Binswanger

Warten auf Triage

In der Schweiz muss nun diskutiert werden, ob das Gesundheits­system zusammen­zubrechen droht. Warum diese Debatte verlogen ist.

Von Daniel Binswanger, 11.12.2021

Es wird wieder ernst, verdammt ernst. Auch wenn das eine seltsame Aussage ist nach bald zwei Jahren Corona. Nach über 35’000 Hospitalisierungen, über 11’500 Toten. Aber der Stimmungs­umschwung ist mit Händen zu greifen.

Wir sind wieder an dem Punkt: Die Drohung der «Triage» steht im Raum, die Angst­vokabel dieser Pandemie. Wir sind an dem Punkt, an dem die Furcht vor einer unmittelbar bevorstehenden Überlastung des Gesundheits­systems die Gemüter niederdrückt, den Medien­diskurs beherrscht, nun endlich sogar die Politik zum Handeln veranlasst. Der Bundesrat hat gestern relativ stringente Massnahmen in Konsultation gegeben, 2G und potenziell auch darüber noch deutlich hinaus­gehende Einschränkungen werden kommen. Selbst Versammlungen im Privat­bereich sind nicht mehr tabu.

Der Aktivismus beweist, wie bedrohlich die Lage geworden ist. Wird es an diesen Fest­tagen erneut zu einer massiven, unkontrollierten Welle von Todes­fällen kommen? Zu mangelnden Beatmungs­plätzen, Spital­kräften am Rande des Zusammen­bruchs, Einzel­schicksalen, über denen man den Daumen senkt, weil die Ressourcen längst erschöpft sind?

Die Schweizer Covid-Strategie besteht darin, ein möglichst liberales Massnahmen­regime jeweils möglichst lange aufrecht­zuerhalten – auch wenn bei einer Verschärfung der Lage dann erst sehr spät reagiert wird und ein hoher menschlicher Preis zu zahlen ist. Auch wenn es bedeutet, dass man mit den Hospitalisierungen ans obere Limit der Intensivbetten­kapazitäten gehen muss. So war es letzten Winter, und auch diesen Winter ist es nicht anders. Solange die Menschen in einem Intensiv­bett sterben, so scheinen die Entscheidungs­träger beschlossen zu haben, ist auch eine hohe Sterblichkeit in Kauf zu nehmen.

Nicht die Verwundbaren zu schützen, erscheint als die oberste Priorität, sondern sie medizinisch begleiten zu können, wenn es schief­geht. Auf dieser Grundlage wird der Spielraum definiert, innerhalb dessen man das Massnahmen­regime kalibriert und die Impf­verweigerer gewähren lässt. Eine Überlastung der Intensiv­kapazitäten wäre gleich zweifach eine Niederlage: Sie bedeutet nicht nur sehr hohe Todes­zahlen, sondern auch das Entgleisen der offiziellen Strategie.

Es ist deshalb begrüssens­wert, dass jetzt heftig und ohne Tabus über die sich ankündigende Katastrophe diskutiert wird. Das Schweizer Fernsehen strahlt Direkt­schaltungen in die Intensiv­stationen aus, Ärzte in Schutz­montur, den Tränen nahe, warnen vor der kommenden oder schon eintretenden Katastrophe. Das ist ein markanter Unterschied zum letzten Winter, wo die Medien sich dem grossen Sterben hinter den Spital­mauern nur mit einer gewissen Zurück­haltung näherten. Das grosse Aufwachen kam erst mit den Gedenklichter­aktionen der Corona-Mahnwache und den vorweihnachtlichen Presse­konferenzen von ein paar couragierten Spital­direktoren. Jetzt hingegen gibt es eine Arena über Triage. Man will den Realitäten ins Gesicht blicken.

Das ist ein Fortschritt gegenüber der letztjährigen Advents­zeit – und dennoch erscheint es sehr irritierend. Der öffentliche Diskurs ist alerter geworden – aber eine fundamentale Pervertiertheit, eine ideologische Verzerrung der Pandemie­problematik wird durch diesen reality check nicht korrigiert. Im Gegenteil: Er wird noch einmal gesteigert.

Das liegt nicht nur daran, dass auch in diesem Jahr das Aufwachen viel zu spät erfolgt. Die Diskussionen um Impf­obligatorium und Triage werden von sehr begrenztem Nutzen bleiben, wenn sie keinen Beitrag mehr dazu leisten, dass es zur Triage gar nicht kommt. Es liegt vor allem daran, dass die Triage-Diskussion zwar eine drohende Realität beschreibt, das Grundproblem aber völlig unangemessen artikuliert.

Was heisst Triage? Der Begriff stammt bekanntlich aus der Kriegs­medizin, und beschreibt die Techniken, die auf dem Schlacht­feld angewendet werden, wenn die medizinischen Ressourcen begrenzt sind und die Zahl der Verwundeten blitzartig in die Höhe schnellt, um möglichst viele Leben zu retten, indem die Mittel möglichst effizient eingesetzt werden. Das heisst, dass die Ressourcen konzentriert werden auf die Verwundeten, die einerseits eine Versorgung akut benötigen, andererseits aber auch eine gute Prognose haben, zu überleben, wenn sie diese Versorgung bekommen. Verwundete mit schlechten Überlebens­chancen hingegen werden ihrem Schicksal überlassen, damit ja nicht knappe Ressourcen an hoffnungslose Fälle verschwendet werden. Die Massen­heere der napoleonischen Kriege machten die Triage zum ersten Mal zu einer kodifizierten Technik. Sie wurde erfolgreich eingesetzt, um eine maximale Zahl an Soldaten zu retten.

Natürlich kann es nicht nur in Kriegs-, sondern eben auch in Pandemie- oder sonstigen Katastrophen­situationen dazu kommen, dass kurzzeitig der medizinische Versorgungs­bedarf viel höher ist als die zur Verfügung stehenden Mittel. Als Norditalien im letzten Frühjahr von Corona überrollt wurde, musste teilweise triagiert werden in den Spitälern. Es gab keine Möglichkeit, diesem Zwang zu entkommen.

Genau hier jedoch liegt der Unterschied zur heutigen Lage in der Schweiz. Wir bereiten uns zwar darauf vor, zu triagieren – man weiss schon gar nicht mehr recht, ob die zahlreichen Medien­beiträge dagegen ankämpfen oder uns vielmehr darauf einstimmen sollen. Aber wir handeln nicht unter existenziellem Zwang. Wir haben die Wahl – oder hätten sie jedenfalls gehabt. Wir sind nicht im Zustand der General­mobilmachung, wir könnten noch viel, viel grössere Kräfte aufbieten. Aber wir tun es nicht: Stell dir vor, es ist gar nicht Krieg – und wir triagieren trotzdem.

Zur Triage gehört die Zwangs­situation. Sie allein kann eine moralische Recht­fertigung liefern dafür, aus einer verzweifelten Lage das Beste zu machen, indem man Menschen, die man eigentlich retten könnte, sterben lässt, um anderen zu helfen. Eine erwartete Triage­situation jedoch ist ein Widerspruch in sich – und ein moralischer Skandal. Wenn wir in der Schweiz schon in Kürze in genau diese Situation hineingeraten, dann nur deshalb, weil wir es nicht anders wollten. Weil wir es vorgezogen haben, die Massnahmen nicht zu ergreifen, mit denen sie hätte verhindert werden können. Weil es wichtiger war, Clubs und Restaurants offen zu lassen, kein Homeoffice-Obligatorium vorzuschreiben, in den Schulen trotz allem nicht zu testen.

Die Debatten über Triage sind wichtig, weil sie vor der Katastrophe warnen. Aber sie sind zugleich der Ausdruck einer unerträglichen Selbst­apologetik: Sie suggerieren eine Unausweichlichkeit, die nie existiert hat.

Solche Realitäts­verzerrungen haben von Anbeginn den Schweizer Covid-Diskurs bestimmt – mit gravierenden Effekten. Das Haupt­beispiel ist der unsinnige Begriff der «Eigen­verantwortung», der zum Mantra des offiziellen Covid-Diskurses geworden ist. Jedes Vorschul­kind begreift, dass er unbrauchbar ist, um die realen Dilemmata der Epidemie­bekämpfung zu erfassen. Im Umgang mit einer Ansteckungs­krankheit kann per definitionem nicht die Eigen­verantwortung im Zentrum stehen, weil unser Handeln nicht nur uns selber, sondern stets auch unsere Umgebung betrifft. Es geht immer darum, dass jede und jeder für alle Mitmenschen, die er oder sie anstecken könnten, ebenfalls eine minimale Verantwortung übernehmen muss.

Was man in der Schweizer Debatte mit grossem Pathos «Eigen­verantwortung» nennt, bezeichnet in der Regel lediglich die Freiwilligkeit der Massnahmen. Der Staat will so weit als möglich keinen Zwang auferlegen, also viele Covid-Vorsichts­massnahmen nicht gesetzlich vorschreiben, sondern es den Bürgerinnen überlassen, sich freiwillig vernünftig zu verhalten. Freiwillige Verantwortung, die nicht erzwungen ist, und Eigen­verantwortung, die nur mich betrifft, sind aber offensichtlich nicht dasselbe.

Die Begriffs­verwirrung wird veranstaltet, um die Weigerung, überhaupt Verantwortung zu übernehmen, moralisch zu legitimieren. Was nur mich selber betrifft, darf ich jederzeit unterlassen, solange ich die Konsequenzen trage. Was jedoch meinen Nächsten in Lebens­gefahr bringen kann, sollte ich auch dann vermeiden, wenn ich gesetzlich dazu nicht gezwungen bin. Schon «pandemische Eigen­verantwortung» ist eine begriffliche Absurdität. Mit der Debatte über «erwartete Triage» wird der finstere Zynismus der helvetischen Selbst­apologie nun nochmals einen Gang hochgeschaltet. Schaut her, wie fürchterlich! Aber es ist leider, leider eine Zwangs­situation, an der wir nichts ändern können. So lautet die Botschaft. Sie müsste lauten: an der wir schlicht nichts ändern wollen.

Diese argumentativen Verzerrungen ziehen sich durch die ganze Debatte und werden immer krasser. Sie führen zum Beispiel dazu, dass unsere National­rats­präsidentin die Covid-Impfung eine «Privatsache» nennt. Man kann sich vielleicht auf den Stand­punkt stellen – auch wenn ich nicht wüsste, mit welchen Argumenten – , dass es wichtiger ist, dem Einzelnen den Impf­entscheid zu überlassen, als die Gemeinschaft zu schützen. Die Behauptung jedoch, es sei meine Privat­angelegenheit, wenn ich für andere Menschen ein Ansteckungs­risiko bin, ist offensichtlich grotesk.

Die Selbstapologetik zeigt sich auch in der verblüffenden Einseitigkeit der ethischen Bedenken, die nun allenthalben ins Spiel gebracht werden. Andrea Büchler, Präsidentin der nationalen Ethik­kommission, spricht sich ganz entschieden gegen ein Impf­obligatorium aus, und zwar im Namen der «Selbst­bestimmung über den eigenen Körper». Es ist unbestreitbar, dass diese Selbst­bestimmung ein hohes Gut ist. Aber wie wird es abgewogen gegen den Schutz der Allgemeinheit?

Grosses Aufheben wird davon gemacht, dass freie Bürger über medizinische Eingriffe jederzeit frei entscheiden können müssen und dass die unter gesetzlichem Zwang zustande kommende Verabreichung einer Impfdosis einen Übergriff darstellen würde. Dem ist nicht zu widersprechen. Aber wie ist das abzuwägen gegen den Übergriff, an Sauerstoff­mangel zu ersticken oder wochen­lang an einer Beatmungs­maschine zu hängen? Der Tod und das Leid in den Spitälern scheinen nicht schwer zu wiegen neben der medizinischen Selbst­bestimmung der Bürgerinnen. Sie ist offensichtlich unantastbar.

Wir reden von Eigen­verantwortung, aber wir meinen unseren Egoismus. Wir reden von Triage, aber wir legitimieren unsere Passivität. Was ist vom moralischen Zustand eines Landes zu halten, das zur Rechtfertigung seiner Interventions­unlust eine Notlage herauf­beschwören muss, wie man sie aus Kriegen kennt? Das Problem liegt nicht darin, dass wir keine Wahl hätten. Es liegt darin, dass die Politik sich ein weiteres Mal als führungs­schwach und zögerlich erweist, dass ihr der Preis für wirkungs­volle Massnahmen zu hoch ist. Und dass die Bürger schlicht zu träge und zu egoistisch sind, um die Schwachen zu schützen und dieser Pandemie den Kampf anzusagen. Das wäre unsere gemeinsame Verantwortung.

Illustration: Alex Solman