Zürich forscht
Die Bührle-Sammlung bringt die Zürcher Stadtregierung in die Defensive. Haben Stadt, Kanton, Bührle-Stiftung und Kunsthaus die Forschungsarbeit der Universität Zürich geschönt, um die Sammlung des Nazi-Kanonenkönigs weisszuwaschen? Serie «Bührle-Connection», Teil 3.
Von Daniel Binswanger, 06.11.2021
Mit Krisenkommunikation kennt man sich jetzt aus im Zürcher Kunsthaus. «Die Sammlung des Waffenhändlers» («Süddeutsche»), «A Nazi legacy haunts a museum» («New York Times»), «Le Kunsthaus de Zurich contaminé par l’histoire» («Le Monde»): Die Flut an internationalen Negativschlagzeilen, die Bührle im Kunsthaus der Stadt Zürich beschert, ist ein epochales Desaster.
An der offiziellen Pressekonferenz zur Eröffnung des Chipperfield-Baus am 6. Oktober tat Kunsthaus-Kommunikationschef Björn Quellenberg aus Sicht des Hauses das einzig Richtige: Nach drei Fragen brach er ab. Noch mehr schlechte Stimmung wäre an der als Festakt gedachten Veranstaltung Stadtpräsidentin Corine Mauch, Ex-Kunstgesellschaft-Präsident Walter Kielholz und Kunsthausdirektor Christoph Becker kaum zumutbar gewesen. Ganz zu schweigen vom verdattert wirkenden David Chipperfield, dem Architektur-Weltstar, dem erst allmählich zu dämmern schien, in welch üble Geschichte er da hineingestolpert war in der Zürcher Provinz.
Die erste Frage betraf die jungen Frauen, die gemäss Enthüllungen des «Beobachters» in den 1950er- und 1960er-Jahren in der Ostschweiz für Spinnereien im Besitz von Emil Bührle unbezahlte Zwangsarbeit leisten mussten und nie irgendeine Form der Wiedergutmachung erhielten, keine finanzielle Entschädigung, keine Entschuldigung von den Bührle-Erben, nichts. Die zweite Frage stellte die Republik, und sie betraf die Textilbetriebe, die Bührle – gemäss weiteren Enthüllungen des «Beobachters» – 1941 jüdischen Unternehmern, die aus Deutschland fliehen mussten, zu Schleuderpreisen abknöpfte. Die dritte Frage betraf den Versuch, die sogenannte Leimgruber-Studie – eine Untersuchung über Emil Bührle als Waffenhändler und Sammler – zu beeinflussen und die Wissenschaftsfreiheit zu beschneiden.
Es hätte noch so viele ätzende Fragen gegeben. Zu einzelnen Fluchtkunstwerken, die jetzt in den Sälen des Erweiterungsbaus hängen; zum Leihvertrag, der bis heute geheim gehalten wird; zur Bührle-Privatbank IHAG, in deren Umfeld schwerste Steuervergehen weiterhin für Schlagzeilen sorgen; zum sogenannten Dokumentationsraum im neu eröffneten Bau. Hausherr Becker erklärte gönnerhaft: «Fragen Sie alles, was Sie wollen!»
Doch Quellenberg liess die Gnade des Abbruchs walten. So kurz die Pressekonferenz auch war, sie hatte einen Höhepunkt: die Frage zum Leimgruber-Bericht. Steht er für das Bemühen um Aufklärung? Oder ist er bloss ein Alibi?
Dieser Frage geht der dritte Teil der Recherche nach.
Emil Bührle, grösster Nazi-Waffenlieferant im Zweiten Weltkrieg, schrieb eines der dunkelsten Kapitel der Schweizer Kriegsschuld. Der Transfer seiner Sammlung ins Zürcher Kunsthaus ist ein Akt kollektiver historischer Verdrängung. Zur Übersicht.
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Zürich forscht
Interview
«Sie haben uns ins Gesicht gelacht»
Wissenschaft mit Steuerung
Vor allem für eine der Anwesenden an der Pressekonferenz sind die Einsätze denkbar hoch: Zürichs Stadtpräsidentin Corine Mauch. Sie hat den Umzug der Bührle-Sammlung ins Kunsthaus politisch zu verantworten. Sie brachte den Erweiterungsbau durch die Volksabstimmung. Sie sass am Tisch, als der Leihvertrag unterzeichnet wurde. Übersteht ihre Glaubwürdigkeit den Bührle-Skandal?
Bei allem Gegenwind zeigte sich Mauch kampfeslustig an der Eröffnung. Und liess keinen Zweifel daran, wo sie ihre Verteidigungslinie zieht im Streit um das Erbe des Kanonenkönigs: beim Leimgruber-Bericht.
Die Studie mit dem offiziellen Titel «Kriegsgeschäfte, Kapital und Kunsthaus» ist das Resultat eines Forschungsprojekts zur Bührle-Hinterlassenschaft, mit dem Matthieu Leimgruber, Professor für Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich, im Sommer 2017 betraut wurde. Im November 2020 wurde der Schlussbericht veröffentlicht. Stadt und Kanton Zürich haben die Studie mit insgesamt 180’000 Franken finanziert. Allerdings fungierten nicht nur Stadt und Kanton als sogenannte «Projektpartner», sondern – ohne dass sie sich finanziell engagiert hätten – auch die Zürcher Kunstgesellschaft, das Kunsthaus und die Bührle-Stiftung.
Das bedeutete unter anderem, dass die Forschungsarbeiten für den Bericht von einem «Steuerungsausschuss» überwacht wurden, einem nicht weniger als achtköpfigen, mit allen Stakeholdern besetzten Gremium. Darin hatten neben der Stadt (mit Stadtpräsidentin Corine Mauch sowie dem damaligen Kulturdirektor Peter Haerle) und dem Kanton (Regierungsrätin Jacqueline Fehr und die Leiterin Fachstelle Kultur Madeleine Herzog) auch die Bührle-Stiftung (Christian Bührle und Lukas Gloor), die Kunstgesellschaft (Walter Kielholz) und das Kunsthaus (Christoph Becker) Einsitz. Der hochkarätig besetzte Ausschuss zeigt: Die Steuerung der Wissenschaft war Chefsache. Regelmässig wurde dem Ausschuss der neueste Stand der Arbeiten vorgelegt.
Im Sommer 2020 gabs allerdings Ärger. Es begann damit, dass Ende Januar 2020 Leimgrubers Mitarbeiter Erich Keller, der als Berichtsautor angestellt war – gemäss vertraglicher Regelung sogar als hauptverantwortlicher Erstautor –, im Unfrieden aus dem Projekt ausschied. Daraufhin wurde ihm im Mai eine erste Schlussversion des Berichts zur Durchsicht vorgelegt, und Keller musste feststellen, dass der von ihm verfasste Text an entscheidenden Stellen abgeändert worden war – unter anderem, so stand sofort die Vermutung im Raum, aufgrund von Eingriffen der Interessenvertreter im Steuerungsausschuss. Zudem bekamen zuvor noch nicht ausformulierte Teile des Berichts inhaltlich eine völlig neue Konzeption. Keller zog daraufhin die Erlaubnis zurück, den Text unter seinem Autorennamen zu publizieren.
Im August machte die Wochenzeitung WOZ die Affäre publik. Und dann war erst mal Feuer im Dach. Die Zürcher Grünen bezeichneten in einer Fraktionserklärung die Einflussnahme als «absolut inakzeptabel». Wurde tatsächlich von der Zürcher Präsidialabteilung und von der Bührle-Stiftung in die Forschungsresultate eingegriffen? Aus erinnerungspolitischen Motiven die Wissenschaftsfreiheit missachtet? Der Vorwurf wog schwer: Zum ersten Mal wird die Bührle-Sammlung mit öffentlicher Finanzierung und von unabhängiger Seite erforscht werden – und dann sollen Forschungsresultate manipuliert worden sein?
Ein Projekt wird weissgewaschen
Um diesen Vorwürfen von Erich Keller zu begegnen, hatte die Universität Zürich bereits Ende Juli 2020 die Provenienzforscherin Esther Tisa Francini sowie den emeritierten Geschichtsprofessor Jakob Tanner (der gelegentlich auch für die Republik schreibt) mit Reviews der Forschungsarbeiten beauftragt. Am 1. Oktober 2020 publizierte das Rektorat eine in triumphierendem Ton gehaltene Stellungnahme mit den Resultaten der beiden Gutachten.
Die Vorwürfe von Keller seien «nachweislich falsch». Der Leimgruber-Bericht sei von «hoher wissenschaftlicher Qualität». Der Arbeitsprozess habe, in den Worten Tanners, «dem Modus einer freien Forschung» entsprochen. Überhaupt sei der Streit um den Text nur deshalb ausgebrochen, weil Erich Keller mangelnde Bereitschaft gezeigt habe, «im Team und im Dialog an der Studie zu arbeiten». Unterzeichnet war die Stellungnahme von Christian Schwarzenegger, Prorektor der Universität Zürich.
Zwar kritisierten die beiden zugezogenen Expertinnen, dass es ein Fehler gewesen sei, einen Steuerungsausschuss einzusetzen. Doch der Leimgruber-Bericht als solcher wurde von der Leitung der Zürcher Universität und zwei der prominentesten ehemaligen Mitglieder der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg vollständig rehabilitiert.
Damit war scheinbar alles geregelt – zumindest fast.
Irritierend wirkte, dass die Universitätsleitung die Auftragsarbeit von Professor Leimgruber im Blitztempo von allen Verdächtigungen reingewaschen hatte. Noch irritierender wurde dieser Vorgang, als im September 2021 «Das kontaminierte Museum» erschien, die mit Abstand wichtigste Analyse zur Integration der Bührle-Sammlung ins Kunsthaus. Der Autor des aufsehenerregenden Buches: ebenjener Erich Keller, den die Universität und die beiden wissenschaftlichen Reviewer knapp ein Jahr zuvor mit aller Härte disqualifiziert hatten.
Kellers brillant geschriebener Essay leistet all das, was die Leimgruber-Studie in ihrer heutigen Form unterlässt. Er entwickelt eine kritische Perspektive auf die problematischen Grundlagen der hausinternen Bührle-Provenienzforschung. Er vollzieht eine Einordnung der symbolischen Bedeutung der Kunsthaus-Integration der Bührle-Sammlung in die Schweizer Erinnerungspolitik seit den 1990er-Jahren. Er zeigt am Beispiel des Gemäldes «Paysage» von Cézanne, dass die Bührle-Stiftung weiterhin Fluchtkunstwerke enthält, von denen seriös abgeklärt werden müsste, ob sie überhaupt legitimer Besitz der Stiftung sind. Und er führt den Nachweis, dass sich die hausinterne Bührle-Provenienzforschung mit manipulativen und unlauteren Methoden gegen entsprechende Nachforschungen abzusichern versucht.
«Das kontaminierte Museum» dominiert heute berechtigterweise die Bührle-Debatte, sowohl in der Schweiz als auch international wird das Werk intensiv rezipiert. Der Leimgruber-Bericht hingegen enthält zwar durchaus interessante Erkenntnisse, bleibt jedoch von dröhnender Irrelevanz. Theoretisch hätte er, so war es eigentlich geplant, Verwendung finden sollen als wissenschaftliche Grundlage des Bührle-Dokumentationsraums im neuen Kunsthaus. Unter der Ägide von Direktor Christoph Becker wurde dort nun aber ein Kuriositätenkabinett mit sorgfältig kuratiertem Realitätsbezug geschaffen. Sonderforschungen der Universität Zürich wären dafür kaum notwendig gewesen.
Der Schluss drängt sich auf, dass der Bericht von Matthieu Leimgruber letztlich nur noch eine Aufgabe erfüllt, eine einzige: Er erlaubt es den politischen Verantwortungsträgerinnen, zu erklären, sie hätten ihrer Aufarbeitungspflicht Genüge getan. Mit der Imprimatur von Esther Tisa Francini und Jakob Tanner darf zudem behauptet werden: Grundsätzlich ging alles mit rechten Dingen zu.
Es verwundert deshalb nicht, dass Corine Mauch an der denkwürdigen Pressekonferenz den Leimgruber-Bericht mit grösster Verve kommentierte. «Die Unabhängigkeit der Forschung war jederzeit gewährleistet, jederzeit!», sagte die Stadtpräsidentin mit vor Entrüstung leicht bebender Stimme. «Externe Expertisen» – gemeint waren die Reviews – hätten bestätigt, dass die Forschung der Best Practice entsprochen habe.
Es scheint das eherne Gesetz der Bührle-Connection mit Zürich zu sein: Wenn Stadtpräsidentin Mauch ihre Hand ins Feuer legt für Aufklärung, wissenschaftliche Aufarbeitung und den kritischen Umgang mit der belasteten Vergangenheit, sind die Vorgänge, wie sie sich tatsächlich zugetragen haben, de facto völlig anders gelagert.
In der Defensive
Recherchen zeigen, dass die Forschungsfreiheit im Fall Bührle nicht respektiert worden ist. Im Gegenteil: Die Staatsorgane haben mit äusserst ruppigen Methoden versucht, sie aktiv zu unterbinden. Dokumente, die der Republik vorliegen, belegen gravierende Übergriffe.
Das Forschungsprojekt stand von Anfang an unter einem unguten Stern. Es ging den Auftraggeberinnen von Stadt und Kanton in erster Linie nicht um Erkenntnisgewinn, sondern um einen Befreiungsschlag. Sie ergriffen die Initiative nicht aus freiem Antrieb, sie reagierten auf heftigen Druck. Stadt und Kanton waren nach der Publikation des «Schwarzbuchs Bührle», das 2015 vom ehemaligen Kunsthaus-Vizedirektor Guido Magnaguagno und vom Historiker Thomas Buomberger herausgegeben worden war, in die Defensive geraten. Im Zürcher Stadtparlament wurde aus der SP-Fraktion heraus – 2015 gab es in der Stadtzürcher SP dafür noch genügend Rückgrat – ein Vorstoss lanciert, der den Stadtrat dringend zum Handeln aufforderte.
Die politischen Verantwortungsträgerinnen hatten bis dahin geglaubt, man könne der Forderung nach Aufarbeitung mit dem Versprechen genügen, dass im neuen Kunsthaus, sei es erst eröffnet, die Bührle-Sammlung angemessen kontextualisiert und eine «Plattform für Aufklärung und Vermittlung» geschaffen werde. Angesichts der aufkochenden Empörung schien es nun jedoch angezeigt, dieses Versprechen subito konkreter werden zu lassen. Jetzt musste ein wissenschaftlicher Bericht her: die Leimgruber-Studie.
Die Stadtregierung hatte allerdings ein Problem. Wie die Republik in Teil 1 dieser Recherche aufgezeigt hat, war sie aufgrund sorgfältig geheim gehaltener Klauseln des Leihvertrags mit der Bührle-Stiftung gar nicht dazu berechtigt, die entscheidenden Fragen zur belasteten Sammlung zu erforschen. Die Stiftung allein war zu Provenienzforschung autorisiert.
Wie soll man die Geschichte einer Kunstsammlung kritisch aufarbeiten, wenn nicht abgeklärt werden darf, ob Bührles Erben auf die Werke, die sich in dieser Sammlung befinden, überhaupt einen legitimen Besitzanspruch haben? Wie kann man seinen Willen zur Aufklärung beweisen, wenn man in entscheidenden Belangen zu Aufklärung nicht berechtigt ist?
Mit dem Segen der Stiftung
Not macht erfinderisch: Der Forschungsauftrag wurde bekanntlich vergeben, allerdings unter explizitem Ausschluss der Provenienzforschung aus dem Forschungsmandat. Das erlösende Zauberwort hiess «Kontextualisierung». Unter die Lupe genommen werden sollte nicht die Sammlung von Emil Bührle, sondern der soziale und wirtschaftliche «Kontext». Die Analyse dieser Zusammenhänge hätte auch tatsächlich interessante Erkenntnisse hervorbringen können. Allerdings wäre die Voraussetzung dafür gewesen, dass sie nicht von Anfang an die Rolle eines Feigenblatts erfüllt.
Es war jedoch nicht so, dass die Forschungsarbeiten von der ungewöhnlichen Ausgangssituation nicht geprägt worden wären. Bereits am 10. Juli 2017, an der ersten Sitzung des Steuerungsausschusses, deren Protokoll der Republik vorliegt, werden in dieser Hinsicht alle Zweifel ausgeräumt. Unter Traktandum 3 wird informiert, dass der Projektauftrag von Stadt und Kanton gemeinsam mit dem Forschungsleiter Professor Leimgruber in einem mehrstufigen Prozess ausgearbeitet worden sei. Dann folgt der Zusatz: «Die vorliegende Version wurde zudem von Lukas Gloor gutgeheissen.»
Dass Lukas Gloor, der Direktor der Bührle-Stiftung, während langer Jahre quasi ein Forschungs- und Deutungsmonopol auf die Stiftungssammlung hatte, wird im «Schwarzbuch Bührle» scharf kritisiert. Die exklusive Definitionsmacht von Gloor war gewissermassen der Grund, weshalb als unabhängige Alternative ein Forschungsprojekt der Universität Zürich ins Leben gerufen werden musste. Aber wer segnete das Mandat des «unabhängigen» Leimgruber-Forschungsteams letztlich ab? Lukas Gloor.
Auf Anfrage der Republik legt der Bührle-Stiftungsdirektor Wert auf die Feststellung, dass er den Forschungsbericht nicht gutgeheissen, sondern «in zustimmendem Sinn vom Forschungsauftrag Kenntnis genommen» habe. Der ehemalige Zürcher Kulturdirektor Peter Haerle sagt in einer Stellungnahme, er habe den Entwurf des Auftrags allen Mitgliedern des Steuerungsausschusses geschickt. Seltsam ist nur: Weshalb wurde im Protokoll ausschliesslich die Zustimmung der Bührle-Stiftung festgehalten?
Es wäre jedenfalls ein Irrtum zu glauben, man habe das Mandat als reine Formsache behandelt. Das zeigt zum Beispiel das Protokoll der Ausschusssitzung vom 29. Januar 2019. Es enthält einen auf den ersten Blick banal anmutenden Eintrag: «In seinem Werkstattbericht erzählt Prof. Leimgruber von verschiedenen Begegnungen mit Fachleuten zum Thema Provenienzforschung.» Der nächste Abschnitt ist überraschender: «Nachtrag: Peter Haerle hat den Forschungsauftrag noch einmal gelesen und hält fest: Im Forschungsauftrag, der von beiden Seiten unterschrieben worden ist, ist die Provenienzforschung explizit vom Auftragsvolumen ausgeschlossen. Der Auftrag beschränkt sich auf die wirtschaftshistorische Kontextualisierung des Sammlers Emil Bührle und seine Sammlung.»
Offensichtlich wurde das Leimgruber-Team, wenn nötig, sofort zur «Vertragstreue» gerufen. Ein Gespräch mit Provenienzforscherinnen? Ein Fall für den Steuerungsausschuss. In derselben Sitzung bringt die Stadtpräsidentin auch klipp und klar zum Ausdruck, worum es bei der ganzen Übung eigentlich geht: «Corine Mauch betont noch einmal, dass das Ziel dieser Arbeit sei, proaktiv zu agieren und die Deutungshoheit zu erhalten.»
Es entsteht der Eindruck einer sehr eigenwilligen Praxis der «Forschungsfreiheit», aber das alles nimmt sich noch vergleichsweise harmlos aus. Wirklich gebrochen sind die Dämme, nachdem es Erich Keller mit seinem Wissenschaftsethos für nicht mehr vereinbar gehalten hatte, diese Farce mitzuspielen, sich von dem Projekt distanzierte und schliesslich auch seinen Autorennamen für die Studie zurückgezogen hatte. Jetzt wurden andere Saiten aufgezogen.
Richtung Berufsverbot
Der Republik liegt eine E-Mail vor, datiert auf den 1. Juli 2020. Absender ist der Prorektor der Universität Zürich Christian Schwarzenegger. Derselbe Schwarzenegger, der im Oktober 2020 eine triumphale, beinahe hämische Stellungnahme verfassen sollte im Anschluss an die Reviews von Esther Tisa Francini und Jakob Tanner. Adressiert ist die E-Mail an Erich Keller.
Prorektor Schwarzenegger – Funfact: er ist tatsächlich mit dem «Terminator»-Darsteller verwandt – kommt direkt zur Sache: «Ich möchte Sie noch darauf hinweisen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse, die im Zusammenhang mit der Bührle-Studie unter der Leitung von Matthieu Leimgruber gewonnen wurden und den Auftraggeberinnen in einem Abschlussbericht exklusiv vorgelegt werden müssen, nicht für eigene Publikationen verwendet werden dürfen.» Ein verblüffender Verweis vonseiten einer Universitätsleitung.
Wie kann man einem Forscher verbieten, «wissenschaftliche Erkenntnisse» zu verwenden? Auch bereits publizierte wissenschaftliche Erkenntnisse? Wie kommt der Prorektor dazu, dieses Verbot anscheinend ohne zeitliche Eingrenzung auszusprechen? Dass sich die Universität gegen eine Vorpublikation wehren würde, müsste man urheberrechtlich zwar mit einem Fragezeichen versehen – Erich Keller war der vertraglich festgelegte Erstautor der Studie –, es wäre aber diskussionswürdig. Aber ein nicht präzisiertes Verbot, «wissenschaftliche Erkenntnisse» zu verwenden?
In einer Stellungnahme schreibt Christian Schwarzenegger, dass es sich bei der Leimgruber-Studie um Auftragsforschung gehandelt habe, dass hier nicht dieselben Massstäbe der Wissenschaftsfreiheit gelten wie bei freier Forschung und dass die Auftraggeber auf die Ergebnisse der Forschung einen Eigentumsanspruch haben. Das ist unbestritten. Aber es bleibt die Frage, was geschehen soll, wenn die Ergebnisse erst einmal publiziert sind. Darf man sie dann immer noch nicht verwenden?
Man hat den Eindruck, Prorektor Schwarzenegger sehe sich berechtigt, Keller weitere Forschungsaktivitäten in einem von ihm definierten Themenfeld («im Zusammenhang mit der Bührle-Studie gewonnen») rundweg zu untersagen. Welches sind die Forschungsgebiete der Schweizer Geschichte seit der Zwischenkriegszeit, die nicht in einem mehr oder weniger direkten «Zusammenhang mit der Bührle-Studie» stehen? Was hier ausgesprochen wird – würde man es beim Wort nehmen –, geht de facto Richtung Berufsverbot. Es widerspiegelt eine sehr ungewöhnliche Auffassung von der Rolle einer Universitätsleitung.
Die Weisung wirkt wie ein Einschüchterungsversuch und dürfte juristisch nur schwierig zu rechtfertigen sein. Allerdings liegt der Verdacht nahe, dass es Schwarzenegger schon damals darum ging, eine Publikation wie das jetzt von Keller vorgelegte Buch «Das kontaminierte Museum» mit allen Mitteln zu verhindern. Der Prorektor schreibt in seiner Stellungnahme an die Republik, die Weisung sei auch deshalb ergangen, «weil Erich Keller gerade einen Artikel zum Thema Bührle publizierte und sein Buch ankündigte». Beide Aussagen sind falsch: Der erste Artikel, der Publizität schaffte und nicht von Erich Keller stammte, erschien im August. Das Buch wurde erstmals im November angekündigt. Prorektor Schwarzenegger schildert nicht die Tatsachen. Ob er seine schon damals handlungsleitenden Befürchtungen beschreibt?
Richtig ist jedenfalls: Es stellt sich sehr die Frage, wie diese Aktion der Zürcher Universität vereinbar sein soll mit der in Artikel 20 der Bundesverfassung garantierten Wissenschaftsfreiheit.
Oder hat der Prorektor sich vielleicht einfach etwas ungeschickt ausgedrückt und die juristischen Implikationen seines Schreibens nicht sorgfältig genug durchdacht? Christian Schwarzenegger ist nur im Nebenamt Mitglied der Universitätsleitung. Im Hauptamt ist er Rechtsprofessor.
Es scheint in Zürich einen eigenwilligen Begriff zu geben von Wissenschaftsfreiheit – jener Wissenschaftsfreiheit, von der die Stadtpräsidentin mit so grossem Pathos affirmiert, sie sei «jederzeit gewährleistet gewesen». Allerdings: Auch andere Staatsorgane teilen diesen Begriff.
Der Republik liegt eine weitere E-Mail vor, diesmal datiert auf den 11. August 2020. Das Datum ist bemerkenswert: Nur neun Tage später publizierte die WOZ ihre Enthüllungen zu den Eingriffen in den Schlussbericht und brachte die Leimgruber-Affäre ins Rollen. Ob da jemand Wind von etwas bekommen hat?
Der Absender der E-Mail ist Hannes Nussbaumer, für Regierungsrätin Jacqueline Fehr tätiger Projektleiter Kommunikation im Generalsekretariat der Direktion der Justiz und des Innern. Gerichtet ist sie an Lea Haller, eine Bekannte von Erich Keller, die seine Vorgängerin war im Amt des Projektmitarbeiters von Matthieu Leimgruber und heute die Redaktion von «NZZ Geschichte» leitet. Der eigentliche Adressat der E-Mail ist jedoch Keller selber.
Das Schreiben beginnt salbungsvoll: Nussbaumer entschuldigt sich gleich vorweg, dass er die ihm unbekannte Ansprechperson in «einer etwas sensiblen Angelegenheit kontaktiere». Er befasse sich als Vertreter von Fehr mit dem Leimgruber-Bericht, und da sei es nun – obwohl man versucht habe, «vermittelnd zu wirken» – «zum Bruch mit Erich Keller gekommen».
Irgendwann kommt Nussbaumer aber doch zum Thema: «Natürlich ist eine Möglichkeit, dass die Auseinandersetzung an die Öffentlichkeit getragen wird. Dies hätte allerdings zur Folge, dass am Ende nur Verlierer übrig blieben.» Ziel sei es, «dass der Fall nicht Gegenstand einer öffentlichen Auseinandersetzung wird». Schliesslich sei das im Interesse aller Beteiligten: «Wir sind aber ehrlich davon überzeugt, dass auch Herrn Keller (sic) in seinem eigenen Interesse einen Streit in der Öffentlichkeit vermeiden sollte. Seiner Reputation als Historiker, der auf Aufträge angewiesen ist, würde ein solcher Streit kaum nützen.» Viel deutlicher könnte die Warnung aus dem Departement der Justiz und des Innern nicht sein: Erich Keller soll stillhalten, sonst werde seine berufliche Zukunft zerstört. Das Schreiben schliesst mit der Bitte um Vertraulichkeit.
Es stellt sich hier eine Reihe von Fragen. Hat Jacqueline Fehr von diesem Einschüchterungsversuch gewusst? Sind solche Methoden gang und gäbe in der Zürcher Direktion des Innern?
Auf Anfrage der Republik antwortet die Regierungsrätin: «Hannes Nussbaumer hat sich – wie alle Personen, die sich in meiner Direktion mit diesem Thema befasst haben – mit bestem Wissen und Gewissen dafür eingesetzt, einen Ausweg aus einer schwierigen Situation zu finden.»
Warum bekommt einfach alles, was in den Dunstkreis der Sammlung Bührle gerät, diesen strengen Geruch der Schäbigkeit?
Ein freier Unternehmer
So weit die Forschungsfreiheit nach Zürcher Art.
Der Leimgruber-Bericht ist jedoch nicht nur aufgrund der wüsten Intrigen, die er ausgelöst hat, ein signifikantes Dokument. Auch wenn er unter mehr als problematischen Bedingungen entstanden ist: Inhaltlich vermittelt er viel Wissenswertes über Emil Bührle und die Stiftung seiner Nachkommen. Was der Bericht erforscht, ist bedeutsam. Noch bedeutsamer ist allerdings, was er nicht erforscht. Der Leimgruber-Bericht erzählt alles über die bis heute ungebrochene Macht des Bührle-Erbes in Zürich. Am meisten durch all das, was er verschweigt.
Der Bericht hat drei Teile. Ein erstes Kapitel über Bührle, den Waffenproduzenten, und die Geschichte der Waffenschmiede Oerlikon-Bührle, die sowohl während des Zweiten Weltkriegs als auch im Kalten Krieg der wichtigste Rüstungskonzern der Schweiz gewesen ist. Ein zweites Kapitel über Bührle den Menschen, den Aufsteiger und Netzwerker, der sich nach dem Ersten Weltkrieg einem Freikorps anschloss, in seinem späteren Leben jedoch einen begnadeten Opportunismus pflegte und sich mit vollem Erfolg in die oberste Zürcher Gesellschaft integrierte. Zu guter Letzt einen Teil über Bührle den Kunstsammler und Mäzen, der 1936 begann, erste Meisterwerke zu erstehen, zum prägenden Förderer des Kunsthauses wurde und schliesslich eine so bedeutende Kollektion zusammengekauft hatte, dass er bei seinem Tod 1956 eine der weltweit wichtigsten Privatsammlungen hinterliess.
Neue Forschungsfelder hat das Leimgruber-Projekt kaum erschlossen. Zu einem guten Teil wurde der Bericht aufgebaut auf bereits bestehende Recherchen: zum einen auf das Referenzwerk von Peter Hug («Schweizer Rüstungsindustrie und Kriegsmaterialhandel zur Zeit des Nationalsozialismus»), das einen genau dokumentierten und umfassenden Überblick über die NS-Verstrickungen des Waffenhändlers Emil Bührle gibt. Zum anderen auf die ebenso extensiven wie problematischen Studien der Bührle-Stiftung zur Geschichte ihrer eigenen Bestände, die ein Licht werfen auf Emil Bührle, den Sammler. Ein ganz bestimmtes Licht.
Die Studie führt dennoch in mehrfacher Hinsicht zu einer Erweiterung des Wissensstandes: Die Geschichte von Oerlikon-Bührle nach 1945 – ihre Wandlung von der Nazi-Kanonen-Produzentin zur Lieferantin von Pulverraketen für die US-Armee – wurde mit neuer Gründlichkeit dargestellt. Die Ausmasse der Fabrikstreiks in den Oerlikon-Bührle-Werken im Jahr 1940 wurden zum ersten Mal richtig erfasst. Die vollständige Integration des reichsten Schweizers in den Zürcher Geldadel, der im Zuge des Kalten Krieges gelungene Wandel vom anrüchigen Agenten des Deutschen Reiches zum «freien Unternehmer» und Unterstützer der USA, wurde zum ersten Mal adäquat beschrieben. Am Ende seines Lebens war der Waffenproduzent nicht mehr der Sündenbock der Schweizer Kriegsschuld, sondern das Idol der Zürcher Elite. Wer sich fragt, weshalb sein Nachlass – trotz aller vorgeblichen Pfui-Teufel-Reflexe – weiterhin so unantastbar bleibt, wird auch hier eine Antwort suchen müssen.
Allerdings sind diese Korrekturen des Bührle-Bildes nicht der Kern der Sache. Der Leimgruber-Bericht richtet sich explizit nicht an die Fachwissenschaft, sondern ans breite Publikum. Das Vorhaben war, ein synthetisches Gesamtbild zu entwerfen, die verschiedenen Aspekte einzuordnen, zueinander in Beziehung zu setzen und sorgfältig zu bewerten. Insbesondere sollten die Hinterlassenschaft des Waffenhändlers und die Hinterlassenschaft des Sammlers in ihrer gegenseitigen Bedingtheit dargestellt werden.
Ist nicht genau das auch die Herausforderung, der sich jetzt das Kunsthaus stellen müsste: einen adäquaten Diskurs und eine angemessene Sensibilität dafür zu entwickeln, wie die in der Kunsthaussammlung präsenten Bührle-Kunstwerke von den NS-Verstrickungen berührt werden? Ein stringentes Konzept zu skizzieren, welche rechtlichen, moralischen, ästhetischen, museumsdidaktischen Konsequenzen sich daraus ergeben? Und welche Pflichten zur Aufarbeitung?
Zu diesem adäquaten Diskurs – nicht zu bahnbrechenden Entdeckungen – hätte der Leimgruber-Bericht trotz seines schiefen Mandats einen Beitrag leisten können. Doch dann wurde in den Sprachgebrauch des Berichtstextes eingegriffen, an vielen Stellen im Sinn einer Beschönigung. Es liegt auf der Hand, wie einschneidend dieser Vorgang ist: Bewertungsfragen sind Formulierungsfragen. Bei Geschichtserzählungen dieser Art hängt vieles an der sprachlichen Kalibrierung. Das erscheint wie eine banale Selbstverständlichkeit. Doch am Historischen Seminar der Universität Zürich sah man das offensichtlich anders. Völlig anders.
Reizwörter
Sofort nach dem Beginn der Polemik um den Leimgruber-Bericht im Sommer 2020, nur einen Tag nach den Enthüllungen in der WOZ, nahm Simon Teuscher, der damalige Instituts-Co-Leiter des Historischen Seminars, in der NZZ zu den Vorwürfen Stellung. Teuscher sah kein Problem darin, dass Matthieu Leimgruber im Anschluss an Korrekturen vom damaligen Zürcher Kulturdirektor Peter Haerle als Vertreter der Stadtregierung und von Lukas Gloor als Bührle-Stiftungsdirektor etliche Veränderungen am Schlussbericht des Manuskripts vorgenommen hatte. Leimgruber habe die Kommentare aus dem Steuerungsausschuss zum Anlass genommen, «seine Formulierungen selbstkritisch zu überdenken». Dabei habe er manchmal «Reizwörter durch präzisere Umschreibungen» ersetzt. Der Instituts-Co-Leiter gibt flächendeckende Entwarnung: «Von Zensur und dunklen Machenschaften sehe ich bis jetzt keine Spur.»
Begrüssenswert wäre es schon damals gewesen, wenn Simon Teuscher offengelegt hätte, dass er selber direkt in den Leimgruber-Bericht involviert war. Gemäss einem von den Parteien signierten Agreement vom Dezember 2019, das der Republik vorliegt, übernahm Teuscher eine Coaching-Funktion, um zwischen Leimgruber und Keller zu vermitteln. Die Details des Agreements erwecken nicht den Eindruck, dass Keller der schwierige Teil der Forschungspartnerschaft gewesen wäre.
Teuscher unterwarf seinen Professoren-Kollegen einer ungewöhnlich engmaschigen Kontrolle. Alle zwei Wochen musste Leimgruber zum Rapport antraben. Dass die Zusammenarbeit schliesslich dennoch scheiterte, ist auch ein Scheitern des Institutsvorstands – ganz zu schweigen von der Tatsache, dass mit dem Vorwurf, ein Fakultätsmitglied habe auf äussere Weisung von seinem Team erarbeitete Forschungsresultate willkürlich abgeändert, ein Reputationsschaden für das Historische Seminar drohte.
In einer Stellungnahme hält Simon Teuscher fest, «das engmaschige Reporting an den Seminarvorstand» sei vorgesehen gewesen «zwecks Schlichtung im Bereich Arbeitsorganisation, nicht in der Forschung».
Auffällig ist jedenfalls bereits in dieser Phase, dass Experten mit grösserer Distanz zum Historischen Seminar der Universität Zürich die Dinge radikal anders einschätzten als Simon Teuscher. «Es kann doch nicht sein, dass Befunde auf Geheiss der Auftraggeber weichgespült werden, indem kontaminierte Begriffe einfach weggelassen werden», kommentierte beispielsweise der Historiker Georg Kreis, Emeritus der Universität Basel.
Was hat es nun auf sich mit den umstrittenen Änderungen?
In den Medien wurden die wichtigsten Eingriffe ausführlich diskutiert. So etwa die Tatsache, dass Erich Keller in einem Brief von Emil Bührle an den «Nebelspalter» einen «unverhohlen antisemitischen Ausfall» ausmachte und dass Matthieu Leimgruber diesen Vorwurf auf Aufforderung des Bührle-Stiftungsdirektors Lukas Gloor ersatzlos aus dem Manuskript gestrichen hat. Jakob Tanner kommt in seiner Expertise in der Folge zum Schluss, Erich Keller sei recht zu geben und es handle sich tatsächlich um Antisemitismus. Daraufhin hat Matthieu Leimgruber die Antisemitismus-Feststellung in die Schlussversion ganz einfach wieder integriert – und gut wars.
Auch ein anderes viel diskutiertes Beispiel lohnt einen Blick: der Freikorps-Begriff. In der ursprünglichen, von Keller formulierten Version hiess es noch, dass sich Bührle dem «Freikorps von General Roeder» angeschlossen habe. In der korrigierten Version ist dann aber vom «freiwilligen Landesschützenkorps des Generals von Roeder» und von «Ordnungstruppen der Nachkriegszeit» die Rede. «Freikorps» ist der in den Geschichtswissenschaften gängige Begriff für die paramilitärischen Verbände, die sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und nach der Demobilisierung freiwillig dazu einsetzen liessen, die kommunistischen Aufstände niederzuschlagen, und in Berlin, wo Bührle zum Einsatz kam, insbesondere für die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg verantwortlich waren. Der ideologische Hintergrund der Freikorps war ein antikommunistischer, stramm deutschnationaler und häufig auch rechtsextremer. Auf «Anregung» von Lukas Gloor hat Leimgruber es jedoch vorgezogen, das «Reizwort» zu unterdrücken.
Das Ziel dieses Eingriffs konnte wohl nur darin bestehen, das ideologische Profil von Emil Bührle weniger problematisch erscheinen zu lassen. In einer E-Mail an Matthieu Leimgruber macht Lukas Gloor aus dieser Absicht kein Geheimnis. Er schreibt: «Es ist dem ‹Schwarzbuch› durch die willkürliche Einführung des Begriffs in die biographische Schilderung gelungen, schon den jungen Emil Bührle in die (a priori gewünschte) Nähe zur äussersten Rechten in Deutschland zu rücken.»
Was Gloor an dieser Stelle nicht schreibt: Dieses In-die-Nähe-Rücken war nicht willkürlich, sondern entspricht den unbestrittenen Tatsachen. In einer aktuellen Stellungnahme pflichtet Bührle-Stiftungsdirektor Gloor dem Freikorpsbegriff denn nun auch plötzlich bei. Allerdings sei Bührle nicht frei gewesen, sich dem Freikorps anzuschliessen, da seine ganze militärische Einheit dies getan habe. Gloor suggeriert eine Art Befehlszwang zum Verbleib bei der Truppe. Es ist eine bizarre Lektüre der historischen Gegebenheiten. Hat Emil Bührle sich nicht ganz im Gegenteil noch in den Fünfzigerjahren sogar dafür gerühmt, dass er persönlich an der Niederschlagung kommunistischer Aufstände beteiligt gewesen sei?
Jeder kompetente Historiker hätte den Manipulationsversuch des Direktors der Bührle-Stiftung entschieden von sich gewiesen. Was tut Matthieu Leimgruber? Der Republik liegt sein Schreiben an Gloor vor: «Je suis d’accord avec votre critique (et celle de P. Haerle) de notre utilisation un peu abusive du terme ‹Freikorps›» (Leimgruber ist gemäss eigenen Aussagen des aktiven Schriftdeutschen nicht mächtig und äussert sich schriftlich in der Regel nur auf Französisch). Kein Vorbehalt, keine Diskussion, schon gar kein Widerspruch. Stattdessen sofortiges Beipflichten.
Wie ist die Reaktion, nachdem Jakob Tanner seinerseits die Gegenthese vertritt und die banale Feststellung macht, der Ausdruck «Freikorps» sei korrekt? Leimgruber nimmt den Begriff wieder auf. Theoretisch ist er der Mann vom Fach, der die historischen Tatsachen klärt. Aber Leimgruber vermittelt häufig nicht den Eindruck eines Professors für Geschichte, der die Dinge einer eigenständigen Beurteilung unterzieht. Er vermittelt den Eindruck einer massiven Überforderung.
Auf Anfrage der Republik gibt Leimgruber eine andere Einordnung: «Eine dichte, sogar kontradiktorische Diskussion zentraler, manchmal auch delikater Aspekte gehört zum Prozess des Verfassens und Überarbeitens eines jeden wissenschaftlichen Textes» (aus dem Französischen übersetzt). Der Reviewer Jakob Tanner beurteilt das Vorgehen seines Lehrstuhlnachfolgers ebenfalls positiv, wenn auch mit etwas anderer Note: «Matthieu Leimgruber hat sich als zudem lernfähig gezeigt.»
Ein Unterschied ums Ganze
Dass «Reizwörter» zensuriert und dann, nachdem die Manipulation aufgeflogen war, wieder integriert wurden, wirkt irritierend. Noch irritierender ist allerdings: Bei all diesen Umformulierungen, die ständig in die Richtung einer Abschwächung kompromittierender Befunde zielten, geht es um die Essenz der Textaussage. Um die Frage nämlich, ob Bührles vielfältige wirtschaftliche und biografische Verstrickungen mit Nazideutschland in ihrem Kern das Vermächtnis seiner Sammlung berühren. Ob es möglich ist, die Sammlung abzukoppeln von ihrem historischen Ballast.
Nirgendwo bricht das so deutlich auf wie bei der Thematisierung der Profite, die Bührle über seine Beteiligung an der deutschen Waffenfabrik Ikaria auch aus Zwangsarbeit bezog. Erich Keller wollte diese Verbindung zwischen den Wirtschaftsaktivitäten von Bührle und dem NS-Konzentrationslager-System so sorgfältig und genau ausleuchten wie möglich. Sein Manuskriptentwurf zu dieser Frage umfasst mehrere Seiten. Nach Berücksichtigung der zahlreichen Kürzungsvorschläge von Peter Haerle schrumpfte dieses Unterkapitel auf noch gut eine Seite. So ist es nun auch in der Schlussversion. Bührle und die Konzentrationslager? Eine Seite.
In Kellers Manuskript endet der Ikaria-Teil mit dem Satz: «Und damit gehört dieser Aspekt, auch wenn der Umfang der Zahlungen vergleichsweise marginal gewesen sein mag, zum historischen Entstehungskontext des WO/OB Konzerns und der Sammlung Bührle.» In der Version von Leimgruber fehlen die Worte «und der Sammlung Bührle». Das Konzentrationslager-System soll, wenn schon, nur zu Bührles Rüstungsbetrieb einen Bezug haben, nicht zu den Kunstwerken. Das ist nicht eine bloss sprachliche Retusche, sondern ein Unterschied ums Ganze.
Jakob Tanner kommentiert diesen Texteingriff auf verblüffende Weise. Er meint, er sei «nicht entscheidend, weil der Bericht keinen Zweifel offen lässt, dass zwischen der Expansion der Firma und dem Aufbau der Sammlung ein unauflöslicher Zusammenhang besteht». Das Argument überrascht: Es geht nicht darum, ob ein Zusammenhang belegt wird zwischen der Sammlung und der Wirtschaftstätigkeit einerseits und der Wirtschaftstätigkeit und den deutschen Konzentrationslagern andererseits. Es geht darum, ob bejaht wird oder nicht, dass ein Zusammenhang besteht zwischen der Sammlung und den Lagern.
Auf Nachfrage der Republik weist Jakob Tanner weit von sich, diesen Zusammenhang bestreiten zu wollen. Er habe im Gegenteil die Frage, ob die entscheidende Rolle sichtbar werde, «welche die Verfolgungs- und Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus für das Zustandekommen der Bührle-Sammlung spielte», zu einer der drei Kontrollfragen für die Qualität des Berichtes erhoben. Diesen Lackmus-Text formuliert Tanner in der Tat in einer methodischen Bemerkung zu seinem Gutachten. Es entsteht jedoch nicht der Eindruck, die Studie sei konsequent an diesem Kriterium gemessen worden.
Kellers Manuskript jedenfalls affirmiert den Zusammenhang zwischen NS-Verbrechen und Bührle-Sammlung mit Bezug auf die Zwangsarbeit explizit. Der Leimgruber-Bericht in seiner heutigen, auch von Tanner für gut befundenen Version tut alles, um genau diesen Schritt nicht zu machen. War die Negierung dieses Konnexes nicht schon immer das oberste Ziel aller Forschungsbemühungen von Lukas Gloor?
Der Leimgruber/Gloor-Bericht
Die Umformulierungen gehen einher mit fundamentalen inhaltlichen Eingriffen ins Forschungsprogramm. Das macht besonders die Review von Esther Tisa Francini deutlich, die sich auf den dritten Teil der Studie konzentriert, das heisst, auf das der Sammlung gewidmete Kapitel.
«Die publizierten und unpublizierten Analysen von Lukas Gloor, seit 2002 Konservator der Sammlung, werden als Grundlage für diesen Berichtsteil hinzugezogen», hält Tisa Francini fest. «Insofern stützt sich der Bericht hier im Wesentlichen auf die Auswertung und Visualisierung der von der Stiftung erhobenen Daten. Der Bericht verweist auf die ‹fundierte Provenienzforschung›, ohne näher auf diese einzugehen.» Hier klingt harsche Kritik an: Dass es von begrenztem Interesse ist, die Ergebnisse der Bührle-Hausforschung zu reproduzieren, ohne eine kritische Einordnung zu vollziehen, ist gemäss Tisa Francini das Hauptversäumnis des Leimgruber-Berichts.
Mit Bedauern hält sie fest, es fehle jetzt «die methodische Reflexion der ‹stiftungsinternen Provenienzforschung unter geschichtswissenschaftlichen Aspekten›, die doch noch im Frühjahr 2019 geplant gewesen sei. Die Sammlungskontextualisierung habe viel zu wenig «die Geschichte der Kunstwerke reflektiert», sagt Tisa Francini. «Damit fand auch keine Auseinandersetzung mit der Raubkunstfrage statt, die allerdings von Anfang an aus dem Bericht ausgeklammert worden war.» Was sinnvolle Forschung zu machen hätte – und was die Leimgruber-Studie nicht tat –, bringt die Provenienzforscherin dennoch glasklar auf den Begriff: «Die mit persönlichen Geschichten verbundenen Werkbiografien müssten zurück in den politischen Kontext von Verfolgung und Raub gesetzt werden.»
Was Tisa Francini nicht sagt: Eine kritische Grundlagenreflexion war auch noch im Jahr 2020 geplant – bis zum Tag des Abgangs von Erich Keller. Zwar war der dritte Teil (im Gegensatz zum ersten und zum zweiten) noch nicht redigiert, aber es gab die von Tisa Francini zu Recht zitierte Vorstudie, in der das Programm des dritten Teils bereits festgelegt war. Es gab zudem von Keller verfasste, dem Steuerungsausschuss im Juli 2019 präsentierte Abstracts, die den Inhalt der einzelnen Kapitel zusammenfassten. Auch diese Abstracts hielten fest, das dritte Kapitel müsse das Entstehen der Sammlung in einer «breiten methodischen Kontextualisierung» aufarbeiten.
In einer aktuellen Stellungnahme von Esther Tisa Francini ist von einem Bedauern darüber, dass die Auseinandersetzung mit dem «Kontext von Verfolgung und Raub» nicht stattgefunden hat, allerdings mit keiner Silbe mehr die Rede. Sie beschränkt sich auf die Feststellung, die Studie «kontextualisiert die Entstehung der Sammlung sozial- und wirtschaftshistorisch gemäss Auftragsbeschreibung».
Die völlige Neukonzeption des entscheidenden dritten Teils war jedoch das, was Erich Keller am meisten aufbrachte – und gab den Anstoss, dass er seinen Autorennamen zurückzog. Der Forschungsbericht werde «in schwerwiegender Weise verändert» durch diese Modifikation, schreibt Keller in einer Stellungnahme. Die Kunstsammlung werde abgeschnitten «von ihrer historischen Verortung».
Erst an diesem Punkt erreichen die skandalösen Vorgänge um den Leimgruber-Bericht ihre ganze Dimension. Unter Leitung von Prorektor Schwarzenegger wird in einer ersten Phase nämlich versucht, mit Erich Keller ein Arrangement zu finden, damit das Forschungsprojekt zu Ende geführt werden kann, ohne dass es in den Fokus der Öffentlichkeit gerät.
Im Juni bietet Schwarzenegger Keller deshalb an, er könne, wenn er unglücklich sei über die Neuausrichtung des dritten Teils, ein zusätzliches viertes Kapitel zum Thema «Fluchtgut» schreiben. Schwarzenegger bestätigt diesen Sachverhalt gegenüber der Republik in einem Memorandum: «Die Universität Zürich bot 3 Schlichtungsmassnahmen an (zusätzliches Kapitel zum Thema «Fluchtgut» durch Erich Keller verfasst, Expertenbegutachtung des Berichts Stand Mai 2020, genaue Nennung der Autorschaft je Teil/Seiten).» Er liefert zudem eine Begründung, weshalb diese Schlichtung nicht funktionierte: «Dieser Vorschlag wurde von Erich Keller im ersten Punkt abgelehnt.» Alles lag also an Keller: Er soll sich schlicht geweigert haben, das Fluchtkunst-Kapitel zu verfassen. Das ist nachweislich unwahr.
In einer E-Mail vom 4. Juli, die der Prorektor an Erich Keller schickte und die der Republik vorliegt, rapportiert Schwarzenegger die Beschlüsse des Steuerungsausschusses des Leimgruber-Projekts zu den Vermittlungsvorschlägen, die er dort unterbreitet hatte. Sie werden abgeschmettert: «Es soll kein zusätzliches Kapitel in den Bericht aufgenommen werden, der (sic) die Thematik des ‹Fluchtgutes› thematisiere und von Erich Keller in Alleinautorschaft verfasst werden soll.» Das ist der grösstmögliche inhaltliche Eingriff in das Forschungsprojekt.
Nichts könnte wichtiger sein für die Erforschung der Bührle-Sammlung – da waren sich auch die Reviewer einig – als die methodische Reflexion und die konkrete Beleuchtung der Fluchtgut-Frage. Aber der Steuerungsausschuss lehnte das ab. Nicht Matthieu Leimgruber, nicht Erich Keller, sondern der Steuerungsausschuss.
Auch hier wurde wieder das Argument der Grenzen des Forschungsauftrags gebracht: Die Provenienzforschung sei ausgenommen aus dem Mandat. Allerdings ist das offensichtlicher Unsinn: Es wäre nicht darum gegangen, materielle Provenienzforschung, wie sie von der Stiftung betrieben wird, zu überprüfen – auch wenn das dringend nötig wäre –, sondern, wie mehrfach angekündigt und genehmigt, eine Reflexion über die Grundlagen dieses Forschungsfelds aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft zu entwickeln. Aber der Ausschuss sagte Njet. Diese Inhalte waren nicht erwünscht.
Die Fabel vom Respekt für die Wissenschaftsfreiheit im Rahmen des Mandats? Eine weitere schäbige Schutzbehauptung.
Und so wurde denn die zentrale Frage – welchen Bezug haben die Werke der Bührle-Sammlung, insbesondere die Fluchtkunstwerke, zu den NS-Verbrechen? – gar nie aufgeworfen beziehungsweise grossräumig umschifft. Stattdessen wurden im dritten Teil nun grafisch tadellos dargestellte Diagramme und Statistiken gezeigt, die unreflektiert und unkritisch auf den Daten der Bührle-Provenienzforschung basierten. Der sogenannte Leimgruber-Bericht wurde de facto nicht geschrieben. Was heute vorliegt, ist ein Leimgruber/Gloor-Bericht.
Die abhängigen Experten
Das Hijacking eines «unabhängigen Forschungsberichts» der Universität Zürich durch die Bührle-Stiftung wirft eine Reihe Fragen auf. Zuallererst: Die beiden Begutachterinnen Esther Tisa Francini und Jakob Tanner sehen zwar zu guten Teilen, wie schief und unseriös die ganze Angelegenheit ist – können sich aber dennoch nicht dazu durchringen, die Dinge beim Namen zu nennen und den Bericht zu disqualifizieren. Tisa Francini spricht ihm in ihrem Gutachten zu, «sehr fundiert zu sein» und «alle heiklen Punkte von Bührles vielseitiger Tätigkeit anzusprechen». Alle heiklen Punkte? Wie geht das zusammen mit ihren vernichtenden Bemerkungen zum dritten Kapitel?
Tanner stellt zwar im Einzelfall dar, wie die «best practice der historischen Auftragsforschung» nicht respektiert worden sei, führt die Debatten um die Eingriffe ins Manuskript dann aber mit aller Nonchalance auf «den Pulverdampf eines Personalkonfliktes» zurück. Sein Schlussverdikt ist an apodiktischer Eindeutigkeit nicht zu übertreffen: «Der vorliegende Bericht ist inhaltlich substanziell und insgesamt gelungen.» Warum tragen die Reviewer einerseits fundamentale Kritik vor und erteilen andererseits eine faktische Absolution?
Es mag damit zusammenhängen, dass beide «externen Reviewer» zwar unbestreitbare Kapazitäten auf ihrem Fachgebiet, aber eines in keiner Weise sind: extern. Unter den unzähligen Seltsamkeiten der Bührle-Connection ist dieses Kapitel eines der verstörendsten. Ganz offensichtlich sind weder Jakob Tanner noch Esther Tisa Francini in der Position, den Leimgruber-Bericht einer unabhängigen Evaluierung unterziehen zu können.
Tanner war fast zwanzig Jahre lang Professor am Historischen Seminar der Universität Zürich. Warum beauftragte man nicht einen Historiker aus Basel oder Bern? Mit dem bereits zitierten, Leimgruber betreuenden Institutsvorsteher Simon Teuscher ist Tanner so eng befreundet, dass die beiden gemeinsam das Haus in Oerlikon gebaut haben, in dem sie heute leben. Ausgerechnet Tanner soll über Matthieu Leimgruber, seinen direkten Lehrstuhlnachfolger, mit dem er auch sonst auf vielfältige Weise verbandelt ist, den Stab brechen und dem Historischen Seminar ein ernsthaftes Reputationsproblem verschaffen? Es wäre unfair, ihm das zumuten zu wollen.
Noch befremdlicher ist die Rolle von Esther Tisa Francini. Sie ist Provenienzforscherin am Museum Rietberg – und damit städtische Angestellte eines Zürcher Museums. Zu den konkreten Fragen, welche die Reviewerin zu prüfen hatte, gehörte unter anderem, ob der Stadtzürcher Kulturchef Peter Haerle und über Haerle gegebenenfalls Corine Mauch auf ungehörige Weise in den Schlussbericht eingegriffen haben oder nicht. Diese Frage soll eine Stadtangestellte beurteilen?
Zur Verteidigung der Reviewer wird von den Behördenvertretern häufig vorgebracht, dass sie von den Betroffenen selber vorgeschlagen worden seien – Tanner von Erich Keller und Tisa Francini von Matthieu Leimgruber. Das trifft zu, ist aber irrelevant. Es ging nicht um ein Vermittlungsverfahren. Schon am 12. Juli, zwei Wochen vor der Auftragsvergabe an die Reviewer, war Erich Keller definitiv aus dem Projekt ausgeschieden. Es konnte also nur noch um eine Begutachtung gehen.
Esther Tisa Francini gibt auf Ersuchen der Republik folgendes Statement ab: «Ich bin als Historikerin angestellt und meine Arbeit ist der Wissenschaft verpflichtet. (…) Ich habe die 6 Fragen, die mir im Review gestellt wurden, nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet.»
Jakob Tanner scheint für die Nachfragen der Republik kein Verständnis zu haben: «Ich befasse mich seit fast 50 Jahren mit der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg», gibt Tanner zu bedenken. «Leider gibt es immer wieder Leute, die wissenschaftliche Fachkompetenz angreifen. Die Republik hat bisher auf den Griff in diese trübe Tasse verzichtet.» Er habe sich strikt an die «strengen professionellen Regeln» der Gutachtertätigkeit gehalten und «keinen Aufwand gescheut, um zu einem belastbaren Ergebnis zu gelangen».
Leider bleiben die Tatsachen bestehen: Beide Gutachterinnen sind nicht unabhängig, auch nicht im Ansatz. Nur schwer kann man sich gegen den Verdacht wehren, die beiden Reviews widerspiegelten diese Gegebenheit. Wie selbstherrlich müssen die Behörden sein, dass sie glauben, mit solchen Manövern durchzukommen? Und welche Motive haben die beiden Begutachterinnen letztlich dazu bewogen, sich auf dieses kompromittierende Mandat einzulassen?
Zeit für Antworten
Die Integration der Bührle-Sammlung ins Zürcher Kunsthaus wirft bis anhin nur Fragen ohne befriedigende Antwort auf. Qualvolle Fragen zu unserem historischen Erbe. Beschämende Fragen zu unserer Erinnerungspolitik. Es ist Zeit für Antworten. Für wissenschaftliche Aufklärung. Für saubere Prozesse.
Es gibt keinen Grund, weshalb diese Antworten nicht gegeben werden sollten. Es bräuchte dazu allerdings den politischen Willen.
Die 180’000 Franken für den Leimgruber-Bericht sind praktisch zum Fenster hinausgeworfen worden. Er hat seinen Zweck verfehlt, seine Ergebnisse sind kompromittiert. In den entscheidenden Aspekten ist er ein weiteres Produkt der Bührle-Stiftungsforschung, deren Deutungsmonopol zu überwinden ursprünglich sein Zweck hätte sein sollen.
Alles muss neu angegangen werden. Oder vielmehr: Die Institutionen müssen damit anfangen, Ernst zu machen mit ihrer Verantwortung.
Nicht nur Stadt, Kanton, Universität und Kunsthaus stehen in der Pflicht, sondern auch der Bund. Es ist keine lokale Angelegenheit, wenn das grösste Schweizer Kunstmuseum frontal gegen die völkerrechtlichen Verpflichtungen verstösst, zu denen sich die Eidgenossenschaft mit den Erklärungen von Washington und von Theresienstadt bekannt hat. Warum gibt es in der Schweiz bis heute keine unabhängige Kommission, die in Restitutionsfragen ein qualifiziertes Urteil abgeben kann, was eine «faire und gerechte Lösung» ist? Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Österreich und die Niederlande haben solche Instanzen eingerichtet.
Es gibt keinen legitimen Grund, bei Raub- und Fluchtkunst eine Sonderfall-Neurose zu pflegen. Das Kunsthaus-Desaster führt eindrücklich vor Augen, welcher Preis dafür zu zahlen ist. Wenn die Bührle-Connection an etwas keinen Zweifel lässt: Die Einrichtung einer Kommission für Restitutionen ist unumgänglich. Die Schäbigkeit wird sonst kein Ende finden.
Diesen Zustand zu beenden, schulden wir nicht nur den Opfern der NS-Verfolgung und ihren Nachkommen. Wir schulden es uns selber. Wir schulden es unseren Nachkommen. Und wir schulden es den einmaligen Kunstwerken, die jetzt im Chipperfield-Bau hängen und denen wir doch in jedem möglichen Sinn auf Augenhöhe begegnen wollen.