Warum es nicht gelingt, die Polizei zu reformieren
In den USA läuft die Debatte, wie man die Polizei reformieren könnte. Und in der Schweiz? Hier wird das grösste Stadtpolizei-Korps des Landes seit 30 Jahren von Linken regiert. Gute Basis für Reformen also. Doch die Bilanz ist ernüchternd.
Von Benjamin Rothschild, 25.11.2021
Im vergangenen zweiten Pandemie-Frühling, als die Stadtpolizei gewaltsam gegen linke Demonstrantinnen vorging, wurde die Frage wieder intensiv diskutiert: Wer hat in Zürich eigentlich das Sagen, wenn es um die Polizei geht? Die gewählten Stadträte oder das Korps? Und macht es einen Unterschied, dass die mit rund 2100 Mitarbeitern grösste Stadtpolizei des Landes schon seit drei Jahrzehnten in linken Händen ist? Was taugt er eigentlich, der Slogan von Linken, man müsse die Polizei reformieren?
Die Frage stellt sich, seit sich zu Beginn der 1990er-Jahre mit Robert Neukomm ein Sozialdemokrat als Polizeivorstand um die offene Drogenszene in der Stadt Zürich kümmerte. Sie stellte sich 20 Jahre später, als mit Richard Wolff ein Vertreter der Alternativen Liste (AL), der polizeikritischsten Ortspartei der Schweiz, die politische Verantwortung über die Stadtpolizei übernahm. Und sie stellt sich heute, wo mit Karin Rykart eine Grüne der Polizei vorsteht und einen Umgang mit Jugendprotesten der Gegenwart finden muss: der Klimabewegung, die zunehmend an politische und juristische Grenzen stösst und von der Polizei ruppig behandelt wird.
Die Frage nach Möglichkeiten von Reformen und demokratischer Kontrolle stellt sich umso mehr, weil diese in den letzten Jahren auf weit grösseren Bühnen diskutiert wurde, im Zuge von Black Lives Matter oder nach der Aufdeckung mehrerer rechtsextremer Netzwerke in der deutschen Polizei.
In Zürich entzündete sich erneut die Frage, wer in der Polizei eigentlich das Sagen hat, welchen Einfluss linke Politikerinnen tatsächlich nehmen können, als im Vorfeld des diesjährigen Frauentags vom 8. März ein Grossaufgebot der Polizei eine Demonstration mit einigen hundert Teilnehmenden im Keim erstickte. Dabei schlug ein Polizist einer bereits am Boden liegenden 19-jährigen Frau mehrmals gegen den Kopf, weil sie ihm in den Finger gebissen haben soll. Ein Video, auf dem der Vorfall zu sehen ist, schlug im Netz hohe Wellen. Der Stadtrat sprach in der Antwort auf eine Anfrage aus dem Parlament von «Ablenkungsschlägen». Das sei gängige Polizeipraxis. Die Empörung darüber war gross, gerade bei jenen Gemeinderäten, die mit der grünen Polizeivorsteherin das Parteibuch teilen.
Kurz darauf dann der 1. Mai: Obwohl der Aufmarsch an der sogenannten «Nachdemonstration», einem nicht bewilligten Umzug der radikalen Linken, aufgrund der Pandemie überschaubar war, glich der Zürcher Kreis 4 an jenem Tag einer Polizeisperrzone. Über dem Quartier kreiste ein Polizeihelikopter, die wenigen Demonstrantinnen wurden eingekesselt, kontrolliert, weggewiesen, genauso wie einige Journalisten, die das Geschehen dokumentieren wollten.
Sieht so eine Polizei aus, die entlang linker Grundsätze operiert und zum Beispiel gegenüber Demonstrationen das Prinzip der Verhältnismässigkeit höher gewichtet als etwa ein SVP-Hardliner?
Zwar wird die Zürcher Polizeivorsteherschaft hin und wieder auch von bürgerlicher Seite kritisiert. Zuletzt zum Beispiel wegen einer angeblich allzu zurückhaltenden Linie im Umgang mit der Velobewegung Critical Mass oder den Klimaaktivisten von Extinction Rebellion. Unabhängig davon, dass sich Letztere bei all ihren gewaltfreien Aktionen mit einem durchaus stattlichen Polizeiaufgebot konfrontiert sahen und im Gegensatz zu den meisten «Corona-Rebellen» in Schweizer Kleinstädten auch abgeführt werden, wirkt bürgerliche Polizeikritik in Zürich aber oft schrill und konstruiert.
Das Zürcher Ritual ist ein anderes: Polizisten schiessen mit Gummischrot eine Demonstration zusammen, kesseln Hunderte Leute ein, Vertreterinnen der Linken üben daraufhin scharfe Kritik an der Stadtpolizei – als wären es nicht ihre eigenen Exekutivpolitiker, die seit Jahrzehnten für die Polizei verantwortlich sind.
Haben die linken Polizeivorsteherinnen allesamt versagt bei ihrem Bestreben, es anders zu machen? Die Polizei im Rahmen des Opportunitätsprinzips entlang linker Grundsätze operieren zu lassen? Zurückhaltend zu sein bei Demonstrationen zum Beispiel? Etwa Sachbeschädigungen weniger gravierend einzustufen als Angriffe auf Menschen? Verabschieden sie sich im Amt zwangsläufig von ihren Prinzipien? Und ist es am Ende nicht die politische Führung, die den Kurs der Stadtpolizei vorgibt? Darf es für die Polizei, die das geltende Recht zu schützen hat, überhaupt eine Rolle spielen, welchem Lager die jeweilige politische Führung angehört?
Erst grosse Pläne, dann Tränen
Im April 1990 hatte mit dem neu gewählten SP-Stadtrat Robert Neukomm plötzlich ein Hippie das Sagen über die Stadtpolizei. So zumindest wurde Neukomm – von seinen Freunden «Bobby» genannt, ein ausgebildeter Forstingenieur mit vollem Bart – wahrgenommen. Der Sozialdemokrat folgte auf den LdU-Politiker Hans Frick, der den Ruf eines Hardliners gehabt hatte und gegen die Achtziger-Bewegung mit harter Hand vorgegangen war.
«In den Achtzigern war die Polizei ein Ramboverein. Da gaben jene den Ton an, die vor allem zuhauen wollten», sagt Koni Loepfe, von 1991 bis 2009 Präsident der Stadtzürcher SP. Als erster SP-Polizeivorsteher seit 100 Jahren wollte Neukomm das ändern: Mehr Toleranz gegenüber Minderheiten, mehr polizeiliche Zurückhaltung bei Demonstrationen und eine Prüfung des Verzichts auf Kampfmonturen gehörten zu den Vorsätzen, die er bei Amtsantritt öffentlich verkündete.
Den Linksautonomen soll sich Neukomm am 1. Mai 1990 mit den Worten «Grüezi mitenand, ich bin der neue Polizeivorstand» vorgestellt haben, offenbar getrieben vom Willen, zwischen Strasse und Staat zu vermitteln. Ein Angebot, das von den Autonomen ausgeschlagen wurde: Trotz Neukomms Vermittlungsbemühungen kam es rund um den damaligen 1. Mai zu Ausschreitungen. Aber es waren nicht nur die Autonomen, die von Vermittlung nichts wissen wollten: Im Polizeikorps regte sich auch massiver Widerstand gegen den neuen Polizeivorsteher.
«Neukomm war frisch im Amt und versuchte, den Polizisten an einer Besprechung die Lage vorzugeben», sagt der Fotograf Klaus Rózsa. Er war ein Weggefährte Neukomms und ist seit Jahrzehnten einer der schärfsten Kritiker der Stadtpolizei, vom früheren (1990–2002) SP-Stadtpräsident Josef Estermann wurde er einst gar als «Intimfeind» bezeichnet. Neukomm habe den Befehl ausgegeben, kein Tränengas und Gummischrot einzusetzen – was die Beamtinnen nicht interessiert habe. «Stattdessen setzte man Tränengas und Gummigeschosse en masse ein, ohne dass man Neukomm, der in der Einsatzzentrale sass, informiert hätte», sagt Rózsa.
Am Ende des Tages sei er Neukomm wieder begegnet, sagt der Fotograf. Der linke Polizeivorsteher habe aufgrund der Befehlsverweigerung und seiner missglückten Feuertaufe geweint. Mit der Republik wollte Robert Neukomm darüber auf Anfrage nicht reden.
Bald war der Widerstand gegen Neukomms Einsatzdoktrin so stark, dass sich die Vertreter der damaligen Personalverbände der Stadtpolizei mit einem offenen Brief an den Polizeivorstand und den damaligen Kommandanten Peter Hofacher wandten. Im Zentrum ihrer Kritik: die zurückhaltende Linie im Umgang mit Demonstrationen und die nach Meinung der Polizisten allzu grosszügige Auslegung des Prinzips der Verhältnismässigkeit.
Es dürfe nicht mehr vorkommen, «dass Polizeibeamte zuschauen müssen, wie massive Sachbeschädigungen zum Nachteil der Bevölkerung verübt werden», hiess es im Schreiben der Polizisten. Es dürfe nicht so weit kommen, dass «die Stadt von immer mehr Demonstranten heimgesucht und von möglichen Bürgerwehren beherrscht wird». Die Unterzeichner forderten, «die Einsatzdoktrin betreffend Demonstrationen neu zu überdenken und die Verhältnismässigkeit zugunsten des Grossteils unserer Bevölkerung anzupassen».
Es war eine öffentliche Desavouierung Neukomms. Und es war nicht die erste Kraftprobe zwischen der neuen politischen Führung und dem Korps: Bereits im Herbst 1990 war es zwischen Polizei und Politik zum Streit über den richtigen Umgang mit der offenen Drogenszene am Platzspitz gekommen. Der Stadtrat hatte seine Grundsätze formuliert, mit denen er das in Zürich grassierende Drogenproblem in den Griff bekommen wollte – dabei ging es um die Beschaffungskriminalität, aber auch um die Menschen, die an Überdosen und Krankheiten starben. Zu den neuen Grundsätzen der Regierung gehörte das Credo, dass die offene Drogenszene «vorerst toleriert» werden müsse.
Machtkampf um neue Drogenpolitik
Was dann geschah, ist eine Blaupause dafür, welchen Spielraum der Polizeivorsteher gegenüber dem Korps hat. Der grundsätzliche Auftrag der Polizei ist in der Schweizerischen Strafprozessordnung geregelt. Dort heisst es: «Die Polizei ermittelt Straftaten aus eigenem Antrieb, auf Anzeige von Privaten und Behörden sowie im Auftrag der Staatsanwaltschaft.» Dabei gilt ein «Verfolgungszwang»: Die Strafbehörden sind verpflichtet, ein Verfahren einzuleiten und durchzuführen, wenn ihnen Straftaten oder Verdachtsgründe bekannt werden. Schauen sie bewusst weg, können sie sich der Begünstigung strafbar machen.
Anfang der Neunziger gab es zwar noch keine Schweizerische Strafprozessordnung. Zürcher Stadtpolizistinnen beriefen sich damals aber auf ähnliche Grundsätze, als sie von der Stadt die Direktive erhielten, die offene Drogenszene am Platzspitz vorübergehend zu tolerieren.
Der neue Weg einer liberalen Drogenpolitik, die nebst Repression, Prävention und Therapie auch auf Überlebenshilfe setzte, sollte Zürich vom Problemfall zur Vorzeigestadt machen. Neukomm als Polizeivorsteher verteidigte ihn in seiner Entstehung – doch beinahe wäre er am Widerstand der Stadtpolizei gescheitert. Die Polizisten seien nicht bereit, die neue Drogenpolitik des Stadtrates mitzutragen, teilten deren Personalverbände an einer extra einberufenen Pressekonferenz mit. Den Polizistinnen könne nicht zugemutet werden, dass sie strafbare Handlungen tolerieren müssten. Das Legalitätsprinzip verpflichte sie, Gesetzesverstösse zwingend zu verfolgen. Der Stadtrat, der die reine Repressionspolitik als Teil des tödlichen Problems ausgemacht hatte, blieb hart.
Die Machtfrage lag offen auf dem Tisch: Wer hat das Sagen? Die politische Führung oder das Korps? Es war schliesslich Neukomm, der sich durchsetzte. Zwar gelte tatsächlich das Legalitätsprinzip, hielt er fest. Jedoch verfüge die Polizei über beschränkte Mittel. Wie diese einzusetzen seien, entscheide der Stadtrat als demokratisch legitimierte Behörde. Neukomm betonte das «Primat der Politik», und in einer Volksabstimmung am 2. Dezember 1990 fällten die Zürcher Stimmberechtigten einen Grundsatzentscheid zugunsten der Drogenpolitik des Stadtrats.
Es folgte die nächste Machtprobe, die schliesslich das Schicksal des Kommandanten besiegeln sollte: Die Fichenaffäre warf ihre Schatten tief in die Zürcher Stadtpolizei hinein. Eine Kommission des Gemeinderats begann die Methoden des «KK III» zu durchleuchten: Dieses Kriminalkommissariat war zur Zeit des Kalten Krieges für die politische Polizei zuständig. Die Untersuchungskommission kam zum Schluss, mangels politischer Kontrolle habe die Staatsschutztätigkeit in der Stadt Zürich eine «Eigendynamik entwickelt, die zu Auswüchsen geführt hat, die eines Rechtsstaates unwürdig sind». Der Staatsschutz sei dem Primat der Politik entzogen worden. Die Stadtpolizei wurde in der Folge reorganisiert und das «KK III» in seiner damaligen Form aufgelöst.
Im Zuge der Untersuchung kam es zum Eklat zwischen Neukomm und seinem Polizeikommandanten: Entgegen Neukomms Anweisungen hatte Kommandant Peter Hofacher seinem Korps befohlen, Fragen der parlamentarischen Untersuchungskommission nicht zu beantworten. Neukomm intervenierte zwar, doch einige «KK III»-Beamte verweigerten die Mitwirkung bis zum Schluss.
Neukomm drohte Hofacher, dass er sich eine neue Stelle suchen müsse, wenn er sich nicht vorbehaltlos hinter ihn stelle. Eine derart offen ausgetragene Machtprobe zwischen politischem Vorsteher und Kommandant gab es seither nie mehr, nicht unter Führung der Alternativen Liste, nicht unter Führung der Grünen. Hofacher trat schliesslich Ende Dezember 1992 zurück.
Neukomm hatte einer liberaleren Drogenpolitik den Weg geebnet, die Stadtpolizei nach der Fichenaffäre reformiert, einen Hardliner als Kommandant vom Hof gejagt: Mit Blick auf die ersten Jahre geht er als erfolgreichster Polizei-Reformator in die Zürcher Geschichtsbücher ein.
Massive Kritik von links
Trotzdem kam es bald zur Entfremdung zwischen der Linken und ihrem Polizeivorsteher. Im Zusammenhang mit der Letten-Räumung im Jahr 1995 kratzten regelmässige brutale Übergriffe durch Stadtpolizisten gegen Drogenabhängige und Dealerinnen an Neukomms Image als Gesicht einer liberaleren Polizei. Polizisten prügelten willkürlich auf Süchtige ein, zwangen sie, sich in der Öffentlichkeit nackt auszuziehen, schossen unvermittelt Gummigeschosse in die Leute.
Und am 1. Mai 1996 scheiterte schliesslich Neukomms Vorhaben kolossal, die Situation rund um die Nachdemonstration zu entspannen: Es kam zu schweren Ausschreitungen. Die NZZ schrieb, es «wurde regelrecht um jede Kreuzung gekämpft». Die Polizei schoss Tränengas auf das friedliche Fest auf dem Kasernenareal. Unter den Besucherinnen brach Panik aus. Die Vereinigung unabhängiger Ärzte sprach in einem Schreiben an Neukomm von «lebensbedrohlichen Zwischenfällen».
Die Kritik von links war massiv: Zweitausend Personen demonstrierten unter dem Motto «Stop dem Polizeiterror». Dem Sozialdemokraten, der bei seinem Antritt noch verkündet hatte, überprüfen zu wollen, ob die Polizei Kampfausrüstung überhaupt brauche, wurde der «Aufbau eines Polizeistaates» vorgeworfen. Vor den Stadtratswahlen 1998 fand die NZZ, die Neukomm in der ersten Hälfte der Neunziger bei fast jeder Gelegenheit kritisiert hatte, nun lobende Worte für ihn: Habe Neukomm Mannschaft und Polizeiführung anfangs mit «utopischen Vorstellungen» irritiert, habe er sich als Polizeichef später «pragmatisch und lernfähig» gezeigt.
«Neukomm hat die Stadtpolizei Zürich verändert, und die Polizei hat Neukomm verändert. Den grösseren Wandel hat es aufseiten der Polizei gegeben», sagt der damalige SP-Präsident Koni Loepfe. Die Zürcher Stadtpolizei habe unter ihm gelernt, auch mal «einen Schritt zurück» zu machen, die «Rambo-Mentalität» der Achtziger habe sie weitgehend abgelegt.
Niklaus Scherr, von 1978 bis 2017 im Zürcher Gemeinderat, erst für die POCH, dann für die Alternative Liste, hatte Neukomm stets von links kritisch beäugt. Er mag denn auch in den Lobgesang von Loepfe so nicht einstimmen, zeichnet aber ein differenziertes Bild von Neukomms Wirken an der Polizeispitze: «Neukomm führte das Polizeidepartement in einer schwierigen Phase, als Zürich die Zeit des Kalten Krieges hinter sich liess und die Ära der rot-grünen Mehrheit einsetzte, die bis heute andauert», sagt Scherr. Die Baustellen und Grabenkämpfe seien entsprechend zahlreich gewesen.
Angesichts dessen attestiert Scherr Neukomm durchaus Reformwillen und in einigen Bereichen Loyalität gegenüber linken Anliegen, zum Beispiel, als es um die Abschaffung der politischen Polizei gegangen sei. Scherr sagt aber auch: «Die Ära Neukomm war so etwas wie ein Sozialisierungsexperiment. Nach seiner Amtszeit waren die Spielregeln und der Spielraum eines linken Polizeivorstands in Zürich für die kommenden Jahre abgesteckt.»
Bei jedem Problem ein runder Tisch
Während die Stadtpolizei unter Neukomm gewisse Schritte in Richtung Reform machte, folgte danach ein Backlash. Esther Maurer (SP), politisch im rechten Spektrum ihrer Partei, führte das Polizeidepartement nach ihrem Amtsantritt 1998 wieder wie eine Bürgerliche. Sie machte den Polizeikessel zum Mittel der Wahl und liess beispielsweise am Bahnhof Altstetten Hunderte Fans des FC Basel stundenlang festsetzen, die für ein Auswärtsspiel nach Zürich gereist waren. Maurer habe zwar Workshops veranstaltet, um das Klima innerhalb der Polizei zu verbessern, an der Fehlerkultur hätte das aber rein gar nichts geändert, sagt zum Beispiel Rolf Zopfi, Sprecher der Menschenrechtsgruppe «Augenauf»: «Im Korps ist die Haltung verbreitet, dass Polizisten keine Fehler machen.»
Maurers Nachfolger, der Grüne Daniel Leupi, schuf zu Beginn seiner Amtszeit 2010 einen sogenannten «Echoraum», in dem über sicherheitspolitische Themen gesprochen werden sollte. Gleichzeitig liess der Grüne am 1. Mai 2011 so viele Polizistinnen aufmarschieren wie keiner seiner Vorgänger. Hunderte Personen wurden auf dem Helvetiaplatz eingekesselt und anschliessend in der Kaserne festgehalten, ohne dass es davor zu Delikten gekommen wäre. Der Einsatz beschäftigt mittlerweile den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg.
Dann kam 2013 mit Richard Wolff (AL) ein Mann vom linken Rand des politischen Spektrums: Entsprechend gross waren die Hoffnungen der Linken, er werde das Polizeidepartement reformieren. Doch als er das Departement schliesslich 2018 gegen seinen Willen verlassen musste, trauerte ihm von der linken Seite niemand nach. Wolff, politisch deutlich links von Neukomm positioniert, konnte weder Korps noch Kommando verändern.
Das habe unter anderem mit seiner Naivität zu tun, sagen Kritiker. Klaus Rózsa, der «Intimfeind» der Zürcher Stadtpolizei und ein alter Freund von Wolff, illustriert das mit einer Geschichte, von der Wolff behauptet, dass sie nie stattgefunden habe. Kurz nach seiner Wahl in den Stadtrat habe Wolff an Rózsas Geburtstagsfeier eine Rede gehalten. «Er gab vor den Gästen bekannt, dass ich sein Pressechef werde», sagt Rózsa. Er habe die Idee umgehend zurückgewiesen und Wolff gewarnt, dass er sich mit solchen Aussagen in Schwierigkeiten bringe.
Rolf Zopfi von «Augenauf» bezeichnet den ehemaligen Polizeivorsteher als «harmoniesüchtig». Manuela Schiller, Rechtsanwältin und Parteikollegin von Wolff, sagt, dass dieser die Neigung habe, bei jedem Problem einen runden Tisch zu veranstalten. Wolff selbst stellt sich ein gutes Zeugnis aus: So sei etwa das Racial Profiling unter ihm zurückgegangen und der Umgang mit Demonstrationen sei unter ihm stärker von Augenmass geprägt gewesen.
Sein eigenes politisches Lager will davon jedoch nichts wissen und verweist auf Fussballfans, die in Wolffs Amtszeit weiterhin eingekesselt und kriminalisiert worden seien. Gegenüber der linken Frauenbewegung sei während der Ära Wolff sogar ein deutlich härterer Kurs gefahren worden, sagt Manuela Schiller – ein Kurs, den die Grüne Nachfolgerin Wolffs, Karin Rykart, heute so weiterführt, inklusive «Ablenkungsschlägen» gegen junge Frauen. Bezüglich Racial Profiling hätten die Anstrengungen der Polizei in den letzten Jahren vor allem darauf abgezielt, schlechte Presse zu vermeiden, sagt Zopfi von «Augenauf». Für Betroffene habe sich kaum etwas verändert.
Einzig bei den Hausbesetzerinnen reizte Wolff als Polizeivorsteher das Prinzip der Verhältnismässigkeit: Aber offenbar auch deshalb, weil seine Söhne dort verkehrten. Der Vorwurf der Befangenheit in diesem Dossier sorgte schliesslich für die Versetzung ins Tiefbau- und Entsorgungsdepartement – gegen seinen Willen.
Wer heute das Sagen hat
Unter der amtierenden Polizeivorsteherin Karin Rykart dauerte es nicht lange, bis es zur Ursünde kam. Als Jugendliche am Paradeplatz den Eingang zur Credit Suisse blockieren, werden Dutzende von ihnen verhaftet, es folgen Anzeigen wegen Nötigung und Hausfriedensbruchs. Kein Augenmass, kein Verhältnismässigkeitsprinzip, das man in diesem Kontext von einer Grünen erwartet hätte. Stattdessen das Pochen auf das Legalitätsprinzip: Die Polizeivorsteherin stellte sich auf den Standpunkt, ein solcher Einsatz sei keine Frage einer politischen Haltung – wider die Erfahrung aus der Ära Neukomm, wider die Debatten um ein Urteil eines Lausanner Bezirksgerichts, das nun Strassburg beschäftigt, das die Klimakrise als «rechtfertigenden Notstand» für Aktionen von Klimaaktivisten bezeichnet hatte.
«Die Polizei hat aufgrund des Opportunitätsprinzips ein grosses Ermessen, ob sie bei ihrem Einsatz die Grundlagen für ein Strafverfahren schafft oder nicht, und erst recht bei der Frage, wie konkret sie einfährt», sagt Rechtsanwalt Viktor Györffy, Beschwerdenführer in Strassburg gegen den bereits erwähnten Stadtpolizei-Kessel vom 1. Mai 2011. Das Vorgehen der Polizei greife letztlich in die Grundrechte ein: «Der Entscheid, welche der auf dem Spiel stehenden Interessen wie geschützt werden, hat zwangsläufig immer auch einen politischen Aspekt.»
Eine politische Komponente hat auch ein anderer Schlüsselentscheid: die Wahl des Kommandanten der Stadtpolizei. Dabei änderte sich über die Jahrzehnte, egal, wer dem Korps gerade vorstand, nichts an dessen Profil: Alle Kommandanten konnten bei ihrer Ernennung bereits auf eine Karriere im Polizeiwesen zurückblicken. Alle waren sie Männer. Alle waren sie Bürgerliche. Mit Spannung war deshalb die Wahl des Nachfolgers von Daniel Blumer erwartet worden, der Ende Mai 2022 das Kommando abgibt. Die Stelle war erstmals als 80-Prozent-Pensum ausgestaltet worden, und die Frage stand im Raum, ob nun erstmals eine Frau den Posten übernehmen würde. Die Wahl fiel auf einen Mann: Beat Oppliger. Profil: Siehe oben.
Wer in der Stadtpolizei heute das Sagen hat, machte der Kommandant Daniel Blumer in einem Interview mit der NZZ deutlich. Während Peter Hofacher in der Ära Neukomm schliesslich den Hut nehmen musste, weil er sich nicht bedingungslos hinter seinen Chef stellte, sagte Blumer im Mai 2021 gegenüber der NZZ, dass er die Errichtung alkoholfreier Zonen in Zürich entgegen der Haltung der Polizeivorsteherin als sinnvoll erachte. Dann sagte der Kommandant über seine Chefin: «Letztlich habe ich eine operative Funktion, und Frau Rykart hat eine politische. Manchmal haben wir unterschiedliche Standpunkte. Darüber diskutieren wir auf Augenhöhe.»
Wer so über seine Chefin spricht, empfängt keine Befehle. Er erteilt sie.