Portugals sozialistisches Utopia
Niemand dachte, dass António Costas sozialistische Minderheitsregierung Portugal stabilisieren könnte. Sie tat es. Doch nach sechs Jahren verweigerten die linken Partner ihre Unterstützung. Nun stehen Neuwahlen an. Bleibt das Land ein Vorbild für Europas Sozialdemokratie? Serie «Rot regiert», Folge 2.
Von Solmaz Khorsand (Text) und Pedro Guimarães (Bilder), 14.12.2021
Wunder können unheimlich sein. Insbesondere dann, wenn die einen sie sehen und die anderen nicht. Die Portugiesen zählen zu Letzteren. Ungläubig betrachten sie ihr Gegenüber, wenn sie nach dem «portugiesischen Wunder» gefragt werden, von dem in der internationalen Presse immer wieder die Rede ist.
Was hat es auf sich mit diesem sozialistischen Utopia am westlichsten Punkt Europas?
Einem Land, von dem andernorts geschwärmt wird, als handle es sich um eine Art Narnia der Arbeiterklasse. Wo Arbeitgeberinnen eine Strafe zahlen müssen, wenn sie es wagen sollten, ihr Personal ausserhalb der Dienstzeit zu kontaktieren. Diesem Staat, dessen Regierung es mit der «Solidarität» ernst zu meinen scheint – wenn ein Innenminister allen Ausländern zu Beginn der Pandemie die Aufenthaltsgenehmigung gewährt, damit auch sie Zugang zum Gesundheitssystem haben, weil das nun einmal die «Pflicht für eine solidarische Regierung in Zeiten der Krise» sei. Und wo ein Premierminister es als «unsere Verantwortung» begreift, wenn er in seinem 10-Millionen-Einwohner-Land um die Aufnahme von Flüchtlingen wirbt, während sich der Rest Europas abschottet.
Wie lebt es sich in so einem Land, das so ganz und gar nicht dem Zeitgeist entsprechen will?
Normal – was soll daran besonders sein?
So lautet die irritierte Gegenfrage in Lissabon.
Keine grosse Sache.
Nicht für den Rest der Welt. Der staunt seit sechs Jahren über das kleine Land am Atlantik. 2015 gelang hier António Costa, dem Chef der Sozialistischen Partei, das «Wunder», das ihm niemand zugetraut hätte – weder in Portugal noch im Ausland. Er bildete eine sozialistische Minderheitsregierung, toleriert von Kommunisten, Grünen und dem linken Mehrparteienbündnis «Bloco de Esquerda».
Eine derartige Zusammenarbeit der verfeindeten Linken?
War das möglich?
Nie, spottete die Opposition und taufte die Allianz «geringonça» – die Klapperkiste, die jederzeit auseinanderfallen würde. In Brüssel schrillten unterdessen die Alarmglocken, dass eine sozialistische Regierung im hoch verschuldeten Portugal die Staatsausgaben explodieren lassen würde. All die Auflagen der Troika – aus Europäischer Zentralbank, dem Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Kommission –, die als Gegenleistung für einen rettenden Kredit von 78 Milliarden Euro nach der Finanzkrise Portugal auferlegt worden waren, wären umsonst gewesen. All die Anstrengungen, um den Staat schlanker zu machen, Kosten zu senken, den Gürtel enger zu schnallen – all das würde mit einer spendierfreudigen Linken zunichtegemacht werden.
Doch die sozialistische Regierung bewies das Gegenteil.
Ihr gelang es, die harte Sparpolitik aus den Austeritätsjahren, die Portugal tiefer in die Krise gestürzt hatte, abzumildern – und gleichzeitig eine eiserne Budgetdisziplin an den Tag zu legen. Gehälter, Pensionen und den Mindestlohn zu erhöhen – und trotzdem das Haushaltsdefizit nicht zu sprengen.
Die Quadratur des Kreises also.
Eben noch in einer tiefen Krise, feiert die Sozialdemokratie in Deutschland mit Kanzler Olaf Scholz ein Comeback. Bricht nun das Jahrzehnt der Genossen an? Zeit für eine Reise durch drei Sozialdemokratien Europas. Zur Übersicht.
Die «Klapperkiste» hatte es allen gezeigt. Und sie hielt die volle vierjährige Amtszeit. Die Linken hatten sich zusammengerauft. Belohnt wurde das bei den Wahlen 2019. Zum Teil: Costas Sozialisten gewannen haushoch, ihre Partner weniger. Sie mussten Verluste einstecken, insbesondere die Kommunistische Partei. «Das ist ein klassisches Problem», sagt der Politikwissenschaftler Pedro Magalhães von der Universität Lissabon. «Wenn man keine Mainstreampartei ist und in die Sphäre der Macht kommt, besteht immer das Risiko, dass sich die eigenen Unterstützer abwenden aufgrund der Zugeständnisse, die man gemacht hat.»
Daher knarzt es derzeit in der Klapperkiste. Zu viele Kompromisse, zu wenig Erfolg an der Wahlurne – das hat seinen Preis. Im Oktober dieses Jahres liessen die einstigen Partner die sozialistische Regierung bei der Vorstellung ihres Budgetentwurfs abblitzen und stimmten im Parlament mit der konservativen Opposition dagegen. Die Folge: Neuwahlen – denn ohne Budget lässt sich nicht regieren.
Am 30. Januar wird gewählt.
Dem Erfolg der Sozialisten tut das bisher keinen Abbruch. In den Umfragen deutet alles auf ihren Sieg hin. Sogar die absolute Mehrheit steht im Raum. Ernsthaft.
Ernsthaft?
Eine sozialistische Partei und die Absolute? Im Rest Europas, wo vielerorts die Sozialdemokraten zu Kleinparteien geschrumpft sind und mancherorts nur mehr einstellige Wahlergebnisse aufweisen, klingt ein sozialistischer Sieg nach Wunschdenken – und ein absoluter Sieg nach einer Wahnvorstellung. In Portugal, das bis 1974 noch von faschistischen Diktatoren regiert wurde, ist das hingegen eine realistische Wahlprognose.
Wie haben das Portugals Genossinnen geschafft? Was machen sie anders? Und kann man sich etwas von diesem sozialistischen Narnia abschauen?
«Ich glaube nicht, dass sich da viel für den Rest Europas abkupfern lässt», sagt Politikwissenschaftler Magalhães. Der Grund für den Erfolg der Sozialistischen Partei in Portugal ist für ihn leicht erklärt: Portugal ist ein armes Land, ein armes Land mit einer armen und alten Bevölkerung. Und so zynisch es klingt: Das sind die perfekten Bedingungen für eine sozialistische Partei. In Portugal gibt es noch jene alte Stammklientel, die anderen sozialdemokratischen Parteien – zu deren Familie auch Portugals Sozialisten zählen – abhandengekommen ist: eine Arbeiterklasse, die mit 40 Euro mehr Lohn im Monat, Gratis-Schulbüchern und subventionierten Fahrscheinen für den öffentlichen Verkehr politisch abzuholen ist.
Doch das werde sich ändern, prognostiziert Magalhães. Wenn Portugal einmal die demografischen und ökonomischen Transformationen entwickelter Demokratien durchlaufen hat, werden auch hier die Sozialistinnen an ihre Grenzen stossen: «Eine gebildete und junge Mittelklasse wird sich schwer damit tun, eine Partei zu wählen, deren Hauptprogramm nur darin besteht, Pensionen zu sichern und den Ärmsten zu helfen.»
Portugiesische Zurückhaltung
Portugals Sozialisten taugen nicht als Kompass einer strauchelnden Sozialdemokratie. Nicht einmal José Vieira da Silva glaubt daran. Und er ist Sozialist. «Das ist nicht möglich, wir sind ein kleines Land im Süden», sagt er. Nach Deutschland, da müsse man jetzt nach Olaf Scholz’ Wahlsieg hinsehen – eine deutsche Sozialdemokratie gebe den Takt vor, nicht ein portugiesischer Sozialismus.
Zehn Jahre lang war José Vieira da Silva Arbeitsminister in sozialistischen Regierungen. Zuerst in den zwei Kabinetten von José Sócrates bis 2011 und später in der ersten Regierung von António Costa. Schwierig war das damals – gehörte er doch jenem Kabinett an, das von vielen dafür verantwortlich gemacht wurde, das Land in die Finanzkrise manövriert zu haben. Noch dazu delegiert von einem Premierminister, der später von der Justiz wegen des Verdachts auf Geldwäsche und Korruption unter Hausarrest gestellt wurde. Doch die Partei wusste sich von ihrem einstigen Chef gut zu distanzieren – so sehr, dass Sócrates wutentbrannt die Partei verliess.
Vieira da Silva selbst hat sich 2019 aus der ersten Liga verabschiedet. «Ich wollte nicht einer von denen sein, die noch mit siebzig in der Politik sind», sagt der 68-Jährige. Heute leitet er die Stiftung Res Publica, vergleichbar mit Deutschlands SPD-naher Friedrich-Ebert-Stiftung. Sie liegt im achten Stock eines Bürogebäudes an der Avenida da República, dem kommerziellen Herzen Lissabons. Im Vorraum hängt ein schwarzweisses Foto. Zu sehen ist eine grinsende Männerrunde. «Und eine Frau», ergänzt Vieira da Silva, als er davorsteht: «Maria Barroso, die Frau von Mário Soares.» Er korrigiert sich schnell: «Sie war nicht die Frau von Mário Soares, viel mehr war er der Mann von Maria Barroso», erzählt er über das berühmteste Paar der portugiesischen Politik. Sie, die bekannte Schauspielerin – er, der Sozialist, der politische Gefangene, spätere Premierminister und Präsident Portugals. Das Bild zeigt den Gründungstag der Sozialistischen Partei Portugals, aufgenommen im April 1973, im Weinhaus «An der Rauschen» in Bad Münstereifel bei Bonn. Da, im deutschen Exil, nimmt die Sozialistische Partei Portugals ihren Anfang.
José Vieira da Silva war damals noch Wirtschaftsstudent, politisch aktiv für eine kleine linke Splittergruppe. Jahre nach der Nelkenrevolution, als Offiziere am 25. April 1974 den damaligen Diktator Marcello Caetano – den Nachfolger António de Oliveira Salazars – gestürzt hatten und damit über vierzig Jahre Faschismus in Portugal fast ohne Blutvergiessen beendeten, schloss sich Vieira da Silva den Sozialisten an. «Ich hatte festgestellt, dass die Utopien, von denen wir immer dachten, dass sie welche wären, in Wahrheit Dystopien waren», begründet er seine damalige Entscheidung, «und dass es einen Unterschied gibt zwischen Propaganda und Realität.»
Und wie viel Propaganda steckt hinter dem heutigen «portugiesischen Wunder»?
Und wie viel Realität?
Vieira da Silva spricht nicht von Wundern. Zähe Knochenarbeit – das würde die vergangenen Jahre eher beschreiben, und zwar auf so vielen Ebenen. Alle mussten sie zufriedenstellen, die Kommunistinnen, den Linksblock, die EU – und allen voran die eigene Bevölkerung. Vier Jahre lang war diese niedergeknüppelt worden von den Troika-Massnahmen, die man Portugal als Europas Sorgenkind – das vor dem Kollaps gerettet werden musste – aufgebürdet hatte.
Die konservative Regierung des damaligen Premierministers Pedro Passos Coelho, der das Amt 2011 übernommen hatte, hielt sich nicht nur penibel an die Troika-Vorgaben, sondern schoss zuweilen über das Ziel hinaus. Bezahlen müssten sie für ihre Sünden aus der Vergangenheit – das war der Ton, den der Premierminister gegenüber seinen Landsleuten angeschlagen hatte und womit er seinen Spareifer begründete. Er liess Löhne, Renten und Beihilfen kürzen, Feiertage streichen, Angestellte des öffentlichen Dienstes entlassen – und er privatisierte die öffentliche Infrastruktur. Aufgebaut hat das die portugiesische Wirtschaft nicht, im Gegenteil: Portugal rutschte in die schwerste Wirtschaftskrise seit den Siebzigerjahren.
António Costas Minderheitsregierung setzte dem Sparzwang 2015 ein Ende. Vieles aus den Troika-Jahren wurde rückgängig gemacht. Schritt für Schritt wurden die Ausgaben erhöht, ohne das Defizit und die Staatsschulden aus den Augen zu verlieren. «Die ersten zwei Jahre waren sehr hart», erinnert sich Vieira da Silva. Auch was den eigenen Stolz angeht. Bei jedem EU-Treffen wurden sie gemahnt, bloss aufzupassen und ja nicht abzuweichen vom vormaligen Austeritätskurs. Doch genau das tat die Regierung, und sie hatte Erfolg damit. Die Menschen hatten wieder mehr Geld in der Tasche, konsumierten wieder, gewannen Zuversicht in die Zukunft. Die Wirtschaft wuchs – auch dank eines boomenden Tourismus. Und das Defizit sank – so lange, bis es 2019 bei null lag.
«Das erste Mal in unserer Demokratie, das erste Mal!», erzählt Vieira da Silva voller Stolz. Geschafft habe man das nur mit ganz viel Vorsicht. Auch jetzt in der Pandemie sei das die Devise. Doch den Kolleginnen aus dem linken Spektrum reicht das nicht. Der Staat müsse mehr investieren, viel mehr, fordern sie unentwegt. Dass sie ausgerechnet deswegen nun den Budgetentwurf der Regierung sabotiert haben, ist für Vieira da Silva unverständlich. Keinem sei ohne Budget geholfen, am wenigsten den Arbeitern. Ein Armutszeugnis sei ein derartiges Verhalten für echte Linke. Und überhaupt, die Regierung investiere ja, nur schöpfe sie eben nicht aus allen Töpfen, sondern bleibe extrem sparsam – immer mit dem Defizit auf dem Radar.
Schliesslich liegt Portugals Staatsverschuldung derzeit bei 128 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (zum Vergleich: In der Schweiz ist sie bei 47 Prozent). Das heisst: Ein Land, das derart verschuldet ist, lebt permanent auf Pump.
Jeder Cent, der ausgegeben wird, ist ein geborgter.
Das würden die wenigsten begreifen, kritisiert die Ökonomin Susana Peralta von der Nova School of Business and Economics in Lissabon: «Wir unterliegen budgetären Zwängen und müssen daher selektiv dabei sein, wo wir unser Geld ausgeben.» In den vergangenen sechs Jahren hätte es durchaus Möglichkeiten gegeben, das klüger zu tun, als nur hie und da an ein paar Rädchen zu drehen – wie eine Steuersenkung hier, ein zusätzlicher Feiertag dort.
Die Regierung hätte mehr in Bildung, Forschung und vor allem ins Gesundheitswesen investieren müssen, anstatt etwa die 2015 teilprivatisierte Fluglinie TAP wieder zu verstaatlichen. Verschwendetes Geld, das gemäss Peralta besser ins Gesundheitssystem geflossen wäre. Dort fehlt es an allen Ecken und Enden, vom Personal bis zum Equipment. Erst kürzlich haben 87 abteilungsleitende Ärztinnen aus Protest ihren Job geschmissen, und das mitten in der Pandemie. «Es ist die Verantwortung einer Regierung, so etwas zu antizipieren und im besten Fall zu vermeiden», sagt Peralta. Die Tatsache, dass sie es nicht tut, sollte auch ausländischen Beobachterinnen zeigen, wie viel vom «portugiesischen Wunder» zu halten sei.
Die Utopie für 1205 Euro im Monat
Eigentlich hätte Guadalupe Simões vor einigen Tagen streiken sollen. Doch mitten im Wahlkampf ist das nur bedingt sinnvoll. An wen seine Forderungen richten, wenn die Regierung bald eine andere ist? «Das bringt nicht wirklich etwas», sagt sie und nippt an ihrem Kaffee. Sie sitzt in ihrem Büro an der Avenida 24 de Julho am Lissabonner Hafen mit Blick über den Fluss Tejo.
Dreissig Jahre lang hat sie als Krankenschwester gearbeitet, die 55-Jährige ist Mitglied der Gewerkschaft SEP, einer der ältesten Krankenpflegegewerkschaften des Landes. Rund 45’000 Menschen arbeiten in Portugal in der Pflege. 1205 Euro verdiene eine Krankenpflegerin, wenn sie in den Beruf einsteigt, sagt Simões. Nach drei Jahrzehnten sind es knapp 1800. Alle zehn Jahre 200 Euro mehr. «Deswegen wandern auch viele aus, nach Deutschland, Grossbritannien und in die Schweiz», sagt Simões. Allein vergangenes Jahr haben wieder 1230 Pfleger einen Antrag gestellt, im Ausland arbeiten zu wollen, sagt sie. Das Gesundheitssystem wurde in den vergangenen Jahren totgespart, eine Konsequenz der Troika-Zeit. Simões rechnet vor: Hatte das Gesundheitssystem 2009 noch 11 Milliarden Euro zur Verfügung, lag es 2015 bei nur 8,5 Milliarden. Langsam hat man sich jetzt wieder zu den 11 Milliarden hochgearbeitet. Natürlich reiche das nicht – aber sie weiss, dass derzeit nicht viel mehr zu holen ist.
Guadalupe Simões zählt zu den Befürworterinnen der sozialistischen Regierung. Gut erinnert sie sich an jene Nacht 2015, als der Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Jerónimo de Sousa, vor die Presse trat und verklausuliert bekannt gab, dass seine Partei eine sozialistische Minderheitsregierung stützen würde. «Das war eine grosse Genugtuung für mich», erzählt sie und lächelt. Fünfzehn Jahre lang war Simões Kommunistin – sie, die Tochter eines Taxifahrers und einer Hausfrau, die immer Angst vor den Kommunisten hatten, weil sie befürchteten, dass diese ihnen das bisschen, was sie besassen, wegnehmen würden. Sie wählten nach der Revolution die konservative Partei, die PSD, die in Portugal «Sozialdemokraten» heissen.
Guadalupe Simões selbst war aktiv in deren Jugendverein, bis sie sich als junge Krankenschwester den Kommunisten anschloss. Ihre Vision von einer besseren und solidarischeren Welt gefiel ihr, da wollte sie mitmachen – so lange, bis man sie aus der Partei rausschmiss. Sie gehörte zu jener Gruppe, die immer schon dafür plädiert hatte, mit den Sozialisten zusammenzuarbeiten – die ideologischen Grabenkämpfe gut sein zu lassen und sich zu verabschieden von der orthodoxen Betonkopfpolitik der Genossen, die in jeder Sozialistin auch nur einen weiteren Klassenfeind vermuteten. Und 2015 schien das endlich passiert zu sein.
Ja, es war für sie eindeutig ein «Wunder».
Seit Oktober sei man wieder zurück beim alten Verhaltensmuster, sagt Simões. Gefragt habe sie ihre alten Freundinnen, warum sie Neuwahlen und damit ein potenzielles Erstarken der Rechten riskieren würden? Denn in den Umfragen sieht es nicht gut aus für die Kommunisten, in manchen liegen sie gar hinter der rechtspopulistischen Partei Chega, deren Politiker offen gegen Roma und Sinti wettern und schwarze Abgeordnete schon einmal zurück nach Afrika wünschen.
Chega – zu Deutsch «es reicht» – ist ein neues Phänomen in Portugal. Lange war das Land verschont gewesen von Rechtspopulistinnen vom Schlage einer Marine Le Pen oder eines Björn Höcke. Es war Teil der nationalen Erzählung, dass es hier – im Land, in dem Faschisten so lange an der Macht waren –, nie wieder eine Partei schaffen würde, Leute für sich zu gewinnen, die an derartigem Gedankengut anstreift.
Irrtum. Bei der Wahl 2019 schaffte die Partei, die sich als Antisystempartei inszeniert, mit einem Abgeordneten den Einzug ins Parlament. Auf der Inselgruppe der Azoren wurden die Rechtspopulisten 2020 zu den Mehrheitsbeschaffern der konservativen Regionalregierung, und bei der Präsidentschaftswahl 2021 machten 12 Prozent den Spitzenkandidaten und Chega-Parteichef André Ventura zum drittstärksten Präsidentschaftsanwärter.
Der Mythos des rechtspopulismusfreien Portugals ist damit Geschichte.
Und nicht nur das. Auch andere Parteien versuchen sich an der Rhetorik der Konkurrenten. Zu erkennen war das bei den Lokalwahlen im September in der Stadt Amadora, einem Vorort im Nordwesten Lissabons. Mit rund 185’000 Einwohnerinnen auf 23,79 Quadratkilometern ist die Gemeinde die am dichtesten besiedelte des Landes – und mit Menschen aus 101 Nationen eine der diversesten. Der Grossteil der Bevölkerung stammt aus den ehemaligen portugiesischen Kolonien, aus Angola, Moçambique, Guinea-Bissau und Kap Verde. Nicht unbedingt das beste Pflaster für Rechtspopulisten, würde man meinen. Doch ausgerechnet in Amadora hat der konservative PSD Suzana Garcia aufgestellt, eine bekannte TV-Kommentatorin, die seit Jahren mit rassistischen Aussagen polarisiert. Sie verlor gegen die sozialistische Amtsinhaberin. Dennoch hinterliess der Wahlkampf einen fahlen Nachgeschmack – wurde er doch als Testlauf dafür gewertet, wie weit sich die Mainstream-Konservativen aus dem Fenster lehnen würden, um für einen Sieg im extrem rechten Wählerspektrum zu fischen.
«Wir Portugiesen sind nicht immun dagegen», sagt Guadalupe Simões traurig. Nachdenklich steht sie auf der Dachterrasse ihres Büros und zündet sich eine Zigarette an. «Wir leben jetzt fast genauso lange in einer Demokratie wie im Faschismus», holt sie aus, «damals, 1974, dachten wir, dass es Jahr für Jahr besser wird. Doch die Leute verlieren langsam die Hoffnung, vor allem die Jungen.» Sie würden lange studieren, hart arbeiten und trotzdem am Monatsende kaum über die Runden kommen. Ein gefundenes Fressen für Chega. Genügend Leute hätten sie bereits angefixt, die Freunde ihres Neffen zum Beispiel, die vor ihr über die vielen Sozialschmarotzerinnen schimpften. Es beunruhigt Guadalupe Simões: «Wenn Chega bei dieser Wahl mehr Abgeordnete gewinnt, dann werden Gedanken zutage treten, von denen wir nie dachten, dass wir sie haben.»
Die kommunistischen Königsmacher
Ihr Blick schweift auf die andere Seite des Tejo, hinüber nach Almada. Auf dieser Seite des Flusses bleibt man verschont von den aufgekratzten Männer- und Frauencliquen aus Grossbritannien, Frankreich und Deutschland, die sich über das billige Bier in den Kneipen von Lissabons Bairro Alto freuen. In Almada ist es ruhig: Junge Pfadfinder pilgern zur berühmten Jesusstatue mit den ausgebreiteten Armen, Kleinfamilien aus Lissabon geniessen den günstigen Muscheleintopf in einem Hafenbistro am Wasser, und hie und da streunt ein Hipster auf der verlassenen Werft von Lisnave herum, die der Band U2 einmal als Kulisse für ein Musikvideo gedient hat.
Lisnave ist der einstige Stolz der Stadt, ja des Landes – ein Stück portugiesische Identität. Auf 45 Hektaren war hier früher einmal das grösste Trockendock der Welt. Zu Hochzeiten arbeiteten in den Siebzigerjahren über 10’000 Menschen für das Schiffbau- und Reparaturunternehmen. Eine Stadt in der Stadt – mit Wohnungen, Lokalen und einer Schule für die Kinder der Arbeiterfamilien. Noch immer sprechen pensionierte Portugiesen von der Werft als ihrer «Mutter», die ihnen alles gegeben habe. 2000 wurde sie nach Setúbal verlegt, seither ist das Areal in Almada verwaist, mitsamt seinen Industriehallen. An deren Wänden lässt sich ablesen, wer in Almada jahrzehntelang das Sagen hatte: der PCP, Portugals Kommunistische Partei.
Ihr Emblem ist hier überall zu finden, gleich neben Karikaturen des ehemaligen sozialistischen Präsidenten Mário Soares, gezeichnet mit Eselsohren. Für viele Kommunistinnen war er ein Verräter, als er nach der Nelkenrevolution mit den USA kooperierte statt mit Moskau und sich zitieren liess mit den Worten: «Woran wir glauben, ist ein Sozialismus in Freiheit, keine Diktatur, weder von links noch von rechts.»
In der Rua Capitão Leitão, in Almadas Altstadt, sind diese Anekdoten sehr präsent. Vor einem weissen Gebäude, eingeklemmt zwischen Burgerbude und Traditionsrestaurant, stehen an diesem Samstagabend zwei Männer Mitte fünfzig. Beide heissen Karl. In den Räumen hinter ihnen beratschlagt eine kommunistische Lokalgruppe über die Wahl am 30. Januar. Man müsse warten, bis die Genossen fertig seien, teilen die zwei Karls freundlich mit. In der Zwischenzeit reminiszieren sie davon, wie «sie», die Kommunisten, es den Burschen von Soares mit den Wasserwerfern gezeigt hatten. Damals, nach der Revolution. Der Konflikt zwischen den beiden Parteien scheint dieser Tage akuter denn je, sind sie füreinander doch die grösste Konkurrenz.
Insbesondere in Almada.
41 Jahre lang war Almada eine kommunistische Hochburg, bis die Partei 2017 in den Kommunalwahlen ihren Sitz an die sozialistische Kandidatin und Schauspielerin Inês de Medeiros verlor. Geschockt hat das viele damals. Niemand hätte das erwartet, weder die Kommunistinnen noch die Sozialisten. «Das ist Demokratie.» Den Satz wiederholen die drei Genossen – zwei Männer und eine Frau –, die soeben ihre Sitzung in der Rua Capitão Leitão beendet haben, auf die Frage, wie traumatisch das Ergebnis damals für sie war – die Stadt nach über vier Jahrzehnten an die Sozialistinnen zu verlieren. «400 Stimmen haben uns damals nur gefehlt», ergänzt die Frau. Sie begründet den Verlust unter anderem damit, dass sich in den vergangenen Jahren Lissabons Mittelklasse in Almada angesiedelt hat, weil es sich hier noch günstiger wohnen lässt als in der Airbnb-Hauptstadt. Das seien keine Arbeiter und damit nicht ihre Wählerbasis. Wer ihnen zuhört, fühlt sich an die Probleme der Sozialdemokraten in Europa erinnert. Nur klagen in Portugal nicht die Sozialisten über ihren Bedeutungsverlust und den Wählerschwund, sondern eine noch vollkommen intakte Kommunistische Partei.
Die Anwesenden wissen, wie rar das ist – und dass Aussenstehende sie betrachten wie eine aussterbende Spezies. Daher ist bei aller Höflichkeit ein gewisses Misstrauen zu spüren: Auf keinen Fall dürfe man Fotos machen von den Räumlichkeiten, die nur so mit kommunistischem Kitsch à la Lenin-Nippes und Karl-Marx-Porträts überzogen sind. Sie wissen, wie diese Bilder verwendet werden. Aber gegen ein Gespräch sei nichts einzuwenden.
Stolz sei sie gewesen, erzählt die Frau, als ihre Partei 2015 bereit war, den sozialistischen Ministerpräsidenten António Costa zu «tolerieren», um der Sparpolitik der konservativen Vorgängerregierung endgültig ein Ende zu setzen. Ihnen hat Costa seinen Job als Premierminister zu verdanken. Sie waren die Königsmacher. Sie waren Zweitplatzierte hinter den Konservativen, und der Regierungsauftrag war so gut wie vergeben an sie. Costa war schon bereit, den Konkurrenten zu ihrem Sieg zu gratulieren – hätte der kommunistische Generalsekretär nicht signalisiert, ihn zu unterstützen, wenn er regieren wolle.
Doch jede Toleranz hat einmal ein Ende, insbesondere, wenn Costas Sozialisten jeden Kompromiss verweigern, um Neuwahlen zu provozieren, weil sie nach der Absoluten schielen. «Das ist pure Strategie», sagt sie. Viel mehr wolle sie nicht mehr sagen, entschuldigt sie sich freundlich. In der Kommunistischen Partei gibt es ein klares Protokoll, wer mit der Presse sprechen darf. Man werde sich sicher bald melden.
Ist das linke Experiment gescheitert?
Man meldet sich in der Gestalt von Duarte Alves. Der Ökonom ist einer von zwölf Abgeordneten, die für die Kommunistinnen im Parlament sitzen. Dort empfängt der 30-Jährige seinen Besuch. Es sind hektische Tage für alle Parteien. Trotzdem gibt es eine kleine Tour durch das Gebäude. Alves zeigt den Empfangsraum: mit der kolonialistischen Kunst des Salazar-Regimes, wo weisse Schiffsfahrer und trommelnde Schwarze zu sehen sind. Die übergrosse Statue des vorletzten Monarchen Karl I., der bei einem Attentat getötet wurde. Und den Plenarsaal, in dem man früher rauchend bis 2 Uhr in der Nacht diskutierte. Von dieser Zeit erzähle ihnen ihr Generalsekretär Jerónimo de Sousa oft, sagt Alves. De Sousa ist das Urgestein der portugiesischen Innenpolitik, der am längsten dienende Abgeordnete im Parlament. Schon 1976 war der heute 74-Jährige dabei, als das Land seine erste Verfassung nach der Diktatur auf den Weg brachte.
Die Geschichte wird in der Partei nie vergessen. Als einzige Opposition im Land waren die Kommunisten die letzten Linken, die aus dem Untergrund gegen die Diktatur gekämpft haben – während die Sozialistische Partei im Exil, und damit in Sicherheit, ideologisch vor sich hintüftelte. «Wir waren präsent im Widerstand, die Sozialisten nicht», unterstreicht Duarte Alves. Sie waren da, als es die anderen nicht waren.
Das ist dieser Tage wichtig zu betonen. Er weiss, dass viele seiner Landsleute den Kommunistinnen die Schuld an den Neuwahlen geben, weil die Genossinnen zu stur gewesen sein sollen in der Budgetfrage. Ihretwegen droht Portugals linkes Experiment, das «Wunder», zu scheitern. Ihrer Kompromisslosigkeit ist es geschuldet, dass manche gar vor einem Rechtsruck warnen. Alves seufzt. Er muss da ein paar Dinge geraderücken: Dass dieses Experiment überhaupt als «links» bezeichnet werden könne, sei auf kommunistischen Druck zurückzuführen. Hätten sie und die anderen Linksparteien António Costa und seinen Ministern nicht ständig in den Ohren gelegen, die Kürzungen der konservativen Vorgängerregierung zurückzunehmen, würden Gehälter und Pensionen immer noch auf dem Troika-Niveau dahindümpeln.
Und jetzt forderten sie nun einmal mehr: mehr Investitionen, mehr finanzielle Anreize für Ärztinnen und Krankenpflege, im öffentlichen Dienst zu bleiben, statt wie bisher in die lukrative Privatwirtschaft oder gar ins Ausland abzuwandern – und mehr Mindestlohn. Derzeit liegt er bei 665 Euro im Monat, 2022 soll er auf 705 Euro angehoben werden. Die Kommunistische Partei verlangt 850 Euro. «Wir wären sogar bereit gewesen, mit 750 Euro zu starten, aber die Regierung hat nicht einmal einen Gegenvorschlag präsentiert», sagt er, «sie hat uns nur auf 2025 vertröstet, also auf dann, wenn ihre Legislaturperiode ausgelaufen ist.»
Dabei wäre jetzt die Zeit, Geld ins Land zu pumpen, findet Alves. Wegen der Corona-Krise hat die EU-Kommission die Regeln für Haushaltsdefizite der Mitgliedsstaaten bis auf weiteres ausgesetzt. Zur Erinnerung: Der Europäische Fiskalpakt sieht vor, dass die Neuverschuldung eines Landes – das Haushaltsdefizit – pro Jahr nicht über 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts liegen darf und die Gesamtverschuldung nicht höher als 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts sein soll. Mit dem Aussetzen sollen «die nationalen Regierungen so viel Liquidität wie nötig in die Wirtschaft pumpen können», hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Vorstoss begründet.
Der Spielraum für Portugal wäre für nächstes Jahr durchaus gegeben, findet die Partei. Ausserdem soll die erste «Bazooka»-Tranche der EU – eine Finanzspritze von insgesamt 13,9 Milliarden Euro an nicht rückzahlbaren Zuschüssen – aus dem Corona-Wiederaufbaufonds bald ausgeschüttet werden. «Das ist der Moment, in dem wir die Probleme des Landes angehen könnten», sagt Duarte Alves, «wenn wir das nicht tun, wird das der Grund sein, warum Parteien wie Chega wachsen.» Nicht sie seien am potenziellen Rechtsruck verantwortlich, sagt er – sondern die knausrigen Sozialisten, die glaubten, mit einer Neuwahl ihre Macht zementieren zu können.
Alle haben eine Chance verdient
Anja Sanches wünscht sich einen Rechtsruck. Und zwar einen ordentlichen. Sie hat genug von Sozialisten, von Kommunistinnen und von all den Linken – mit deren grossen Herzen für die «Marginalisierten», die sich auf ihre Kosten ein gutes Leben machen würden. «Chega räumt auf mit diesem Bullshit», sagt sie. Sie sitzt mit ihrem 17-jährigen Sohn im Café «Sabores do Tejo» in Almada, gleich beim Andockhafen der Fähren, die alle zwanzig Minuten Passagiere von und nach Lissabon befördern.
Aufgewachsen ist Sanches, die im Brotberuf Kontaktlinsen verkauft und nebenbei Biologie studiert, hier in Almada. Sie hat miterlebt, wie sich die kleine Vorstadt verändert hat – von der einstigen Kommunistenhochburg zum aufpolierten Prestigeprojekt einer sozialistischen Bürgermeisterin. In der Theorie klängen all diese sozialistischen Ideen nett, findet die 37-Jährige, aber in der Praxis seien sie nicht zu gebrauchen – vor allem dann nicht, wenn sich die Verantwortlichen die Taschen vollstopfen würden. Und sie alle würden das tun, egal, welcher Partei sie angehörten.
Wirklich? Müsste sich dann nicht auch Chega bald bereichern, deren Vorsitzender bis vor einigen Jahren noch Mitglied in der konservativen PSD war? Was macht seine Partei, die ausländische Beobachterinnen als Portugals Antwort auf die AfD bezeichnen, so anders, so sauber?
Anja Sanches zuckt mit den Schultern. «Vielleicht sind sie genauso korrupt, ich weiss es nicht», sagt sie, «aber sie haben eine Chance verdient, es zu beweisen. Die anderen hatten sie doch auch. Einen Versuch wäre es wert.»
Chega in der Regierungsverantwortung?
Unwahrscheinlich. Aber wer weiss – Portugal ist bekannt für seine Wunder.
Und einige könnten richtig unheimlich sein.
Hinweis: Die Gemeinde Amadora beherbergt rund 185’000 Einwohner nicht auf 1,3 Quadratkilometern, sondern auf knapp 24 Quadratkilometern. Wir bitten um Entschuldigung für den Fehler und bedanken uns für die Hinweise aus der Leserschaft.