«Alle fragen sich, wie das gelungen ist»
In Deutschland hat die SPD mit einem linken Programm die Wahl gewonnen, sagt der Politologe Tarik Abou-Chadi. Und er vergleicht das deutsche sozialdemokratische Modell mit jenem in Dänemark und Portugal. Serie «Rot regiert», Folge 3.
Ein Interview von Solmaz Khorsand (Text) und Heiko Prigge (Bild), 21.12.2021
Endzeitstimmung. Das beschreibt die Atmosphäre, wenn in den vergangenen Jahren die Sozialdemokratie diskutiert wurde. Nur von «Krise» und «Niedergang» war auf den Panels die Rede. Oft sprach der Politikwissenschaftler Tarik Abou-Chadi auf solchen Veranstaltungen, um seine Studie «Verlassen von der Arbeiterklasse?» zu präsentieren. Darin widerlegt er mit seinen Kollegen Reto Mitteregger und Cas Mudde das gängige Narrativ, dass sozialdemokratische Wähler in Westeuropa zu radikal rechten Parteien abwanderten und daher nur noch mit rechter Rhetorik abzuholen seien. Ein Irrtum. Wer Wahlen gewinnen will, sollte sich besser seiner tiefroten Wurzeln besinnen, als nach rechts zu schielen, so das Fazit der Studie.
Genau das scheint diesen Herbst in Europa passiert zu sein. Mitte September siegte Norwegens Arbeiterpartei, zwei Wochen später Olaf Scholz in Deutschland. Und das mit dem linksten Programm der SPD aller Zeiten. Heute sind Worte wie «Hoffnung» und «Aufbruch» in den Titeln der Panels zu lesen, auf denen Tarik Abou-Chadi spricht. Ist die Krise der Sozialdemokratie damit beendet?
Eben noch in einer tiefen Krise, feiert die Sozialdemokratie in Deutschland mit Kanzler Olaf Scholz ein Comeback. Bricht nun das Jahrzehnt der Genossen an? Zeit für eine Reise durch drei Sozialdemokratien Europas. Zur Übersicht.
Herr Abou-Chadi, erwartet uns eine sozialdemokratische Ära, wie sie einige bereits prophezeien?
Sozialdemokratische Parteien haben in den vorherigen Wahlen nicht die Ergebnisse erreicht wie noch vor 20 Jahren, aber sie haben jetzt die Chance, zu zeigen: «So sieht sozialdemokratische Politik aus, wenn wir eine Regierung anführen. So setzen wir eine neue Agenda und haben einen ganz anderen Einfluss auf die politischen Prozesse als aus der Opposition heraus oder in der Rolle des Juniorpartners, wie das bei der SPD lange Zeit der Fall war.» Das ist durchaus ein Grund für Euphorie. Aber deswegen gleich von sozialdemokratischer Hegemonie in Europa zu sprechen, wäre übertrieben.
Wie richtungsweisend ist die deutsche Sozialdemokratie für ihre Schwesterparteien in Europa?
Man kann die Rolle der deutschen Sozialdemokratie gar nicht überschätzen. Der Erfolg der SPD wird überall wahrgenommen und kommentiert. Alle fragen sich, wie das gelungen ist. In den vergangenen Jahren war die deutsche Sozialdemokratie in Europa weniger tonangebend. Das hat man sehr gut im Europäischen Parlament gesehen, wo die spanische sozialdemokratische Partei PSOE deutlich an Einfluss gewonnen hat nach den letzten Europawahlen, als die SPD nicht einmal stärkste linke Kraft in Deutschland geworden ist. Jetzt ist die Ausgangslage eine andere.
Man hat Olaf Scholz’ Sieg zu Beginn noch kleingeredet, da die SPD nur mit wenigen Prozentpunkten Vorsprung gewonnen hatte, ein Sieg, der vor allem auf die Schwäche der politischen Mitbewerber zurückgeführt wurde. Erleben wir also gar kein sozialdemokratisches Comeback?
Man gewinnt nicht nur durch die Schwäche der Konkurrenz. Das stimmt nicht. Natürlich hatte die SPD im historischen Vergleich ein schwaches Ergebnis, aber da ist der Zustand von früher nicht mehr erreichbar. Die Zeit der grossen Volksparteien ist endgültig vorbei. Bei dieser Wahl ist besonders interessant, dass die SPD mit ihrem linksten und progressivsten Wahlprogramm seit Jahrzehnten angetreten ist.
Woran lässt sich das festmachen?
Systematisch lässt sich das beispielsweise mit den Daten des Manifesto-Projekts zeigen. Spezifisch fanden sich im Wahlprogramm der SPD etwa eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns, eine Vermögenssteuer, die Abkehr von Hartz IV und das Selbstbestimmungsrecht für Transpersonen.
Ist es überraschend, dass ausgerechnet Olaf Scholz, nicht unbedingt der Vertreter des linken Flügels in der SPD, nun das Gesicht der progressivsten SPD aller Zeiten ist?
In der Partei hat ein Prozess eingesetzt, in dem viele Dinge neu verhandelt wurden. Der Wahlkampf der SPD war dieses Mal viel geschlossener als noch bei den Wahlen zuvor. Man war sich einig, einen Kandidaten zu unterstützen, der nicht aus dem linken Lager kommt. Das war deshalb möglich, weil sich die Linken in der Partei programmatisch seit dem Parteitag 2019 besser durchgesetzt hatten. Olaf Scholz hat das auch nicht bekämpft. Er hat unglaublich viel richtig gemacht, auch nachdem er 2019 nicht zum Parteivorsitzenden gewählt wurde. Er hat nie gegen die Parteiführung geschossen. Ihm muss die Partei auch da viel verdanken. Auf der anderen Seite hat man sich im linken Lager damit abgefunden, dass er Kandidat wird.
Wie viel progressive Sozialdemokratie steckt im Koalitionsabkommen?
Die sozialdemokratische Handschrift erkennt man in ganz vielen Bereichen, und das vor allem deutlicher als in den Koalitionsverträgen seit 2013. Das gilt natürlich für den Anstieg des Mindestlohns, aber gerade auch im Feld der Gesellschaftspolitik sieht man eine klare Veränderung. Hier gibt es generell viel Übereinstimmung zwischen der SPD, den Grünen und der FDP, daher finden sich im Abkommen Massnahmen wie die doppelte Staatsbürgerschaft oder mehr LGBTI-Rechte. Da ist eine massive Veränderung bemerkbar. Was es weniger gibt, ist ein klares Umverteilungsbekenntnis durch Steuern. Das liegt daran, dass die FDP in dieser Regierung sitzt. Daher hat man sich eher auf eine investmentorientierte Sozialpolitik einigen können. Mit Ausgaben wird versucht, sozialen Ausgleich herzustellen.
Der Politikwissenschaftler Tarik Abou-Chadi ist Professor für Europäische Politik am Nuffield College der Universität Oxford. Davor arbeitete er als Assistenzprofessor für Direkte Demokratie und Politische Partizipation an der Universität Zürich und an der Berliner Humboldt Universität, wo er auch promoviert hat. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf Wahlen, der Sozialdemokratie und der radikalen Rechten. Im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlichte er im Juni 2021 mit seinen Kollegen Reto Mitteregger und Cas Mudde die Studie «Verlassen von der Arbeiterklasse? Die elektorale Krise der Sozialdemokratie und der Aufstieg der radikalen Rechten». Abou-Chadi legt Wert auf inklusive Sprache, daher macht er, wenn er etwa von Wähler-innen spricht, im Wort eine kleine Pause, die andere Medien und Institutionen mit Sternchen oder Doppelpunkten kennzeichnen würden.
In Ihrer Studie heisst es, dass sozialdemokratische Wählerinnen mit wirtschaftspolitisch «altlinken» und gesellschaftspolitisch «neulinken» Strategien abzuholen sind. Was bedeutet das?
In unserer Studie haben wir zwischen vier idealtypischen Themenprofilen für sozialdemokratische Parteien unterschieden: altlinks, neulinks, zentristisch und linksnationalistisch. Altlinke fokussieren auf klassische Sozialstaats- und Umverteilungsthemen wie Rente oder Arbeitslosenversicherung. Neulinke Strategien verfolgen eine progressive Gesellschaftspolitik und bevorzugen bei wirtschaftlichen Fragen social investment, also zum Beispiel Investitionen in Bildung, Forschung oder Kinderbetreuung. Zentristisch orientierte Parteien verorten sich in beiden Dimensionen gemässigt, während linksnationalistische Strategien vor allem eine restriktivere Politik bei Fragen der Migration und der Integration betonen.
Sie kommen in Ihrer Studie zum Schluss, dass Wähler eine Kombination aus altlinken und neulinken Programmen gegenüber Strategien der politischen Mitte und linksnationalistischen Strategien bevorzugen. Ist das der SPD bei dieser Wahl gelungen?
Es ist immer sehr verführerisch, als Forscher zu sagen: Ich sehe jetzt in diesem Ergebnis genau die Dinge, die wir in unserer Studie gesagt haben – das versuche ich zu vermeiden. Aber was stimmt, ist, dass es ein linkes Programm war, mit dem die SPD in Deutschland gewonnen hat. Das ist wichtig zu erkennen, weil es im europäischen Vergleich einen Gegenentwurf darstellt etwa zu Dänemarks linksnationalem Modell der Sozialdemokratie. Am Wahlsieg der SPD sieht man, dass man auch Wahlen gewinnen kann, ohne diese Strategie mitzumachen.
In Dänemark regiert seit 2019 mit Mette Frederiksen eine Sozialdemokratin, deren Ghettogesetze und Asylpolitik von rechtspopulistischen Parteien in ganz Europa beneidet werden. Wie bewerten Sie die dänischen Sozialdemokratinnen in der roten Parteienfamilie?
Dänemark zählt seit 30 Jahren zu jenen Ländern, welche die restriktivste Einwanderungs- und Staatsbürgerschaftspolitik in Europa betreiben. Das sozialisiert die Leute in einen Status quo hinein, wodurch Abweichungen nach rechts normaler erscheinen. Über die Art, wie über gewisse Themen gesprochen wird und wie Politik den Alltag beeinflusst, verändert sich der Spielraum, was Parteien machen können und wie sie wahrgenommen werden. Was die Leute in Dänemark als sozialdemokratisch betrachten, ist das, was die sozialdemokratische Partei dort macht.
Kann man Dänemarks Sozialdemokratie als xenophob bezeichnen?
Ja.
Kann sich eine Partei noch als sozialdemokratisch bezeichnen, wenn sie eine xenophobe Politik verfolgt? Geht das zusammen mit ihrer politischen DNA?
Das ist eine gute Frage, aber schwierig zu beantworten, weil es im Kern um die Frage geht, woran wir Parteienfamilien festmachen. Wenn wir sagen: Wenn sich eine Partei so und so viel verändert, dann ist sie nicht mehr diese Art von Partei, dann können wir Veränderungen von Parteienfamilien ganz schwer erklären. Analytisch würde ich sagen, dass Dänemarks sozialdemokratische Partei weiterhin eine sozialdemokratische Partei ist, aber natürlich kann man normativ fragen, inwieweit sie das Ideal der Sozialdemokratie repräsentiert.
Und, tut sie das?
Die dänischen Sozialdemokraten argumentieren, dass sie mit einer rechten Politik ein neues Elektorat erschliessen und so die linke Koalition verbreitern. Dann verlieren sie vielleicht ein paar Stimmen an die progressiven Parteien, aber der linke Block kann diesen Verlust als Gesamtes absorbieren. Aber ist es dann noch ein linker Block? Wie weit darf die sozialdemokratische Partei nach rechts gehen, damit es noch ein linker Block ist, wenn sie Teil dieser Regierung ist?
Wie lautet Ihre Antwort?
In Dänemark lautet meine normative Meinung: Nein, das ist kein linker Block mehr, wenn man sich die Asylgesetze oder das Ghettopaket ansieht.
Die dänische Regierung argumentiert, dass sie nur mit einer restriktiven Migrations- und Asylpolitik den Wohlfahrtsstaat retten kann. Ist es ein Unterschied, zu sagen: Wir können uns keine Flüchtlinge leisten, um das Sozialsystem zu retten, oder wir können uns keine Flüchtlinge leisten, um unsere kulturelle Einheit zu bewahren? Ergibt sich aus der Argumentation ein Unterschied, wenn die Konsequenz dieselbe ist?
Es macht wahrscheinlich einen Unterschied, wie es bei bestimmten Leuten ankommt. Als Beschreibung der dänischen Strategie ist es korrekt. Dieser «Welfare-Chauvinismus» ist eine Möglichkeit, ideologisch konsistent rassistische Politik in einen nominell sozialdemokratischen Frame einzubauen. Die Sozialdemokratie wird dann reduziert auf eine rein wirtschaftspolitische Frage. Das bedeutet, wir können mit dem Thema Migration machen, was wir wollen, weil es in der Sozialdemokratie nur um den Sozialstaat geht. Und wir behaupten einfach, dass wir den Sozialstaat nur aufrechterhalten können, wenn es keine Zuwanderung gibt. Das ist natürlich Blödsinn.
Der dänische Politikwissenschaftler Rune Stubager sagt, dass es der dänischen Sozialdemokratie gelungen sei, das Migrationsthema aus dem politischen Wettbewerb zu lösen. Es wird nicht mehr darüber gestritten, weil sich ohnehin alle darin einig sind, egal, ob rechts oder links. Es findet also eine Entideologisierung dieses Diskurses statt. Was hat das zur Folge?
In der Politikwissenschaft unterscheiden wir zwischen Valenz- und Positionsthemen. Klima ist ein typisches Valenzthema, niemand wird sagen: Lasst uns das Klima kaputtmachen! Da geht es nur um die Frage, wer die Probleme am besten löst. Und dann gibt es Positionsthemen: Wer ist dafür, wer dagegen. Migration ist ein typisches Positionsthema, da gibt es keine Richtung, wohin es hingehen soll als politisches Thema. Es stimmt: Wenn alle Parteien ein ähnliches Angebot machen, wird ein Thema entpolitisiert. Natürlich lässt sich jedes Positionsthema entpolitisieren, indem ich mich einfach der Rechten anschliesse. Ich kann auch das Thema Steuerpolitik entpolitisieren, wenn ich einfach als linke Partei die Position der Rechten annehme. Aber dann frage ich mich, warum man überhaupt Politik macht.
Dass das dänische Beispiel polarisiert, hängt auch damit zusammen, dass die Sozialdemokratinnen dort eine Antwort geben in der Migrationsfrage, was sie andernorts kaum tun. Sie gilt als die Achillesferse der Sozialdemokratie. Warum drücken sich die Genossen vor dem Thema?
Es stimmt, dass sozialdemokratische Parteien immer versucht haben, Themen wie Zuwanderung, Asyl, Staatsbürgerschaftsrechte und Integration nicht zu politisieren. Sie dachten, dass das ihre Schwäche ist, weil das ihre Wählerschaft aufspalten würde. Stattdessen hat man versucht, keine zu klare Position zu beziehen. Unsere Studien zeigen, dass sozialdemokratische Parteien ihre Wählerschaft da eher falsch eingeschätzt haben. Die potenzielle Wählerschaft der Sozialdemokratie ist auch bei diesen Fragen progressiver, als oft angenommen wird. Bei vielen Menschen, denen Umverteilung wichtig ist, spielen Themen wie Migration auch einfach nicht so eine starke Rolle für die Wahlentscheidung. Man kann also als sozialdemokratische Partei mit einer Mischung aus linker Umverteilungspolitik und progressiver Gesellschaftspolitik durchaus eine breite Gruppe Menschen ansprechen.
In Portugal wirbt ein sozialistischer Premierminister für Zuwanderinnen und Flüchtlinge – und gewinnt trotzdem oder vielleicht gerade deswegen Wahlen. Warum traut er sich, wovor andere zurückschrecken?
Ich würde nicht sagen, dass in Portugal deswegen Wahlen gewonnen wurden. Das Thema Migration funktioniert in Portugal anders als beispielsweise in Österreich, der Schweiz oder den Niederlanden. Portugal war lange hauptsächlich ein Auswanderungsland. Wenn sich ein Land mehr als Auswanderungs- und weniger als Einwanderungsland versteht, macht das etwas mit diesen politischen Fragen. Zuwanderung ist dann nicht so politisiert, und solange Zuwanderung rein ökonomisch betrachtet wird und primär als Verwaltungsakt, lässt sich damit in Wahlen kaum mobilisieren. Aber auch in Portugal und Spanien sehen wir hier zunehmend eine Veränderung und den Erfolg von neuen radikal rechten Parteien.
Der portugiesische Politologe Pedro Magalhães erklärte, der Grund für den Erfolg von Portugals Sozialisten sei auch darin zu finden, dass es dort für die Partei noch einen grossen Wählerpool der «Abgehängten» gebe. Kriselt die Sozialdemokratie im Rest Europas, weil sie «die kleinen Leute» aus der Arbeiterklasse in die Mittelschicht katapultiert hat?
Die Sozialstruktur der Personen, die sozialdemokratisch wählen, hat sich fundamental verändert. Das ist vor allem in Ländern der Fall, die schon sehr stark durch die knowledge economy geprägt sind – also eher in der Schweiz, Schweden oder Grossbritannien als in Portugal. Für diese Länder wird oft unterschätzt, welche massiven Umbrüche in der Sozialstruktur stattgefunden haben: vor allem durch höhere Bildung, eine starke Veränderung des Arbeitsmarkts, aber auch der Familienstrukturen. Das ist eine grosse Herausforderung für sozialdemokratische Parteien. Ihre ehemalige Kernwählerschaft der Produktionsarbeiter ist viel kleiner geworden. Es gibt eine neue und gebildete Mittelschicht, die grösser ist, mehr politischen Einfluss hat und nicht per se an die Sozialdemokratie gebunden ist.
Also ist etwas dran an dem Mythos einer Sozialdemokratie, die sich zu Tode gesiegt hat?
An diesem Mythos ist schon etwas dran. Der deutsche Politologe Herbert Kitschelt hat in meinem Podcast einmal gesagt, dass die Sozialdemokratie eine Leiter ist, auf der man hochklettert und die man danach wegstösst. Natürlich hat die Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert viele Kämpfe gewonnen und sozialdemokratische Politik etabliert. Es gibt fundamentale Ideen und Institutionen der Sozialdemokratie, die trotz neoliberaler Politik à la Ronald Reagan und Margaret Thatcher überlebt und überdauert haben. Und sie werden auch bleiben. Doch die Sozialdemokratie hat es nicht geschafft, den Staat so umzubauen, dass jene, die mehr sind, auch tatsächlich mehr politische Macht haben, sodass sie letztlich mehr abbekommen. Jene, die mehr Geld haben, haben mehr Einfluss auf das System. Daher ist auch der Klassenkampf nicht zu Ende.
Für einen Klassenkampf braucht es aber ein Klassenbewusstsein. Ist das gegeben, wenn sich etwa eine Journalistin in einer prekären Situation eher mit dem angestellten – gut bezahlten – Redaktor identifiziert als mit der Supermarktkassiererin, mit der sie eine ökonomische Realität teilt?
Das ist wahr, schon Karl Marx hat die wichtige Unterscheidung getroffen zwischen Klasse an sich und Klasse für sich. Für den Klassenkampf muss die objektive Klasse zu einer subjektiv empfundenen Klasse werden. Das heisst, es braucht Identität. Und wenn die Arbeiterbewegung irgendetwas ist, dann eine identitätspolitische Bewegung.
Doch warum fehlt diese gemeinsame Identität zwischen prekärer Journalistin und Supermarktkassiererin?
Es gibt eine Arbeitsmarkt-Dualisierung und eine sozioökonomische Ausdifferenzierung, die es schwer macht, diese gemeinsame Identität herzustellen. In vielen der heutigen Industrieberufe sind gut abgesicherte und langjährige Arbeitnehmerinnen, also «Insider», mit einem vergleichbar guten Einkommen beschäftigt. Dagegen gibt es prekär beschäftigte «Outsider», die Jahre in kurzfristigen Arbeitsverhältnissen verbringen. Hinzu kommt eine Ausdifferenzierung anhand der Bildungsdimension. Das bedeutet: Es gibt eine wachsende Gruppe von Menschen mit höherer Bildung, aber eher niedrigem Einkommen. Die Forschung nennt diese Leute gerne socio-cultural professionals. Das sind etwa freie Medienschaffende, Menschen, die in der Sozialarbeit tätig sind oder mit Kunst ihren Lebensunterhalt bestreiten. In dieser Gruppe sind auch Frauen deutlich stärker vertreten. Sie hat ganz andere Forderungen an das, was die Politik bieten soll, als andere Gruppen, die über ein ähnlich geringes Einkommen verfügen. Anders ausgedrückt: Der Künstlerin wird eine grosszügige Betriebsrente nicht so viel bringen, weil sie gar nicht in diesem klassischen Arbeitsverhältnis angestellt ist. Sie hat auch eventuell weniger Interesse an einer Frührente.
In Ihrer Studie zeigen Sie, dass sich sozialdemokratische Parteien vor allem auf die alte Arbeiterklasse versteifen, statt das neue und gebildete Prekariat als ihre Wählerschicht zu begreifen. Warum?
Die Sozialdemokratie hat sich eingelassen auf die Idee, dass es auf der einen Seite ihre «echte Klientel» gibt, die «alte Arbeiterklasse», und auf der anderen Seite die Wählerinnen der Grünen, die Elite, irgendwelche Lifestyle-Linke. Das ist eine fundamentale Falscheinschätzung der Sozialstrukturen. Die Sozialdemokratie hat es versäumt, Antworten auf die Prekarisierung jüngerer Generationen zu geben, die sich trotz Bildung und Beruf nicht mehr ausgleichen lässt. Ich weiss zum Beispiel nicht, wer in unserem Alter aus unserem Milieu – der kein Erbe erwartet – sich vorstellen kann, ein Haus in der Stadt kaufen zu können. Doch statt Lösungen für derartige Probleme zu finden, hat sich die Sozialdemokratie auf dieses absurde Narrativ der gebildeten Stadtelite eingelassen, als wären alle Leute, die in der Stadt wohnen und studiert haben, die Elite.
Dabei ist es gerade dieses Milieu, aus dem sozialdemokratische Wähler zunehmend zu grünen und sozialliberalen Parteien abwandern, sagen Sie in Ihrer Studie. Konnte die SPD der Abwanderung bei dieser Wahl entgegenwirken?
Die Wahl in Deutschland hat gezeigt, dass die Grünen zwar von allen Parteien Stimmen dazugewonnen haben, aber verhältnismässig wenig von der SPD. Und das liegt auch daran, dass es die SPD geschafft hat, glaubwürdig für eine progressive Agenda zu stehen, sonst wären die Leute, die sich letztlich für Olaf Scholz entschieden haben, eventuell nicht bei der SPD geblieben, sondern abgewandert. Der SPD ist es gelungen, eine Gruppe an gebildeten, urbanen und auch irgendwie linken Leuten – trotz ihres zentristischen Kandidaten – zu halten, weil man eine Form von Glaubwürdigkeit wiedergewonnen hat.
Also vielleicht doch das Erfolgsrezept für eine baldige sozialdemokratische Hegemonie?
So weit würde ich, wie gesagt, nicht gehen. Aber es gibt die Möglichkeit, etwas in diese Richtung herzustellen, eine Chance.