Der Schweizer Mauerbau
Am 22. November 1989 wurde die Fichenaffäre öffentlich gemacht. Sie wurde zum nationalen Trauma. In Berlin war die Mauer gefallen, in der Schweiz wurde eine hochgezogen, die bis heute steht.
Ein Essay von Tobi Müller, 22.11.2019
Politik ist manchmal das bessere Theater. Im Herbst 1989 spielte ein Bühnenbild eine wichtige Rolle im letzten nationalen Drama aus dem Kalten Krieg. Es war tatsächlich ein Raum, der die Schweizer Wende auslöste. Eine Szene, die man sich nicht ausdenken kann. Die parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) hat einen Termin unterhalb des Bundeshauses, in der Berner Taubenstrasse, wo alle Fichen gelagert werden, 900’000 Registerkarten auf Papier, die die Bundesanwaltschaft seit 1900 in einer beispiellosen Überwachungswut gesammelt hatte.
Der spätere Bundesrat Moritz Leuenberger, der die PUK leitete, wusste bereits von seiner Arbeit für die Geschäftsprüfungskommission, dass es die Fichen gibt. Das Ausmass aber war ihm nicht bekannt, Einsicht hatte es keine gegeben. Und jetzt stehen die Politikerinnen da drin, im eidgenössischen Archiv der Paranoia. Ein Beamter hält einen Vortrag über die Bedeutung der angelegten Fichen. Doch einige Parlamentarier halten es nicht mehr aus. Sie gehen zu den Registraturen. Sie schauen nach. Einer schreit. Vor Entsetzen.
So beginnt der Lärm im Land, dessen Selbstverständnis einen schweren Knacks bekommt. Wenn man leise ist, hört man den Lärm bis heute.
Der Politiker und der Replikant
Vor zwei Jahren interviewte ich Moritz Leuenberger für mein Theaterstück «Die Akte Bern – Ein Theaterbericht zwischen Fichen und Facebook». Er sagte: «Ich als Präsident der PUK war der Einzige, der sitzen blieb, während der Beamte weiterredete. Es wäre unanständig gewesen, wenn ich auch noch zu den Fichen gegangen wäre.»
Doch wer schrie? Es war Gilles Petitpierre aus Genf. Leuenberger: «Er ist zu seinem Namen gegangen und sah die Fiche seines Vaters, also von Max Petitpierre, dem ehemaligen Aussenminister der Schweiz. Er war hell entsetzt, wie sein freisinniger Vater fichiert wurde. Und diese Entsetzensschreie haben dazu geführt, dass alle bei ihren Bekannten, Freunden oder bei sich selbst nachgesehen haben.» Es wurden also keineswegs nur Linke und Langhaarige überwacht.
Leuenberger wirkt auch fast 30 Jahre danach noch empört. «Ich habe Fichen gesehen, in denen ein sozialdemokratischer Professor seine Studenten bei der Bundesanwaltschaft gemeldet hat, weil er revolutionäre Umtriebe vermutete.»
«Ich habe Fichen gesehen» – das klingt ein bisschen wie das raunende «I’ve seen things …» von Rutger Hauer als Roy Batty, ein künstlicher Mensch im dystopischen Science-Fiction-Film «Blade Runner». Der Politiker Leuenberger und der Replikant Batty haben den Abgrund gesehen. Von «horrenden Funden» spricht Leuenberger weiter, von freisinnigen Eltern, die ihre Kinder meldeten, weil die zu liberal gewesen seien. Und diese Schreie in der Taubenstrasse. Wo Leuenberger aus Höflichkeit sitzen bleibt, während der Berner Beamte einfach weitermacht, als wäre alles wie immer. Keine Fiktion kann so eine Szene toppen, dieser Film wäre zu irre.
Allein: Die Szene wurde noch irrer.
«Die Empörung in der Kommission war völlig parteiübergreifend», erinnert sich Leuenberger. Die PUK tagt nun an wechselnden, kurzfristig angekündigten Orten, SVP-Parlamentarier verlangen abhörsichere Räume, weil sie Angst vor dem eigenen Staatsschutz haben. Die Angst vor Spitzeln und Abhöranlagen schweisst die Kommission zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammen. Bundesbern im Agentenfieber.
Die Rolle von Elisabeth Kopp
Begonnen hatte der letzte Schweizer Krimi aus dem Kalten Krieg 1988, als erste Verdachtsmomente gegenüber Bundesrätin Elisabeth Kopp auftauchten. Hat die FDP-Bundesrätin ihren Mann Hans W. Kopp telefonisch vor Ermittlungen über Drogengeldwäsche in der libanesischen Shakarchi Trading AG gewarnt, in deren Verwaltungsrat der Gatte als Vizepräsident sass? Hat er sogar Akten aus dem Verkehr gezogen? Die erste Bundesrätin der Schweiz, 1984 gewählt, verkündete im Dezember 1988 ihren Rücktritt für Februar 1989, vor allem deshalb, weil sie das Telefonat mit ihrem Mann zu lange geleugnet hatte und dadurch sowohl in der Öffentlichkeit als auch innerhalb ihrer eigenen Partei der Druck zu gross wurde.
Die parlamentarische Untersuchungskommission begann ihre Arbeit im Februar 1989 mit dem möglichst breiten Auftrag, «Vorkommnisse» im Justiz- und Polizeidepartement zu durchleuchten. Die Stimmung war aufgeheizt, viele rätselten, ob die Drogenmafia direkt in der Politik mitredet.
Der PUK-Bericht attestierte der Bundesrätin keine Verfehlungen (das Telefonat zu beurteilen, war nicht Aufgabe der PUK), und das Bundesgericht sprach sie im Februar 1990 auch vom Vorwurf der Amtsgeheimnisverletzung frei.
Zur primären Nachricht wurde der Fund der Fichen. Das schiere Ausmass der Überwachung war selbst im Kalten Krieg überraschend.
War der Staatsschutz durchgedreht? Verhielt er sich wie der Leiter des Federal Bureau of Investigation (FBI), J. Edgar Hoover, dessen Geheimdienst bis in die 1970er-Jahre hinein weisse Linke und afroamerikanische Bürgerrechtler abhörte – und das organisierte Verbrechen weitgehend unbehelligt liess?
Indirekt hatte der Schock über die Fichen sehr wohl etwas mit dem Fall Kopp zu tun: Auf der einen Seite standen die Bundesrätin und der mit ihr verheiratete Wirtschaftsanwalt, welche die enge Verflechtung von Wirtschaft, Militär und Politik verkörperten, ja sogar den Verdacht auf damit verbundene Geldwäsche.
Auf der anderen Seite gab es die akribisch überwachten Lesegrüppli und Moskaureisli. Und die Ficheneinträge waren beileibe nicht so harmlos, wie viele klangen: Der PUK-Bericht hat an mehreren Beispielen gezeigt, wie die Karrieren von Überwachten geknickt wurden – Lehr- oder Lehrerstelle verloren, Dissertation abgelehnt, in die Armut getrieben. Berühmt wurde die Fiche der Thurgauer Nationalrätin Menga Danuser: «lebt zusammen mit Schwarz Kurt 42 und trinkt abends gerne ein Bier!». Viele haben das als Beweis gewertet, wie lächerlich die Einträge doch seien. Ein Irrtum. Leuenberger: «Das war ein Code. Man hat sie damit beschuldigt, Alkoholikerin zu sein.»
Die unerhörte Volksinitiative
Wir glauben heute, in hyperbeschleunigten Zeiten zu leben. Doch die Ereignisse im Schweizer Herbst 1989 schossen wie Raketen in den helvetischen Himmel. Nur vier Tage nach der Pressekonferenz der PUK, an der der Bericht über die Fichen präsentiert und die alte Schweiz vorgeführt wurde, stimmte der Souverän über eine unerhörte Volksinitiative ab: «für die Abschaffung der Schweizer Armee». Dass rund eine Million Stimmbürgerinnen auf dieses Ansinnen mit Ja antworteten (35,6 Prozent), war ein brutaler Kinnhaken für das bürgerliche Establishment, auch wenn die Initiative deutlich abgelehnt wurde.
Und so ging es weiter. Gegen die bevorstehende 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft von 1991 organisierte die Linke den Kulturboykott. Und während mit der sogenannten Diamantfeier, welche die Mobilmachung von 1939 mit Volksfesten für die 1989 noch lebende Aktivdienstgeneration beging, gegen die anstehende Armeeabschaffungsinitiative PR gemacht werden sollte, glaubten noch nicht einmal mehr alle Soldaten daran, dass die Schweiz wegen ihrer Armee einer Besetzung durch Nazideutschland entgangen sei.
Ideologisch lag die Schweiz der Nachkriegszeit nach diesen Donnerschlägen am Boden. Falsch: Jedes andere Land wäre am Boden gelegen. Jakob Tanner, der Zürcher Historiker, nannte es eine «Kaskade von Ereignissen, die einiges zum Einsturz brachte». Und setzte nach in einem Gespräch: «Man kann aber sagen, dass der Nachhall dann doch sehr verhalten war. Die Schweiz lernt langsam.»
Was geschieht, wenn solche Einschnitte, die das Selbstverständnis eines Landes zerfurchen, keinen Heilprozess nach sich ziehen? Muss man von Verdrängung sprechen? Und was wären die Symptome?
Meine These ist, dass die gescheiterte Bewältigung in doppelter Weise tiefe Spuren hinterlassen hat: Die Schweiz hat im Herbst 1989 die Beziehung zu ihren öffentlichen Intellektuellen gekappt. Und die Intellektuellen haben sich von der Beschäftigung mit diesem Land in erstaunlichem Masse verabschiedet. Erst langsam beginnen Historiker, sich mit dieser Zeit des Umbruchs in der Schweiz zu beschäftigen. Dass es heute nur so wenige starke Positionen gibt in der intellektuellen Selbstreflexion der Schweiz, dürfte letztlich auf diese verdrängte Wunde vom Herbst 1989 zurückgehen.
Was lief schief in der Verarbeitung der Tatsache, dass die Schweiz einen Überwachungsstaat ausgebildet hatte, der die kühnsten Albträume linker Verschwörungstheoretiker übertraf? Dass ihre Armee Millionenbeträge für Volksfeste ausgab, mit denen gegen eine Volksabstimmung mobilisiert werden sollte, und dass das Land derweil in der Hand von korrupten Seilschaften aus Freisinn, Wirtschaft und Militär zu sein schien? Es ist wie bei einer körperlichen Wunde auch: Am wichtigsten für die gute Vernarbung ist die Behandlung unmittelbar nach der Verletzung. Doch in der Schweiz wurde nichts genäht.
Der Anspruch der Linken
Der Schriftsteller Adolf Muschg sprach an der grossen Demo vom 3. März 1990 in Bern von Aufräumen: «Die Fichenaffäre hat eine unerträgliche Demokratie-Verspätung aufgedeckt; und das Aufräumen wird nochmals eine Unmasse kostbarer Zeit und Energie verschlingen.» Das sei nötig, damit «dieses Land etwas von seiner Selbstachtung» zurückgewinne.
Muschg, ein klassischer Verfassungspatriot, der wohl lieber an 1848 erinnert hätte, sagte das im Hinblick auf die 700-Jahr-Feier von 1991. Der Titel der Demo, auf der er sprach, enthielt allerdings bereits die erste Antwort darauf, warum die Aufarbeitung des helvetischen 89 in der linken Nische verhallen sollte. Die Veranstaltung hiess «Schluss mit dem Schnüffelstaat».
Das war klassische linke Rhetorik, die damit gleich die ganze Regierung diffamierte. Das musste die Bürgerlichen befremden, die sich mit dem Anliegen hätten solidarisieren können. Die Pantomimen, die Clowns, die Schnüffler-Verkleidungen: Die Demo sah aus wie in einem alternativen Kulturzentrum.
So sicherte sich die Linke das Primat des Überwachtwerdens symbolpolitisch genau zu jenem Zeitpunkt, als ihr Selbstverständnis mit dem Ende des real existierenden Sozialismus gewaltig wackelte. Die linken Schriftsteller, Journalisten, Künstler und Intellektuellen leiteten unter Federführung der WOZ den Kulturboykott der anstehenden 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft ein. Der Leiter dieser Feierlichkeiten, Marco Solari, war zwar der erste Schweizer Kommunikator neuen Typs, verständnisvoll und inklusiv, eigentlich der ideale Mann, um die verstörten Kultureliten wieder ins Boot zu holen. Doch es nützte nichts. Wer wollte sich einbinden lassen – und sei es als kritischer Künstler – in einen Staat, der einen dermassen überwacht hatte?
So blieb vom parteiübergreifenden Schock und vom eigentlich sehr breiten gesellschaftlichen Konsens gegen Überwachung zunächst einmal nur eines übrig: die schlechte Laune auf der Linken. Die konnte man in der Schweiz schon immer an den Rand drängen. Die Schweiz reformierte den Staatsschutz ein bisschen, Papier war keins mehr nötig, die Registratur wurde digital. Und selbst die Kulturlinken von damals haben mit den Jahren das Thema vergessen. Sie waren jedenfalls nirgends zu sehen, als die Schweiz 2017 weitgehende Befugnisse zur Erfassung von Metadaten durchsetzte.
Ab den Neunzigerjahren sind die Intellektuellen, die sich öffentlich äussern, an einer Hand abzuzählen. Eine kurze Liste: Adolf Muschg hat es noch ein paarmal versucht; Peter Bichsel hat schöne Kolumnen geschrieben; Kurt Imhof avancierte zum gewitzten Mediensoziologen, sprach über die Medien und in den Medien, so omnipräsent, dass man manchmal hätte denken können, es gäbe keine anderen Intellektuellen mehr als Imhof (er starb viel zu früh 2015); als Nachgeborener avancierte Lukas Bärfuss zum unerschrockenen Schriftsteller in politischer Mission – und wirkte damit schon beinahe altmodisch.
Diese Abnabelung der Intellektuellen von der Schweiz hatte auch noch einen anderen Grund: Die schärfsten Kritiker sollten schon bald für immer verstummen. Dürrenmatt schrieb unter dem Eindruck des Fichenskandals seine berühmte Rede «Die Schweiz – ein Gefängnis» und starb im Dezember 1990; Frisch war im März 1990 gesundheitlich zu schwach, um an der Demonstration gegen den «Schnüffelstaat» teilzunehmen, liess aber eine kurze Rede verlesen, in der er der Regierung das Vertrauen entzog. Ein paar Monate später erhielt er, deutlich schneller als andere, seine Fiche, die er wie eine Collage kommentierte. Es wurde sein letztes, erst vor zwei Jahren veröffentlichtes Werk, «Ignoranz als Staatsschutz?». Frisch fühlt sich erniedrigt, weil man ihn so dilettantisch überwachte. Er korrigiert seine Spitzel, was nicht ohne Komik ist. Im Frühling 1991 stirbt auch Frisch.
Die Schweiz geht und kehrt als Swissness zurück
Die schillerndste Figur der furchtlosen Schweiz trat im September 1993 freiwillig ab: Niklaus Meienberg, Journalist, Autor, Filmemacher. Sein Suizid wirkt heute, als hätte jemand den Klavierdeckel der lustvoll hässigen Schweiz mit Wucht zugeschlagen.
Die Schweiz war kein Thema mehr. Sie sollte schliesslich als Swissness zurückkehren, als kommerzielles Branding von Produkten. Und als händeringender Versuch von Kulturstiftungen, das eigene Land nicht dem rechten Nationalismus zu überlassen und auch links nicht aus dem Blick zu verlieren.
Noch 2007 bringt der Rapper Kutti MC, bürgerlich der Schriftsteller Jürg Halter, das Verhältnis im Track «St. Helvetia» auf den Punkt: «Schwiiz, du bisch keis Thema, aber i stah unger Zugzwang, tusigi Stiftige biete mir Gäut a, falls i mi usenandersetz mit mire Heimat.» Tatsächlich warb die Kulturstiftung Pro Helvetia mit vielen Projekten um etwas Aufmerksamkeit seitens der Künstler, zur Not oder sogar vorzugsweise auch kritische.
Die Landesausstellung Expo 01 konnte im Verlauf der späten Neunzigerjahre unter diesen Voraussetzungen nur ein Murks werden. Weil es auf einmal abwegig schien, zur Schweiz irgendeine Fantasie zu entwickeln. Immerhin, die auf dem globalen Markt schon damals gut aufgestellte Videokünstlerin Pipilotti Rist als künstlerische Leiterin zu installieren: Das knallte.
Doch die typische Neunziger-Crossover-Idee, eine global agierende Künstlerin auf das provinzielle Parlament loszulassen und umgekehrt und so eine Landesausstellung auszurichten, musste scheitern. Der umsichtige Kurator Martin Heller räumte auf. Das Sinnbild für die um ein Jahr verschobene Expo.02: die Wolke in Yverdon-les-Bains, 100 Meter lang und begehbar, 30’000 Düsen versprühen Nebel. Als Brillenträger ist man sofort blind.
Gibt es eine bessere Metapher für den Zustand der intellektuellen Öffentlichkeit in der Schweiz?
Übrigens, wo wir gerade von Pipilotti Rist sprachen: Hat jemand nach Frauen gefragt?
Natürlich ging es im Herbst 1989 auch um Gender, um Geschlechterungleichheit. Aber wie genau?
Die bösen, linken «Monopolmedien»
Die liberale Genfer Philosophin Jeanne Hersch schaltete sich in die Diskussion ein mit Zeitungskommentaren und Anfang 1991 auch mit dem Sammelband «Rechtsstaat im Zwielicht: Elisabeth Kopps Rücktritt». Hersch, von Haus aus Sozialdemokratin, attackierte die Medien, sprach von «Hexenjagd» und stellte die damals provokative Frage, ob Elisabeth Kopp von den Medien geopfert wurde, weil sie eine Frau war.
Die Historikerin Dorothee Liehr tendiert 2014 in «Skandal & Nation – Politische Deutungskämpfe in der Schweiz 1988–1991» dazu, den Fall Kopp durch die Brille der Geschlechterungerechtigkeit zu sehen. Das ist, von heute aus gesehen, tatsächlich verführerisch. In diesem Wahljahr erlebte die heute 82-jährige Alt-Bundesrätin als eine Art symbolische Schutzherrin der «Helvetia ruft!»-Kampagne, die sich zum Ziel setzt, den Frauenanteil in der Politik zu erhöhen, so etwas wie eine späte feministische Konsekration.
Wenn man allerdings das Büchlein von Jeanne Hersch zur Hand nimmt, kommt man von einer genderbewussten Interpretation der Vorgänge wieder etwas ab.
FDP-Alt-Bundesrat Rudolf Friedrich skizziert in dem Sammelband eine Medienlandschaft der «Monopolmedien». Die SRG nennt er «scheindemokratisch», ehrenamtliche Delegierte von Parteien seien den «dialektisch bestens geschulten und zielstrebig wirkenden Inhabern monopolgeschützter Machtpositionen hoffnungslos ausgeliefert».
Für die Nachgeborenen muss man Friedrichs Rhetorik übersetzen, die auch 1991 noch tief im Kalten Krieg steckt: Der von Jeanne Hersch berufene Medienkritiker sagt, Radio und Fernsehen seien kommunistische Nester und Zentralen der Indoktrination.
Seit 1988 hiess der Fernsehdirektor Peter Schellenberg, ein ehemaliger Sozialdemokrat mit etwas zu langem Haar. Ein Kommunist war Schellenberg mitnichten. Dass auch viele 68er in den Nachrichtenredaktionen sassen, ist unbestritten. Wer sich aber im SRG-Archiv die unterwürfigen Abfrage-Interviews, die bis weit in die Siebzigerjahre hinein der Standard waren, und den autoritären Habitus vieler Politiker ansieht, die ungestört alles verlautbaren konnten, was sie nicht anders kannten vom Militär oder aus ihrem Arbeitsleben, ist froh um ein paar Linke, die Fragen stellten. Wenn eine politische Mehrheit – und das sind die bürgerlichen Parteien in der Schweiz bis heute – mehr «Ausgewogenheit» verlangt, meint sie mehr Wohlwollen und weniger Kritik.
Bürgerlicher Machtkomplex vs. linker Kulturbetrieb
Was unter «Ausgewogenheit» noch so zu verstehen ist, zeigt in Jeanne Herschs «Rechtsstaat im Zwielicht» auch der Beitrag von Sigmund Widmer, dem ehemaliger Zürcher Stadtpräsidenten (1966–1982), der die Affäre Kopp gleich in einen weltgeschichtlichen Zusammenhang stellt. «Vor 3000 Jahren schon kannten die Israeliten den Sündenbock, den man in die Wüste schickte.» Früher habe das besser geklappt, als die Aggression nach aussen gerichtet werden konnte: «So wie man zur Nazizeit das Böse auf Berlin projizierte, so ortete man es nun in Moskau.» Die Schweizer brauchen halt einen Sündenbock, auf den sie ihren Frust projizieren: mal ist es Hitler, mal Stalin, mal Elisabeth Kopp. Echt gemein, diese Monopolmedien.
In dem Band von Jeanne Hersch von 1991 konnten solche Peinlichkeiten als Debattenbeiträge durchgehen. Waren keine besseren Liberalen oder Bürgerlichen aufzutreiben, um den Medienmachern die Leviten zu lesen? Tatsächlich konnte man damals als junger Mensch den Eindruck haben, es gebe rechts von der Linken keine Intellektuellen im Land.
Dem bürgerlichen Machtkomplex aus FDP, Wirtschaft und Militär, den die Kopps repräsentierten, stand aber ein gut ausgestatteter linker Kulturbetrieb gegenüber. Damals konnten Leute noch von Büchern leben, weil die Verkaufszahlen breiter gestreut und für Belletristik viel höher waren als heute. Noch in den entlegensten Gemeinden veranstalteten Kulturkommissionen Lesungen. Sogar in mittleren Städten wurden eilig Jugendzentren geschaffen, weil der Schock der Zürcher Krawalle von 1980 noch tief sass und man lieber präventiv für gute Stimmung sorgte. Viele Kulturschaffende (auch Bands) genossen ein Standing, das heute schwer vorstellbar ist.
Erleben wir die Anfänge einer neuen Zeit?
Die Rhetorik verriet viel über dieses Selbstverständnis: Als an der «Schnüffelstaat»-Demo im März 1990 ein autonomer Block randalierte und Autos brannten, sah man Franz Hohler, wie er auf der Bühne «traurig» war und seine Sanktion gegen den Gewaltausbruch aussprach: «Mein Cello bleibt im Kasten.»
Krass, das Cello bleibt im Kasten!
Die Kulturlinken litten allerdings auch deshalb an Selbstüberschätzung, weil der zivile Machtkomplex sie so lange zur echten Gefahr stilisiert hatte. Gerade Franz Hohler konnte davon ja, mit oder ohne Cello, ein Lied singen. 1983 wurde eine armeekritische Folge seiner Satiresendung «Denkpause» vor der Ausstrahlung abgesetzt. Und die Fichenaffäre, so sehr sie die linken Intellektuellen kränkte, unterstützte sie auch im Gefühl der eigenen Wichtigkeit.
Heute erleben wir da vielleicht die Anfänge einer neuen Zeit. Bärfuss meldet sich oft über deutsche Bande zu Wort und dürfte das als Träger des Büchner-Preises jetzt noch effektvoller machen. Ein klassischer Move Schweizer Autoren seit Gottfried Keller. Die Sängerin Sophie Hunger kommentiert ihre Heimat aus einer Expat-Perspektive, während der globale Theatermacher und Schweizer Kolumnist Milo Rau das Kunststück draufhat, freundlich und doch politisch radikal aufzutreten. Sibylle Berg lebt vermutlich länger in Zürich, als sie je in Deutschland war, und hat dennoch einen Sonderstatus, wenn sie sich zu politischen Themen zu Wort meldet wie beim Referendum gegen Sozialdetektive.
Ah, ja, und die Filmemacherin und Drehbuchautorin Güzin Kar wäre sicher auch noch ein Beispiel einer Kulturschaffenden, die sich in Diskussionen einmischt. Sie purzeln jetzt langsam, die Namen unerschrockener öffentlicher Stimmen – Franziska Schutzbach, Jonas Lüscher, Jacqueline Badran, Melinda Nadj Abonji, Guy Krneta.
Doch wenn ich meine Freunde frage, die im Gegensatz zu mir auch in der Schweiz leben, fallen vor allem Namen von Journalistinnen. Es ist der logische Endpunkt einer Entwicklung, die ebenso Ende der Achtzigerjahre begann, besonders in der Berichterstattung zur Kopp-Affäre: Plötzlich traten die Journalisten selbst in der Funktion von Experten in Gesprächen auf. Wohl auch deswegen verschwanden die Geistesgrössen von den Schirmen und aus den Spalten. Der Mauerfall zwischen den Schweizer Intellektuellen und der Öffentlichkeit muss 30 Jahre nach 1989 erst noch stattfinden.
Tobi Müller ist Kulturjournalist und Autor in Berlin. Er schreibt über Pop- und Theaterthemen. Für die Republik hat er zuletzt über die Rolle der Berliner Theater beim Mauerfall in Deutschland geschrieben.