Die Beschwörung des Unbrauchbaren
Epidemien müssen gemeinschaftlich bewältigt werden. Dabei würde es helfen, nicht ständig Scheindebatten zu führen.
Von Daniel Binswanger, 28.08.2021
Dass die Schweiz ein Problem mit der Delta-Variante, der ansteigenden Zahl der Hospitalisierungen und der Impfquote hat, wurde in der bundesrätlichen Pressekonferenz vom Mittwoch mit ungewohnter Klarheit benannt. Besser spät als nie! Jetzt müssen auf Ankündigungen und Konsultationen allerdings noch Taten folgen. Die Pandemiebewältigung liegt in den Händen der Behörden, aber sie ist auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Und mehr und mehr verfestigt sich der Eindruck, dass dieses Land nicht zuletzt ein Diskursproblem hat.
Die Medienberichterstattung der letzten Woche schien beinahe zu suggerieren, die eigentliche Bedrohung liege nicht in erschöpften Intensivbettenkapazitäten, sondern in der «Spaltung» der Schweizer Gesellschaft. Auf der einen Seite die Impfgegner, auf der anderen Seite die Befürworterinnen – und hüben und drüben eine beängstigende Radikalisierung. Das ist der Tenor vieler Analysen – gefolgt vom Aufruf zu Mässigung. Brauchen wir nicht den demokratischen Konsens? Und liegt dieser nicht wie immer im geometrischen Mittel der Positionen?
Die Intention ist edel, aber das Framing ist bizarr. Wir haben kein Problem mit fanatischen Impfbefürwortern. Wir haben ein Problem mit dem Impfwiderstand und seiner parteipolitischen Bewirtschaftung. Es gibt ganz einfach Fakten, an denen wir nicht vorbeikommen. Das Bedürfnis nach Ausgewogenheit ist ehrenwert, aber mit Tatsachen findet man keinen Kompromiss. Noch viel weniger, wenn sie schwer zu vermitteln sind.
Entweder wir erhöhen in Windeseile die Impfquote, wir gehen zurück in den Lockdown – oder wir nehmen den Zusammenbruch des Spitalsystems und zahlreiche Opfer in Kauf. Von diesen drei Varianten ist nur die erste akzeptabel; ein neuer Lockdown wäre schwer erträglich, die ungebremste Durchseuchung eine Katastrophe. Natürlich muss alles versucht werden, um die Impfgegnerinnen zu überzeugen. Natürlich gibt es gar keine andere Option, da ein Impfzwang nicht zur Debatte steht. Es ist dennoch nicht der Moment für den helvetischen Mittelweg.
Wir sollten unsere Energie nicht auf Bullshit-Debatten verschwenden. Es mag zur Pandemiebewältigung sehr konträre Meinungen geben, und jeder hat das Recht, die seine zu vertreten – auch wenn es sich um eine abstruse Verschwörungstheorie handelt. Das bedeutet aber nicht, dass das Ideal der demokratischen Auseinandersetzung darin besteht, alle Meinungen gleich ernst zu nehmen. Und es bedeutet schon gar nicht, dass der mediale Diskurs verpflichtet wäre, zu allen Positionen vermittelnde Äquidistanz zu halten.
Es ist extrem befremdlich, wenn wir in einer Zeitung wie dem «Tages-Anzeiger» lesen, es lasse sich nicht mehr rekonstruieren, was zuerst da gewesen sei, «der Druck der radikalen Impfbefürworter auf die radikalen Impfgegner oder der Druck der Gegner auf den ganzen Rest». Unser Problem soll demnach darin bestehen, dass Befürworterinnen und Gegner sich in einer Radikalisierungsspirale hochschaukeln, und die Lösung kann dann wohl nur sein, dass alle sich wieder in der Mitte treffen.
Doch was um Gottes willen sind «radikale Impfbefürworter»? Leute, die sich dafür aussprechen, dass Impfverweigerinnen nicht mehr behandelt werden, wenn sie an Covid erkranken? Diese Position mag es vereinzelt geben, und sie muss entschieden zurückgewiesen werden. Aber selbstverständlich wird man nicht dazu übergehen, die Ungeimpften nicht mehr in den Spitälern aufzunehmen oder ihnen Behandlungskosten aufzubürden. Natürlich hat das medizinische Personal die Pflicht, auch erkrankte Impfgegner zu behandeln, das darf man gerne unterstreichen. Aber hat es nicht auch das Recht, über eben diese Impfgegnerinnen genervt zu sein?
Wenn sich das Mediensystem nicht einmal in einer Krise wie der heutigen von seinen false-balance-Reflexen befreien kann, wird es kaum möglich sein, dem Publikum ein auch nur minimales Verständnis für die Problemlage zu vermitteln. Mit radikalisierten Impfbefürwortern hat sie herzlich wenig zu tun.
Eine andere diskursive Seltsamkeit ist die nie mehr enden wollende «Liberalismus-Debatte» aus Anlass der Pandemie. Im Mittelalter reagierte man auf Pestzüge mit Judenpogromen und Hexenverbrennungen. Die moderne Schweiz tut Abbitte mit den immer selben rituellen Disputen über die scheinbar heiligste aller theologischen Fragen: Wie widerstehen wir der Ursünde des Kollektivismus?
Katja Gentinetta hat in der letzten «NZZ am Sonntag» einen Beitrag veröffentlicht, der eine einfache Wahrheit in Erinnerung ruft: «Meine Freiheit hört dort auf, wo die der anderen beginnt.» Sie kommt zur zwingenden Konklusion, dass Liberalismus mit Impfskepsis rein gar nichts zu tun hat. Es ist äusserst verdienstvoll, dass diese Grundsätze in Erinnerung gerufen werden, umso mehr, als man im Hause NZZ die Bedrohung der Freiheit durch den «pandemischen Obrigkeitsstaat» so obsessiv denunziert, als würde man den Rosenkranz beten. Allerdings ist beelendend, dass die Intervention von Katja Gentinetta überhaupt notwendig ist.
Nichts könnte epidemiologisch verquerer und begrifflich absurder sein als die Behauptung, die Pandemie müsse mit Freiheitlichkeit und Eigenverantwortung bekämpft werden. Ansteckungskrankheiten besiegt man durch gemeinschaftliches Handeln – sei es staatlich verordnet oder entspringe es der Solidarität der Zivilgesellschaft. Es reicht nicht, für sich selber zu sorgen, sondern jede Bürgerin muss auch Verantwortung übernehmen für die Menschen in ihrer Umgebung, die sie infizieren könnte.
Das Diskursgespenst der Eigenverantwortung scheint sich aus der Schweizer Covid-Debatte jedoch nicht mehr austreiben zu lassen. Und damit auch nicht der Gedanke, dass Impfskepsis ein heroischer Widerstandsakt bleibt: Eigenverantwortung definiert sich durch die Tatsache, dass ich niemandem Rechenschaft schuldig bin. Dass ich ganz nach meinem Gutdünken handle, persönlich alle Konsequenzen trage und deshalb auch Nein sagen kann. Man muss sich nicht wundern, dass die Schweizer Bürger, nachdem sie nun schon anderthalb Jahre mit Diskursen über pandemische Eigenverantwortung traktiert wurden, ganz genau das tun: Nein sagen zur Impfung.
Einer der erhellendsten Texte, die man zu den Aporien der Schweizer Pandemiepolitik lesen kann, wurde vor über dreissig Jahren geschrieben: «Risiko und Gefahr» von Niklas Luhmann. Ein Risiko, sagt Luhmann, ist dann gegeben, wenn ich die Drohung eines potenziellen Schadens auf mich nehme, weil ich das so entschieden habe. Eine Gefahr hingegen definiert sich dadurch, dass mir potenzieller Schaden droht, weil andere das so entschieden haben. Man kann das Risiko einer Nicht-Impfung eingehen, wird für andere dadurch aber zur Gefahr.
«Die liberale Ideologie der Freiheit scheitert an der Differenz von Risiko und Gefahr», sagt Luhmann lapidar. Denn diese Ideologie beruhe auf der häufig illusorischen Prämisse, dass es «einen umfangreichen Bereich von Handlungsmöglichkeiten gebe, bei deren Wahrnehmung man sich selbst nützen könne, ohne jemand anderem zu schaden». Und Luhmann fügt hinzu: «Dies alles ist so leicht zu durchschauen, dass die Frage aufkommt, weshalb evident Unbrauchbares so engagiert vertreten wird.»
Warum wird Unbrauchbares so engagiert, ja obsessiv beschworen? Wir müssen impfen, impfen, impfen, die Kinder und die Immunschwachen schützen, die Hospitalisierungen unter Kontrolle behalten. «Liberale» Sonntagspredigten und «ausgewogenen» Journalismus können wir uns sparen.
Illustration: Alex Solman