstoffhersteller anhören und den «Zugang zu den Verträgen, unter Beachtung des Verhältnismässigkeitsprinzips» gewährleisten».
Warum Sie das wissen müssen: BAG und Bundesrat haben sich bisher vehement dagegen gewehrt, dass die Schweizer Öffentlichkeit Einblick in die Verträge mit den Impfstoffherstellern erhält. Im Dezember hatte eine Mehrheit im Nationalrat die Offenlegung gefordert, im Ständerat scheiterte das Transparenzvorhaben. Die Pharmalobby freute sich: Mit diesem Entscheid bleibe die Schweiz «vertragstreu» und die Versorgungssicherheit der Menschen mit zukünftigen Impfstoffen und Medikamenten sei gewährleistet. Inwiefern die Schweiz mit der Offenlegung vertragsbrüchig würde, ist allerdings umstritten. Der Datenschutzbeauftragte gab nun seine Empfehlung im Rahmen eines Schlichtungsverfahrens ab, das der Rechtsanwalt und Solothurner SVP-Politiker Rémy Wyssmann verlangt hatte. Er beruft sich bei seiner Forderung nach Offenlegung der Verträge auf das Öffentlichkeitsgesetz.
Wie es weitergeht: Offengelegt werden die Impfverträge so bald nicht. Das BAG kann eine Verfügung gegen die Empfehlung des Öffentlichkeitsbeauftragten erlassen. Falls dies geschieht, will Wyssmann den Fall ans Bundesverwaltungsgericht weiterziehen.
Verzicht der Woche
«Es gehört ein Bundesrat an die Eröffnungsfeier», forderte SVP-Nationalrat Roland Rino Büchel letzten Dienstag, als im «Club» von SRF über die Olympischen Spiele in Peking diskutiert wurde. Doch wenn es am 4. Februar losgeht, wird kein Schweizer Regierungsmitglied vor Ort sein. Am Mittwoch gab der Bundesrat nämlich bekannt, er verzichte auf eine Teilnahme. Anders als bei den USA, Kanada, Grossbritannien, Japan und Australien handelt es sich dabei nicht um einen Boykott aus politischen Gründen. Offiziell begründet die Regierung ihren Verzichtsentscheid mit der Corona-Lage und den strengen Massnahmen in China, die «keine substantiellen bilateralen Treffen und keine Kontakte mit Athletinnen und Athleten» zulassen. Anders gesagt: Wenn ein Bundesrat keine Chance sieht, sich mit medaillenbehängten Sportlerinnen ablichten zu lassen, sinkt die magistrale Motivation für einen Langstreckenflug. Ganz auf Support aus dem Bundeshaus verzichten müssen die helvetischen Olympioniken aber nicht, denn die Regierung verspricht: «Der Bundesrat wird die schweizerischen Athletinnen und Athleten von zu Hause aus anfeuern.» Hopp Schwiiz!
Illustration: Till Lauer