Warum Pflegefachleute aufgeben
Tausende Pflegefachkräfte steigen jedes Jahr aus dem Beruf aus. Der Grund dafür ist auch der Lohn – entscheidend ist aber ein anderes Problem.
Von Olivia Kühni, 08.11.2021
Man hat es in den letzten Monaten wieder überall gelesen, gerade jetzt vor der Abstimmung über die Pflegeinitiative: Der Schweiz mangelt es an Pflegefachleuten – in einem dramatischen Ausmass.
Bis 2029 werden dem Land geschätzt 20’000 Pflegefachleute mit Lehr- oder Fachhochschulabschluss fehlen. Von den Stellen, die einen FH-Abschluss voraussetzen, könnten so nur rund 67 Prozent besetzt werden.
Jede dritte Stelle bliebe also unbesetzt.
Das liegt einerseits daran, dass der Bedarf in einer immer älter werdenden Gesellschaft an allen Ecken und Enden steigt: in den Spitälern, in den Alters- und Pflegeheimen, in der Spitex.
Gleichzeitig aber liegt es auch daran, dass jedes Jahr Tausende Pflegefachleute ihre Stelle verlassen. Die Fluktuation ist so gross, dass jeder in der Branche sie sieht und spürt: In den Spitälern beispielsweise wechseln sich jedes Jahr rund ein Fünftel der Pflegenden aus.
Auffallend ist dabei, dass viele der Austretenden nicht nur die Stelle wechseln, sondern gleich den Beruf verlassen. Eine Analyse für das Jahr 2013 zeigte gar, dass jede sechste Pflegefachfrau ganz aus der Erwerbstätigkeit aussteigt.
Dieser ständige Verlust fällt so schwer ins Gewicht, dass ihn der – seit einigen Jahren zunehmende – Nachwuchs nicht wettmachen kann.
«Massnahmen bei der Rekrutierung und Ausbildung laufen ins Leere, wenn die ausgebildeten Fachpersonen nach wenigen Jahren aus dem Gesundheitswesen aussteigen oder gar nicht erst im erlernten Beruf tätig werden», warnt denn auch der Nationale Versorgungsbericht 2021 zum Gesundheitspersonal in der Schweiz.
Mit anderen Worten: Hier läuft etwas schief. Was, das versuchen seither verschiedene Beobachter und Expertinnen zu ergründen. Warum kündigen Pflegefachleute in solch hoher Zahl?
Fehlende Vereinbarkeit
Einige wichtige Hinweise lieferte die Studie «Nurses at Work» von 2016, an der verschiedene Hochschulen mitarbeiteten und für die über 15’000 aktuelle und frühere Pflegefachleute befragt wurden.
Das Fazit: Für jene, die ihre Stelle aufgaben, spielte der Lohn eine Rolle. Pflegefachleute mit FH-Abschluss verdienen beispielsweise in Zürcher Spitälern brutto um die 6300 Franken, das entspricht etwa einem ortsüblichen Durchschnittslohn ohne Kaderfunktion. Noch entscheidender aber waren andere Faktoren, vor allem die Beeinträchtigung des Privatlebens durch die Arbeit, die Unvorhersehbarkeit der Arbeitszeiten, Erschöpfungsgefühle und fehlende Entwicklungsmöglichkeiten.
Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch eine mehrjährige Studie zur Arbeitsbelastung von Gesundheitsfachpersonen unter Führung der Berner Fachhochschule. Sie stellt fest, dass Pflegefachleute und Hebammen öfter als Angehörige anderer Berufsgruppen über einen Ausstieg nachdenken.
Ihre Absicht, den Beruf zu verlassen, wird dabei am stärksten von den folgenden Faktoren getrieben (abnehmende Wichtigkeit):
Unvereinbarkeit von Arbeit und Privatleben
Fehlende Sinnhaftigkeit der Arbeit
Fehlende Verbundenheit mit der Arbeitgeberin
Mangelnde Vorhersehbarkeit der Arbeit
Rollenkonflikte
Unfaires Verhalten
Wer mit Pflegefachfrauen spricht, kennt das Problem: Die regelmässige Schichtarbeit macht es schwierig, beispielsweise die Betreuung von Kleinkindern zu organisieren, Schichtpläne kommen knapp oder gar zu spät, Pikettdienste werden an manchen Orten kaum bezahlt. Zusätzlich sorgt der ständige Personalmangel dafür, dass man immer wieder einspringt oder Überstunden schiebt.
Und für all dies ist der Lohn, so sehen es viele, dann tatsächlich zu tief – vor allem, weil kaum jemand ein Vollzeitpensum über Jahre aushält.
Wenn dann noch die Sinnhaftigkeit der Arbeit wegfällt – etwa weil Pflegende wegen des dauernden Zeitdrucks ihren Beruf nicht einmal mehr so ausüben können, wie sie es als richtig empfinden –, steigen viele aus.
Genau hier, beim Thema der vielen Berufsabgängerinnen, gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen der Pflegeinitiative, die am 28. November in der Schweiz zur Abstimmung kommt, und dem Gegenvorschlag, der bei einem Nein an der Urne in Kraft tritt.
Die Initiative verlangt vom Bund, die Arbeitsbedingungen in Spitälern oder Heimen zu regeln. Das würde beispielsweise Lohnvorgaben beinhalten oder Vorschriften zum Umgang mit Dienstplänen, die eine bessere Vereinbarkeit mit dem Familienleben ermöglichen. Weil das ihrer Ansicht nach zu sehr in die Zuständigkeit der Kantone, der Betriebe und Sozialpartner eingreift, lehnen Bundesrat und Parlament das ab. Ihr indirekter Gegenvorschlag konzentriert sich vor allem auf Investitionen in die Ausbildung.